Oliver Scheiber startet einen letzten Aufruf, um die Sozialdemokratie zwischen Tod und Wiederauferstehung aktuell zu halten. Seine Vorschläge zur Reformierung der sozialdemokratischen Bewegung schließen dabei eindeutig an ihre historische Größe an …
1. Die Lage
Quer über den Globus drängen Rechtspopulisten und Rechtsextreme an die Macht und arbeiten nach dem immer gleichen Muster am Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Angriffe auf Medien, insbesondere auf öffentlich-rechtliche; Attacken auf die Justiz, Herbeireden von Gefahren, die ein Aufrüsten von Polizei und Heer rechtfertigen sollen. Wir finden diese Schablone in Brasilien genau so wie in Ungarn, Polen, Kroatien oder in der Trump-Administration – mit der Besonderheit, dass die Institutionen der USA besonders stark und resistent sind. In Europa ist es gleichsam 5 nach 12. Der Aufstieg der Rechtspopulisten gefährdet die europäische Nachkriegsordnung. Die Rechtspopulisten und Nationalisten greifen die europäische Idee an.
Für Österreich zeigt das Ibiza-Video ein Bild einer enthemmten politischen Korruptionsbereitschaft; niemand weiß, wie weit die ausgeplauderten Pläne bereits umgesetzt sind. Mit dem Misstrauensvotum gegen die Regierung Kurz hat sich Österreich eine Atempause verschafft, denn die Regierung Kurz entwickelte sich unverkennbar in Richtung der Machthaber in Ungarn und Polen. Zivilgesellschaft und SPÖ als größte Oppositionspartei waren in den ersten Monaten 2017 angesichts der Entwicklungen gelähmt. Umzäunte Lager für jugendliche AsylwerberInnen, die Entziehung der österreichischen Staatsbürgerschaft bei Menschen, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, das Infragestellen von Asylrecht und Menschenrechtskonvention, das Schild „Ausreisezentrum“, es sind die letzten Alarmzeichen vor einem unumkehrbaren Destabilisierungsprozess, den die FPÖ aktiv betrieb und die neue ÖVP unter Kurz mittrug. Das System der politischen Generalsekretäre, in allen Bundesministerien installiert, unterwarf die Beamtenschaft; die Razzia im BVT trat als Machtdemonstration dazu, die damit verbundene Einschüchterung des gesamten öffentlichen Dienstes verfehlte ihre Wirkung nicht. Wer soll den Mund aufmachen, wenn dann vielleicht morgen eine Polizeieinheit ins Büro stürmt und die Computerkabel aus der Wand reißt?
Diese Gefahr für die Demokratie und die Kraftlosigkeit der Sozialdemokratie haben mich im Frühjahr veranlasst, ein kurzes Buch zur Sozialdemokratie zu schreiben – die unerwartet starke Resonanz zeigt das brachliegende Potenzial der Sozialdemokratie.
2. Die Ursachen
Was hat die Krise der Linken ausgelöst, die ja kein österreichisches Phänomen allein ist? Der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme Osteuropas führte zur Diskreditierung des linken Gedankens. Der Neoliberalismus brach sich die Bahn, er begann die Demokratie zu untergraben. Immer mehr Sozialdemokrat*innen unterwarfen sich den Wünschen der Konzerne und des Finanzkapitals. Sichtbar wurde dies nach dem Ende ihrer Politkarrieren, wenn sie zu Telekom-, Rüstungs- und Energiekonzernen wechselten. Als Linke/r muss man nicht arm sein, aber man muss gegen Armut sein, hat es Gregor Gysi treffend formuliert. Und doch: der Lebensstil vieler führender Funktionäre führt zur Entfremdung von der arbeitenden Bevölkerung. Glaubwürdigkeit kann nur dort entstehen, wo Partei und Funktionäre ständig präsent sind, nicht nur in Wahlkampfzeiten. Die Verbrüderung von Blair, Schröder und anderen mit Kapital- und Konzerninteressen hat die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie europaweit vernichtet; die Glaubwürdigkeit lässt sich nur durch jahrelange ernsthafte, leidenschaftliche inhaltliche Arbeit zurückgewinnen. Das bedeutet auch, einer guten Vorsitzenden Zeit einzuräumen.
