Wenn die Kontrolle hinterherkommt. Ein Essay zur Kybernetik – VON ARANTZAZU SARATXAGA ARREGI

Der Beitrag von ARANTZAZU SARATXAGA ARREGI behandelt angesichts eines Films über den Chaos Computer Club (CCC) die grundlegenden Einsichten der Kybernetik und diskutiert anhand von Begriffen wie Kontrolle, Regelung und Steuerung, ob und inwiefern im Rahmen kybernetischer Modellierung menschliche Kommunikationen oder freie Entscheidungen möglich sind. Was wäre also eine KybernEthik?

I. Einleitung

ALLES IST EINS AUSSER DER 0
VON KLAUS MAECK UND TANJA SCHWERDORF
DE 2020 | 90 min

Einem Workshop zu den kybernetischen Ansätzen Heinz von Foersters, der an der Universität für Angewandte Kunst mit Unterstützung der Abteilung Medientheorie stattfand, folgte als krönender Abschluss die Vorführung des Films Alles ist eins. Außer der 0 (2020) von Klaus Maeck und Tanja Schwerdorf. Dieser Dokumentarfilm bot den Anlass, das „Operative Denken“ zur Sprache zu bringen, dessen Untermauerung Heinz von Foerster zuzuschreiben ist. Denn seine „Operative Epistemologie“ entstammt den ersten Schritten einer Wissenschaft von den digitalen Kommunikationstechnologien, die als „Kybernetik“ mit dem Projekt der Datenberechnung und Datenbearbeitung verbunden ist und auch klar einer Erkenntnistheorie entspricht.

So widersprüchlich es klingen mag: Das Operieren, das dem lateinischen operari bzw. den Begriffen Arbeit und Beschäftigung entlehnt ist, wird hier zum Teil des Denkens gemacht. In diesem Sinne zeigt der Film über den Sinn und das Ziel der Gründung des Chaos Computer Clubs (CCC: https://www.ccc.de/) auf, wie digitale Technologie nicht als Instrument zur Gewinnung neuer Einsichten, sondern im Blick auf kooperatives Handeln verstanden werden kann, da das Operieren ein Handeln ist, das in Zusammenarbeit mit einem anderen Handeln erfolgt, aus dem Wissen geschaffen wird.

Der Club entstand 1981, als sich Computerneugierige, Sciencefictionbegeisterte, Hippieaktivist:innen, Medienkünstler:innen und Gedächtnisexplorator:innen für eine Technologie interessierten, die alles in allem und in erster Linie die Menschen zusammenzuführen suchte. (Es sammelte sich also eine Reihe queerer Lebenseinstellungen im damaligen Westdeutschland, die zur sogenannten Subkultur zählten). Der Informationsaustausch sollte nicht über die neuen Medien verlaufen, sondern am Stammtisch, wo sich alle ins Gesicht sehen konnten. Die Kommunikation blieb also unverändert ein interaktives Geschehen des Zusammenwirkens, aus dem in der Folge ein kooperatives Denken entstand.

II. Was ist überhaupt die Kontrolle oder die Freiheit?

Digitale Technologie wird oft mit der Idee der Kontrolle in Verbindung gebracht. Diese Idee ist wesentlich und von ihrem Ursprung her kybernetisch bestimmt. Das heißt: Die über digitale Informationstechnologien fließende Kommunikation läuft auf der Basis von Steuerungsmechanismen, weshalb das jeweilige Kommunizieren zielgerichtet voraussetzt, einen Sollwert zu erreichen, sodass alle von diesem Ziel abweichenden Einflüsse einfach abgesondert werden. Steuerung impliziert dann Kontrolle, falls alle Variablen, die das Verhalten einer Maschine vom Ziel abweichen lassen, eliminiert sind.

Wie kann es aber ein freies Kommunizieren geben, wenn es keine Übertragung ohne diese homöostatische Zielstrebigkeit gibt? Daraus folgt auch die Frage: Wenn digitale Kommunikation per se Kontrolle bedeutet, ist dann bei einer sich ihrer bedienenden Technologie eine freie Handlung überhaupt möglich?

Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, setzt von Beginn an Kybernetik, Kontrolle und Kommunikation gleich, obwohl er in seinem Buch Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) keine Definition der Kybernetik lieferte. Das Buch ist eher eine Sammlung von Forschungsergebnissen zur Selbstregulierung als eine Beschreibung der Hauptfunktionen der Kommunikationsmaschinen. Gleichwohl blieb die Bedeutung von Control rätselhaft und Communication wurde technisch bestimmt. Im deutschen Sprachraum wurde Control mit Regelung und Communication mit Nachrichtenübertragung übersetzt. Regulation und Steuerung umfassen zwei etwas verschieden konnotierte Operationen, je nachdem, auf welche Seite des Kommunikationsflusses man schaut: auf die Seite der freiwilligen Hinlenkung (Steuerungssysteme) oder auf die Seite der Kontrolle dieser Lenkung. Spricht man von Kommunikationsnetzwerken, neigt sich die Waage der ersten Seite zu, insbesondere, weil Wiener sich für den Buchtitel seiner Grundlegung der Kybernetik von James Clerk Maxwells Artikel On Governors (1868) inspirieren ließ, der sich mit den Regelungsmechanismen von Temperatur auseinandersetzte. Kybernetes entsprach dem lateinischen Governator, was in beiden Fällen so viel wie „Steuermann“ bedeutet. Kontrolle schließt Steuerung ein, wenn das System sich zugunsten seiner eigenen Gesetzlichkeit, die im Fall sozialer Systeme aus freiem Willen geschaffen wird, um dessen homöostatische Erhaltung kümmert.

III. Wenn die Freiheit als Problem gesehen wird, kommt die Kontrolle hinterher

MUSTER
VON ARMIN NASSEHI
München: C. H. Beck
352 Seiten | € 16,45 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3406767869
Erscheinungstermin: 2019

Was ist dann überhaupt die Freiheit oder die Kontrolle? Diese Frage führt in eine Sackgasse, da sie nicht zu beantworten ist, ohne dass das eine auf das andere bezogen wird. Beide sind im Rahmen der digitalen Kommunikationssysteme miteinander verzahnt. Henne oder Ei: Was war zuerst da? Insbesondere ist die Frage paradox, weil in der Tat Kontrollinstanzen an alternativlose Organisationsstrukturen gebunden sind und keine anderen Werte ausgewählt werden können als jene, die Struktur und Gesetze vorgeben. Ist die Freiheit dann als Abschaffung der Kontrolle zu verstehen?

Armin Nassehi behandelt in seinem Buch Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft (2019) die Digitalisierung, um herauszufinden, „für welches Problem die Digitalisierung eine technische Lösung sei“ (Nassehi 2019: 18). Die Frage, für welche Probleme die Digitalisierung eine technische Lösung ist, begibt sich nicht mehr auf die Suche nach Problemen, sondern sie sieht in den für das System entstehenden Vorteilen eine Lösung, aus denen das Problem dann hergeleitet wird.

Dieser Leitfaden von Nassehis Muster betrifft den überraschenden Erfolg der digitalen Technik in der Gesellschaft. Vor allem interessiert sich Nassehi als Soziologe dafür, inwiefern Technik für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft ein effizientes und erfolgreiches Mittel ist. Die digitale Technik wendet sich, im Gegensatz zu den analogen Technologien, von der Darstellbarkeit der materiellen Welt ab. Digitale Signale erzeugen keine Kopie, kein Abbild der Realität; viel eher erfolgt die Aufschreibung sozialer Systeme – entfremdet von deren materiellen Zuständen – in binären Codes, was ihre Beschreibung erst ermöglicht. Dadurch werden soziale bzw. Kommunikationsflüsse auf andere Weise sichtbar; und so werden eben Muster erkannt, Ordnungen, die bereits soziale Strukturen bestimmen, werden deutlich sicht- und erkennbar.

Gesellschaft ist mithin eine in Mustern und Ordnungen strukturierte Organisation. Das Problem für diese normative Struktur, mit der Ordnungen entstehen, ist die Unkontrollierbarkeit, oder, anders ausgedrückt, die Freiheit. Es war das Verdienst der poststrukturalistischen Diskussionen, diese Unkontrolliertheit und Freiheit (etwa im Sinne der Kontingenz oder der Singularität) offenzulegen und die damit verbundenen Machtverhältnisse infrage zu stellen. Im Blick auf die Ordnung der Dinge ist mithin die Freiheit das entscheidende Problem, wobei digitale Technik nur die Lösung der Kontrolle zur Verfügung stellen kann. Diese Ordnung der Gesellschaft entstand durch disziplinäre und disziplinierende Institutionen in den ersten Phasen der Modernisierung, wobei digitale Technik die Lüge enthüllt, dass die Freiheit die Entlastung der Kontrolle oder das Außen der Kontrolle die Freiheit sei.

Wenn aber das Problem die Freiheit sein soll und die Lösung nur durch Kontrolle gefunden werden kann, wo kann man dann an freie Räume in Kommunikationskanälen denken?

IV. Die Enttrivialisierung des Denkens

Der österreichische Kybernetiker Heinz von Foerster sprach von zwei Arten von Maschinen: einer, die er trivial nannte, und einer nicht-trivialen. Die Darstellung solcher Modelle gilt als Erklärung zweier entgegengesetzter Funktionsweisen von Maschinen. Es gibt solche, die deterministisch auf äußere Einflüsse der Umwelt reagieren. Sie sind vollständig vorhersehbar, sofern der Output vom Eingangswert reduzierbar ist und umgekehrt. Man verlangt jederzeit, in jedem Raum und unter jeder Bedingung, dasselbe Resultat. Sie nehmen keine Transformation an. Die andere Art hingegen, die sogenannten nicht-trivialen Maschinen, sind in sich komplex, da man nie mit absoluter Gewissheit den Schluss ziehen kann, wie sie sich genau verhalten werden. Sie sind umweltabhängig, denn die Werte variieren abhängig vom Kontext.

