Die Autorin LORENA PIRCHER war Teil der Jury des im aktuellen Heft dokumentierten Wettbewerbs zur engagierten Literatur. In ihrem Essay erlaubt sie Einblicke in diese gleichermaßen fordernde, wie beglückende Tätigkeit und reflektiert über die gesellschaftspolitischen Kontexte des Schreibens.
I.
Im Rahmen eines Literaturwettbewerbs als Jurymitglied fungieren zu dürfen, ist eine faszinierende Aufgabe, eine Aufgabe, die daran erinnert, dass jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller vor allem eines ist: Leser*in. Die tiefe Auseinandersetzung mit einem Text, die Analyse der Wortwahl, das Nachfühlen eines besonderen Sprachstils, die Entflechtung eines Handlungsgewebes, das Atmen mit dem Werk. Als Schreibende*r ist man zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, was einen guten Text ausmacht. Der Versuch, eine eigene Stimme zu finden, die eigenen Worte wie Lehm zu formen, Sätze zu schreiben in der Hoffnung, dass sie in den Organen anderer nachhallen. Wenn man Texte verschiedener Autor*innen liest und argumentieren soll, weshalb ein bestimmtes Werk literarisch wertvoll ist und weshalb sich ein bestimmter Text in seiner Brillanz herauskristallisiert und beispielsweise einen Literaturwettbewerb gewinnt, scheint dies über weite Strecken sehr subjektiv zu sein.
Sicherlich kann versucht werden, sich an Julia Kristeva oder Umberto Eco und einer Vielzahl anderer Literaturwissenschaftler*innen zu orientieren, die Merkmale von qualitativ hochwertigen literarischen Texten herausarbeiteten. Jedoch wissen wir auch spätestens seit der Postmoderne, dass alles Text sein kann. Hinzu kommt die Überlegung, dass in einem Zeitalter der Simulacren nichts Neues mehr geschaffen werden kann, dass in einer Ära der Reproduktion das Kunstwerk aus anderer Perspektive beleuchtet werden muss, als nur aus der Sichtweise seiner Neuartigkeit oder seiner Einzigartigkeit. Denn was macht einen Text heute noch einzigartig, originell, innovativ? Ist nicht jeder Text in gewisser Weise gleich gut oder gleich schlecht, da kein Satz mehr gesagt, geschrieben werden kann, ohne, dass die Sätze all derer mitschwingen, die sie vor uns gesagt, geschrieben haben? Kommt es also nur darauf an, wie diese Sätze, die alle schon existieren, angeordnet werden? Glauben die Leser*innen Jorge Luis Borges, so ja. Und gleichzeitig erklärt Gertrude Stein „a rose is a rose is a rose is a rose“ und es stellt sich die Frage, wird das Wort durch die bewusste Wiederholung lebbarer, in, so paradoxal es klingt, der Wiederholung einzigartiger?
II.
Ist ein guter Text also, der das bereits Bekannte neu zusammensetzt, einen neuen Aufbau, eine originelle Erzählstimme findet? Als aktuelles Beispiel könnte hier The Singing School angeführt werden. In diesem Werk wendet die Autorin Nell Leyshon einen an Virginia Woolfs „stream of consciousness“ erinnernden Erzählstil ohne Satzzeichen an. Das Vokabular wächst mit der Erzählerin, die, als die Erzählung einsetzt, ein Kind ist, die Sprache entwickelt sich mit der Protagonistin weiter und doch liest sich das Werk von Beginn an beinahe wie ein Gedicht, es besitzt eine tiefgreifende, poetische Kraft. Vielleicht muss für die Geburt eines einzigartigen Textes genau dies geschehen; es muss eine neue Ausdrucksweise gefunden, eine neue Sprache kreiert werden, wie Luce Irigaray aus einer philosophischen Sicht argumentiert, eine dynamische Sprache, die keine Grenzen schafft, sondern flüssig ist. Die Konzepte und eingefahrene Rahmenlinien dekonstruiert, wie beispielsweise die Kurzgeschichtensammlungen von Jackie Kay oder die Werke von Roxane Gay.