Die Krise der Sozialdemokratie ist doppelt dramatisch, weil die Gesellschaft die linken Parteien als Stabilisatoren und Garantien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten benötigt.
3. Das Potenzial
Die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat ist auf ein Wiedererstarken der Sozialdemokratie angewiesen. Die SPÖ präsentiert sich heute als immer noch breite, aber auch schwerfällige Partei mit einer starken Basis in der Hauptstadt Wien. In der zweiten, dritten und vierten Reihe findet sich eine Vielzahl bemerkenswerter Persönlichkeiten; Beispiele finden sich in Wien auf Stadtratsebene eben so wie in vielen Bezirken, in denen der Generationenwechsel stattgefunden hat; aber auch in anderen Städten und Gemeinden. Die SPÖ Innsbruck oder die SPÖ Traiskirchen sind zwei besonders sichtbare Beispiele; sie zeigen auch das Rezept: Kompetenz, Leidenschaft, Authentizität und harte Arbeit. Die Gesamtstruktur der Partei ist jedoch nicht zeitgemäß, die Führung gleichzeitig zu defensiv, ängstlich und durch starre Regelungen gefesselt. Die SPÖ schafft es nicht, ihre vielen Talente innerhalb der Partei richtig einzusetzen und ihnen Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen, und Grüne und SPÖ schaffen es gemeinsam nicht, die Vision eines optimistischen und kraftvollen Gegenmodells zu Türkis-Blau zu zeichnen. Für die Sozialdemokratie gilt es, Ballast an teuren Beraterinnen und Beratern abzuschütteln und klugen und innovativen Kräften auf allen Ebenen Freiräume zu öffnen. Die letzten Jahre über haben zu viele unpolitische Menschen die Politik der SPÖ bestimmt. Das ist schmerzhaft angesichts der Geschichte der Sozialdemokratie, eingedenk der vielen mutigen Menschen, die während Austrofaschismus und Nationalsozialismus nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern für die Wiedergewinnung der Demokratie ihr Leben riskiert haben. In der Zivilgesellschaft, in Kunst und Wissenschaft warten viele darauf, gemeinsam mit der SPÖ einen Teil des Weges zu gehen; die SPÖ holt sie seit Jahren nicht ab. Die Sozialdemokratie könnte eine Allianz mit der Zivilgesellschaft bilden und zu DER Menschenrechtsbewegung werden, denn die Rechtspopulisten greifen die Grundrechtsordnung und das internationale Recht frontal an. Die SPÖ muss darüber hinaus zu verschiedenen Politikbereichen Betroffene einbinden, Talente in die erste Reihe holen, ein Team von frischen Gesichtern um die Vorsitzende aufbauen, Pilotprojekte quer durch das Land starten. Und: öffentliche Streitigkeiten schaden jeder Partei, sie machen die beste Arbeit zunichte.
4. Zielgruppe und Strategie
Die SPÖ, die Linke muss eine breite Wählerschaft ansprechen. In Botschaften und Inhalten orientiert sich etwa die Sozialdemokratie nach wie vor stark an ArbeiterInnen und Angestellten. Sie muss darüber hinaus Angebote für die vielen Menschen in prekären, selbstständigen Verhältnissen machen, sie muss sich an kleine Unternehmer wenden und sie muss massiv im ländlichen Raum werben. Die fehlenden oder teuren Kinderbetreuungsplätze, zu wenig Pflegeplätze, die schlechten Rahmenbedingungen für kleine landwirtschaftliche Betriebe, all das sind Themen für den ländlichen Raum. Die Sozialdemokratie muss außerhalb Wiens darüber informieren, dass Wien deshalb so starken Zuzug hat, weil die städtischen Leistungen so gut sind. Dem Wien-Bashing der Regierungsparteien muss man das Vorzeigemodell Wien in der Öffentlichkeitsarbeit gegenüberstellen – weit über Wien hinaus.