Soziale Systeme bilden sich über nicht-triviale Kommunikationskanäle. Die Kommunikation zwischen Menschen ist in diesem Sinne bzw. sollte eine nicht-triviale Praxis sein. Denn wenn ich schon mit absoluter Sicherheit alles von den anderen weiß, brauche ich nicht zu kommunizieren. Ergo: Kommunikation benötigt für ihre Erhaltung per se eine gewisse Offenheit für jene Ereignisse, in denen die Übertragung von Information stattfindet. Falls man sich auf etwas Neues einlässt, nämlich darauf, was man nicht weiß, erlangen die Empfänger:innen neuartige Informationen. Eine unerwartete Einlassung auf den Kanal war deshalb das Prinzip des „Operativen Denkens“, das nicht als ein reflexiver solipsistischer Prozess zu verstehen ist, sondern als ein Denken, das sich zunächst aus der kooperativen Teilnahme am Netz ergibt.

V. Conclusio: Der Bericht der zweiten Ordnung: Wenn die Selbstbeobachtung die Kontrolle kontrolliert

KYBERNETHIK
VON HEINZ VON FÖRSTER
Berlin: Merve
173 Seiten | € 14,39 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3883961118
Erscheinungstermin: Jänner 2008

Vielleicht ist doch die Selbstbeschreibung die Lösung, wenn die Kontrolle von deren Verlust und Schädigung gefährdet ist. Doch kann sie die Lösung für die Totalkontrolle sein, für die Trivialisierung der nicht-trivialen Maschinen? Wird die Kontrolle doppelt beschrieben, dann ist die Kontrolle im Sinne der Second Order Cybernetics ihrerseits kontrolliert, also durch ein anderes Auge bezeugt und dies beweist, dass es sich um die Kontrolle der Kontrolle im Sinne einer Beobachtung der Beobachtung handelt.

Freiheit heißt dann nicht Wahlmöglichkeit. Die Parameter, unter denen die Auswahl und die Entscheidung getroffen werden, sind bereits gegeben: zugunsten der Operation bzw. der Kontrolle. Denn Muster- und Ordnungsparameter definieren genau den Rahmen, der die Auswahlwerte umfasst. Diese dürfen aber vermehrt werden, weil die Selbstbeschreibung des Systems dazu führt, jene Parameter, mit denen die Systeme funktionieren, neu zu definieren. So lautet der Appell einer operativen KybernEthik (Förster 1993): „Handle stets so, die Anzahl der Möglichkeiten zu vermehren“ („Act always so as to increase the number of choice“). Die Vermehrung der Wahlmöglichkeiten hängt aber – kybernetisch betrachtet – nur von einer Sache ab: der Selbstbeschreibung des Systems, dem Kontrollieren der Kontrolle, also über die Augen der anderen die Kontrolle auszuüben, sie zu bezeugen und somit die Kontrolle der Autorität der Kontrolle zu entziehen.

Ganz im hier diskutierten Sinne haben zwei sehr bekannte Fälle die öffentliche Ordnung der Kommunikationstechnologien durcheinandergebracht: Denn Julian Assange und Edward Snowden haben die Freiheit, welche die Kontrolle zur Verfügung gestellt hat, benutzt, um die beobachtenden Augen der Kontrolle eben dieser Kontrolle zu entziehen. Damit haben sie auf einer Metaebene die Tatsache der Kontrolle und Überwachung bezeugt, was noch eingehend zu diskutieren bleibt.

ARANTZAZU SARATXAGA ARREGI

ist Universitätslektorin und Philosophin. Sie promovierte 2018 an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe bei Peter Sloterdijk. Sie forscht über Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse von geschlossenen Milieus und umweltbezogenen Bindungsrelationen. Eine Epistemologie der Komplexität und selbstorganisierende Prozesse als Theorien der operativen Geschlossenheit prägen ihre aktuelle Forschung. Ihre Promotionsschrift wurde bei transcript publiziert: Matrixiale Philosophie. Mutter – Welt– Gebärmutter: Zu einer mehrwertigen Ontologie, vgl. online unter: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4590-3/matrixiale-philosophie/.

Literatur

Förster, Heinz von (1993): KybernEthik, Berlin: Merve.

Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München: C. H. Beck.

Wiener, Norbert (1948): Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge MA: MIT Press.

Maxwell, James Clerk (1968): On Governors, online unter: https://royalsocietypublishing.org/doi/epdf/10.1098/rspl.1867.0055 (letzter Zugriff: 10.12.2022).