Eine Sprache also, die seziert, die radikal und fragil zugleich ist, eine Sprache wie jene von Toni Morrison oder Yvonne Vera, in denen Sätze scharf und splitternd wie Knochen geformt sind. Worte, die Asche und Feuer zugleich spüren lassen, wie die Gedichte von Mircea Lăcătuş, die Trauer und Seligkeit in das Sein weben und die Haut dampfend zurücklassen von der Wucht ihres Klangs. Ein literarisch hochwertiger Text verfügt also über eine Sprache, deren Farben geschmeckt, deren Töne gespürt werden können, die in der Lage ist, Erzählperspektiven zu vermischen, eine Polyphonie der Stimmen zu eröffnen oder sich in ihrem Minimalismus zu entfalten? Eine Sprache, die erfahrbar ist, greifbar wie Erde, spürbar, als würde sie innerlich glühen, brennen, eine Sprache, die jedes einzelne Wort braucht, in der alles perfekt orchestriert scheint, eine Sprache, die stakkatoartig atmet, wie in Animal von Lisa Taddeo.
III.
Eine andere Herangehensweise zu beleuchten, ob ein Text literarisch wertvoll ist, wäre zu prüfen, ob er Wissen über die Existenzanderer Werke demonstriert, ob er von intertextuellen Bezügen geprägt ist, indem er auf die Riesen verweist, auf dessen Schultern er steht. So erklärt Salman Rushdie in seinem Kinder-und Jugendbuch Sea of Stories, ähnlich dem Libro de Arena von Borges, dass Intertextualität in ihrem ersten Sinne immer gegeben ist, dass alle Texte sich aus anderen zusammensetzen. Ist T. S. Eliots The Waste Land unter anderem deshalb ein Meisterwerk, weil es sich auf unzählige andere Werke bezieht, weil seine Texte eine unglaubliche symbolische Dichte erreichen, weil all die Assoziationen und theoretischen Überbauten der zitierten Werke mitschwingen? Ist David Lodges Small World nur deshalb so brillant, weil es zwischen Persiflage und Dekonstruktion von Weltliteratur changiert?
Sicher ist, dass jeder Text auf die Leser*innenschaft anders wirkt, dass eine persönliche Beziehung zu den Worten, den Sätzen eingegangen wird und dass Lesende den Text mitgestalten, dass ideale Leser*innen auch Mitautor*innen jeden Werkes sind. Im Laufe dieses Kurzgeschichtenwettbewerbs haben mich einige Texte in ihrem Aufbau beeindruckt, in ihrem Sprachstil geradezu verfolgt, und an andere Kurzgeschichtensammlungen denken lassen, die ich in ihrem Inhalt und ihrer Form für Meisterwerke halte, wie En Voz Alta von Cristina Rascón, Interpreter of Maladies von Jhumpa Lahiri oder Milk Blood Heat von Dantiel W. Moniz. Was sicherlich ebenfalls essentiell ist, ist die Frage, welchen Inhalten sich „gute“ literarische Texte widmen. Texte, die das Credo des „l‘art pour l’art“ verfolgen und Literatur die gesellschaftskritisch agiert, die Missstände und Diskriminierungen anprangert und die Aufmerksamkeit auf Thematiken lenkt, denen zu wenig Beachtung geschenkt wird, müssen sich keinesfalls gegenseitig ausschließen. Dennoch spüren viele Leser*innen, dass es sich insbesondere in unserer Gesellschaft als wichtig herausstellt, dass ein Text einen realpolitischen Anspruch verfolgt, eine sozialkritische Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben, thematisiert.
IV.
Was macht also letztlich einen guten Text aus? Zeichnet ihn eine Harmonie zwischen Form und Inhalt aus, liegt es an einer Krudität, Unverfälschtheit, einer gewissen Authentizität des Schreibstils? An der Gradwanderung zwischen realpolitischem Anspruch und künstlerischer Auseinandersetzung? An den Gefühlen, den das Werk in den Leser*innen auslöst und in ihnen hinterlässt, an einem unkonventionellen Aufbau, an einer sezierenden, präzisen, radikalen oder gerade vagen, poetischen Sprache, die sich in uns festsetzt und uns zum eigenen Schaffen inspiriert? Sind gute Texte letztlich jene, die aus anderen Texten gewachsen sind und den Nährboden für weitere, kommende Werke bilden? Wahrscheinlich sind sie all dies und gleichzeitig nichts von all dem, und wahrscheinlich ist das literarische Schaffen gerade in seiner Undefinierbarkeit das, was uns so sehr fasziniert, als Leser*innen, jedes Mal, wenn wir einen neuen Text zu lesen beginnen und als Schreibende, jedes Mal, wenn wir von neuem den Stift auf das Papier setzen.
LORENA PIRCHER
wurde 1994 in Südtirol, Italien, geboren. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Anglistik und Romanistik. Sie schreibt Kurzprosa und Lyrik. Ihr erster Gedichtband Irrende Welten wurde 2018 veröffentlicht; derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Lyrikband.
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