Die Linke muss für Vielfalt, Buntheit, Freiheit werben, für Mehrfachstaatsbürgerschaften und rasche Staatsbürgerschaftsverleihung bei Integration. Das ist erklärbar. Wien sollte eine Wiener Stadtbürgerschaft einführen: für alle, die in Wien leben. Diese Stadtbürgerschaft sollte viele Mitbestimmungsrechte geben, und zwar alles an Rechten, was verfassungsrechtlich möglich ist. Das Hinterherhecheln hinter rechtspopulistischen Positionen ist fatal: Wo die Sozialdemokratie Rechtspopulisten rechts überholen will, verliert sie und stärkt deren Modell. Im Fremdenrechtsbereich ist genau das der SPÖ zwanzig Jahre lang passiert. Es braucht vielmehr ein Programm der Solidarität und des Sozialstaats sowie eine klare Abgrenzung zu Hetze und Sozialchauvinismus .
So überzeugend die Grundsatzprogrammatik der Sozialdemokratie ist, so sehr sie sich in ihrer Anwendung in der Stadt Wien bewährt – Glaubwürdigkeit und Vertrauen in der Bevölkerung sind auf einem tiefen Stand. Das ist zum Teil der jahrzehntelangen Gehirnwäsche neoliberaler Parteien und Interessensgruppen geschuldet, zum anderen Teil eigener Überheblichkeit, politischer Ungeschicklichkeit und vor allem der Unfähigkeit, kritische Köpfe in der Partei zuzulassen und positiv zu nutzen. Zu viele Spitzenfunktionäre umgeben sich mit Jasagern, die weder inhaltliche Ideen einbringen noch politische Gefahren antizipieren und abwenden. Eine große Partei muss es schaffen, auf Bundesebene rund um die Vorsitzende ein Team von fünf bis zehn kompetenten Personen aufzubauen, die regelmäßig präsent sind. Davon ist die SPÖ weit entfernt. Man frage auf den Straßen Menschen nach fünf SPÖ-BundespolitikerInnen. Hätte man Julia Herr, Peter Hacker, Jürgen Czernohorszky und vergleichbare Persönlichkeiten vor Jahren ins Führungsteam geholt, wären die Probleme heute geringer.
Eine Rückkehr zur Mehrheitsfähigkeit kann nur gelingen, wenn die Sozialdemokratie mit dem dritten Weg von Blair/Schröder radikal bricht und sich zu einem Ausbau des Sozialstaats bekennt. Linke Parteien wie die SPÖ müssen die Verteilungsdiskussion führen, den Fokus auf die zentralen Bereiche Bildung, Umwelt, Gesundheit und Recht legen. Wo die Sozialdemokratie oder die Linke regiert, sei es auf Gemeinde-, Landes- oder Bundesebene, muss das sofort in Gesetzgebung und Verwaltung sichtbar sein. Die Sozialdemokratie verziert aktuell bloß die kapitalistischen Strukturen.
5. Ausgewählte Themenfelder
Eine neue Sozialdemokratie muss sich inhaltlich klar links positionieren und ihren grundsätzlichen Zugang auf aktuelle Fragen anwenden. So gehört heute unter die Überschrift Solidarität auch der Umgang mit dem Klimawandel. Klimaschutzmaßnahmen müssen ins Zentrum sozialdemokratischer Politik rücken. Denn die sozialen Folgen des Klimawandels sind massiv. Der Klimawandel trifft sozial schwächere Schichten unverhältnismäßig stärker und früher als soziale Eliten, sowohl global gesehen, als auch national. Diese wissenschaftlich belegte Tatsache findet bis dato kaum Eingang in linke Narrative, obwohl erste Effekte bereits jetzt spürbar sind (kleine landwirtschaftliche Unternehmen können sich schlechter an geänderte klimatische Veränderungen anpassen als große Agrarunternehmen; ältere Personen leider stärker unter Hitzewellen und haben, im Falle einer Mindestpension, selten die Mittel, sich Klimaanlage oä. leisten zu können; Familien mit geringem Einkommen können den heißesten Wochen des Jahres nicht entfliehen, weil das Geld für Urlaub fehlt; Wetterextreme wie Hochwasser und Überschwemmungen, Hagel etc. treffen Personen ohne finanzielle Rücklagen naturgemäß am härtesten). In der Einkommens- und Verteilungspolitik hat das Burgenland den Weg vorgegeben: Nicht die Mindestsicherung ist zu hoch, die Mindestlöhne sind zu niedrig. Pflegeberufe, Bildungsberufe, medizinische Berufe, sie alle müssen deutlich über 2.000 Euro netto liegen. Eine solche Lohnanhebung führt zu einer enorm steigenden Kaufkraft und kurbelt die Wirtschaft an. Bundesweit müssen kostenfreie Kinderbetreuungsplätze das Ziel sein, auch eine kommunal oder staatlich finanzierte Urlaubsmöglichkeit für einkommensschwache Familien sollte eine Forderung sein. Kein Kind soll in Österreich aufwachsen, ohne Urlaub machen und reisen zu können. Vor allem muss die SPÖ die Stimme nicht nur der ArbeitnehmerInnen sein, sondern der vielen prekär Beschäftigten und Scheinselbstständigen.
Die SPÖ sollte quer durch das Land Pilotprojekte vorantreiben, die ihre gestalterische Kraft belegen, sie auf einer Intranet- oder Internetseite sammeln und präsentieren, um sie als best practice-Beispiele zu multiplizieren. Im städtischen Bereich kann die Lebensqualität durch eine Neugestaltung des öffentlichen Raums erhöht werden. Die Stadt Wien etwa sollte die Bezirke auffordern, sich als Musterbezirk zu bewerben. Erste Musterbezirke sollten dann völlig umgemodelt werden – 80% des Bezirks sollten zur Begegnungszone werden, die Geschwindigkeit generell auf 30 reduziert werden, usw. Die Bevölkerung muss überzeugt und informiert werden, dass eine Senkung der Feinstaubbelastung Leben verlängert und rettet. Im Dialog mit der Bevölkerung müssen Maßnahmen dazu schnell umgesetzt werden. Lobautunnel und die dritte Piste für den Flughafen Wien sind in jeder Hinsicht absurde Projekte – die Gelder dafür könnten genutzt werden, um die Lebensqualität in der Stadt durch eine Vielzahl von Maßnahmen massiv zu erhöhen.
Entsprechend im ländlichen Raum: die öffentliche Hand muss die Anbindung ans öffentliche Verkehrsnetz verbessern, Gemeinden müssen Busverbindungen auch am späten Abend garantieren, damit der städtische Raum mit seinem Kulturangebot erreichbar bleibt. Die Sozialdemokratie muss Ideen zur kostenlosen Kinderbetreuung auch am Land entwickeln, allein mit gemeinnützigen Projekten – Leihgroßelternsysteme – ließe sich hier viel bewegen. Das muss bereits aus der Opposition heraus passieren. Das alles geht – aber nur mit neuen Strukturen und neuen Leuten; die SP-Sektionen etwa sind heute baulich und personell aus der Zeit gefallen, unbeweglich, abgeschottet, oft ängstlich und überheblich zugleich.
Für ein Wiedererstarken der SPÖ ist die Rückgewinnung der Handlungshoheit der Politik über die Wirtschaft als Gegenmodell zum System Kurz nötig. Die Sozialdemokratie soll jene Teile der Wirtschaft stärken, die fair agieren und auch eine Gemeinwohlverpflichtung spüren – was auf einen großen Teil der kleinen und mittleren Unternehmen zutrifft. Die SPÖ kann Partner aller Unternehmen sein, die mit Rücksicht auf Umwelt und Arbeitsschutz gemeinsam mit ihren ArbeitnehmerInnen den Wohlstand garantieren.
Eine erneuerte SPÖ wird sich für einen starken Staat einsetzen, der Sozialleistungen, Bildungs- und Gesundheitssystem für alle garantiert, und für eine moderne, leicht zugängliche Gerichtsbarkeit. Alle öffentlichen Stellen sollten, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, einem weit gefassten Transparenzgebot unterliegen.
6. Öffnung
Der Schlüssel zu einer guten Zukunft der Sozialdemokratie liegt in internen Reformen und einer Neuausrichtung der politischen Arbeit. Parteizentralen und Parteilokale sollten zum öffentlichen Raum hin offen sein, zu oft sind Funktionäre und Parteilokale der SPÖ regelrecht verschanzt. In einer Bundesparteizentrale sollte ein öffentliches Cafe sein, in der man Abgeordnete und Mitarbeiter der Partei trifft, in der Langzeitarbeitslose einen Jobwiedereinsteig finden. KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen sollten temporär Büros in Parteilokalen beziehen und Ideen und Energien einbringen. Das Schielen nach dem Boulevard sollte durch den Einsatz für eine Förderung unabhängiger Qualitätsmedien und einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk ersetzt werden. SymphatisantInnen und interessierte VertreterInnen der Zivilgesellschaft sollten projektbezogen an die Partei geführt werden, interne Talente ermutigt werden. Bisher wird kritisches Denken zu oft bestraft, kluge Ideen im Keim erstickt, Veränderungen als Gefahr betrachtet.
Der Irrweg der großen Beraterstäbe und Spin-Doktoren sollte schnell beendet werden.
Die Sozialdemokratie darf auch nicht auf ihre alten Tugenden der Internationalität vergessen. Gemeinsame europäische Initiativen der Sozialdemokratie gibt es vielleicht hinter verschlossenen Türen, sie werden aber nicht sichtbar.
7. Verzicht auf falsche Kompromisse
Die Sozialdemokratie hat sich bei der Bildung der letzten großen Koalitionen selbst verleugnet. Ein Schlüsselressort nach dem anderen – Finanzen, Wirtschaft, Äußeres, Inneres, Justiz – wurde dem Regierungspartner überlassen, zugleich war auch inhaltlich keine sozialdemokratische Handschrift erkennbar. Dies hat den Absturz der SPÖ beschleunigt. Hier ist für die Zukunft mehr an Geschick, Hartnäckigkeit und besserer Vorbereitung nötig, inhaltlich wie personell. Die Bundes- und Landeslisten für die kommende Nationalratswahl sind da kein ermunterndes Signal, und wenn man gegebenenfalls schlecht vorbereitet in Koalitionsverhandlungen geht – ohne Kernforderungen, ohne gutes Personal für Ministerkabinette – dann darf man keine Erfolge erwarten.
8. Was kommt
Die Angriffe der türkis-blauen Regierung auf Rechtsstaat und Demokratie waren erheblich und gefährlich; die Causa BVT ist das stärkste Bild dafür. Die Gefahr des Aufbaus einer illiberalen Demokratie nach dem Muster Ungarns ist für Österreich nach dem Misstrauensvotum geringer geworden, aber bei weitem nicht gebannt, wenn die früheren Koalitionspartner wieder zusammenfinden. Im laufenden Wahlkampf machen SPÖ, Grüne, Liste Jetzt und Neos gemeinsam den Fehler, nicht in großen Bahnen zu denken. Denn die latenten Bedrohungen für Demokratie und Rechtsstaat schaffen eine politische Ausnahmesituation, die ein besonderes Instrumentarium erfordert. Im Vordergrund muss im Moment die Absicherung des Rechtsstaats und der Demokratie stehen, und dazu braucht es eine Allianz aller menschenrechtsorientiert und europäisch denkenden Kräfte, also aller solidarischen Linken, Liberalen und überzeugten christlichen Bürgerlichen. Wenn wir über autoritäre Entwicklungen in Ungarn, Polen oder der Türkei sprechen, dann heißt es regelmäßig: Die Opposition scheitert, denn sie ist nicht geeint. Österreichs Oppositionsparteien laufen Gefahr, in einer für das Land entscheidenden Stunde denselben Fehler zu machen: Sie denken nicht im großen Rahmen, marschieren getrennt, jagen sich wechselseitig Stimmen ab. Alle, die sich im Befund einig sind, dass Österreichs politische Situation ungewöhnlich ist, eben weil demokratische Strukturen abgebaut werden, müssten den logischen zweiten Schritt gehen: ungewöhnliche Mittel ergreifen. Das Mittel der Stunde wäre ein Zusammenwirken der Opposition in Form von Wahlplattformen oder Wahlbündnissen. SPÖ, Neos, Grüne, Liste Jetzt sind sich in allen wichtigen demokratiepolitischen Fragen einig. Es wäre schon bei der EU-Wahl im Mai 2019 naheliegend gewesen, den Erhalt von Weltoffenheit, Demokratie, Pressefreiheit als gemeinsame Basis eines Wahlbündnisses zu nehmen, und dasselbe gilt für die Nationalratswahl. Nachdem diese Chance verpasst ist, müsste zumindest die SPÖ als strategisches Ziel die Bildung eines Gegenmodells zu einer türkis-blauen Regierung formulieren: umzusetzen entweder durch ein neues breites Bündnis oder durch eine Minderheitsregierung. Eine ernsthafte Diskussion über Minderheitsregierungen ist lange überfällig. Das Modell der Minderheitsregierung erweitert die Zahl möglicher Regierungskonstellationen und beschränkt die Einflussmöglichkeiten populistischer Parteien. Es bedeutet ein schwierigeres Regieren, aber in einer erfahrenen Demokratie wie Österreich sollten die Parteien daran nicht scheitern. In Verbindung mit einer Lockerung des Klubzwangs könnten Minderheitsregierungen eine spürbare Belebung der parlamentarischen Demokratie und die wünschenswerte Stärkung des Parlaments bringen.
Blicken wir doch auf die Zahlen: Bei der Nationalratswahl 2017 erreichten ÖVP und FPÖ rund 57 Prozent der Stimmen, SPÖ, Neos und Liste Jetzt/Pilz rund 40 Prozent. In Umfragen zur Nationalratswahl liegen ÖVP und FPÖ gemeinsam stabil bei etwa 55 Prozent, SPÖ, Neos, Jetzt und Grüne gemeinsam bei 40 bis 42 Prozent. Derzeit streiten die Oppositionsparteien also untereinander um das kleinere Kuchenstück, statt gemeinsam ihren Anteil am Kuchen entscheidend zu vergrößern. Wer die autoritären Tendenzen stoppen will, muss also danach trachten, den Anteil des Kuchens der bis zum Misstrauensvotum bestehenden Opposition auf mindestens 51 Prozent zu bringen. Dazu wäre ein zumindest informelles Bündnis mit drei, vier Leuchtturmprojekten, auf die man sich verständigen kann, vielleicht mit einem attraktiven alternativen, gemeinsam erstellten Schattenkabinett, ein neues Rezept.
11% – diesen Stimmenanteil erhielt der Kandidat der SPÖ bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016; bei 11-14% liegt die deutsche SPD in der aktuellen Sonntagsfrage. So dramatisch ist die Umfragesituation für die Schwesternpartei SPÖ nicht – dennoch baut auch die SPÖ in der Gesamtschau von Bundes- und Landeswahlergebnissen kontinuierlich ab und ist in einzelnen Bundesländern praktisch nicht mehr relevant. In Niederösterreich und Oberösterreich, wo SPÖ und ÖVP vor gar nicht allzu langer Zeit regelmäßig gleichauf waren, ist die Sozialdemokratie weit zurückgefallen. Die wichtigste Machtbasis der SPÖ, Wien, steht nicht mehr so unangreifbar da, wie das jahrzehntelang der Fall war. Der Verlust der Regierungsmacht in Wien könnte das Ende der SPÖ als bedeutende bundespolitische Kraft bedeuten. Will die SPÖ einen Umschwung schaffen, dann sollte sie sich dieser Realität stellen. Andernfalls droht ein Schicksal wie jenes der französischen Sozialisten, die de facto untergegangen sind. Verdrängung ist ein schlechter politischer Ratgeber, genau so wie der Hinweis, dass der geringere Zuspruch zur Sozialdemokratie ungerecht sei. Das ist zum Teil richtig, es hilft aber nichts.
Die Sozialdemokratie verdrängt die Gefahr des Absturzes weitgehend. Man hofft vor jeder Wahl, es werde noch einmal gut gehen. Dabei geht es seit vielen Jahren und vielen Wahlen nicht mehr gut. Auf schlechte Ergebnisse reagiert die Führung der Sozialdemokratie zu oft mit Lähmung statt mit dem nötigen Aufbruch. Dabei wäre eine starke Sozialdemokratie für die gesamte Gesellschaft eben so wichtig wie vor 100 Jahren. Die verheerenden Wirkungen einer ungeregelten Wirtschaft, vor allem einer ungezügelten Banken- und Finanzwirtschaft, des Neoliberalismus, all das in Verbindung mit einem neuen Nationalismus, zeigen sich überall, vom Klimawandel bis zur Arbeitslosigkeit in Südeuropa und zu verbreiteten autoritären Tendenzen. Es ist Aufgabe und Verpflichtung der Sozialdemokratie, all dem entschlossen entgegenzutreten. Und Zeit, an frühere historische Leistungen wieder anzuschließen.
Dr. Oliver Scheiber ist Jurist und Publizist in Wien und Autor des Buchs „Sozialdemokratie – letzter Aufruf“, bahoe books (2019).