Religionsfreiheit ist kein Grundrecht de luxe … Interview mit Nina Scholz – von Nina Scholz, Viktoria Kriehebauer und Marlies Ettl

Im Interview mit Viktoria Kriehebauer und Marlies Ettl steht Nina Scholz Rede und Antwort … Die Religionsfreiheit ist mit Sicherheit kein Grundrecht de luxe.

Viktoria Kriehebauer und Marlies Ettl (ZUKUNFT & Terre des Femmes): Alle fünf österreichischen Parlamentsparteien haben sich jüngst auf ein Kopftuchverbot bis 14 ausgesprochen. Ab Februar tritt das Gesetz in Kraft. Was bedeutet diese Entwicklung aus Deiner Sicht – für Mädchenrechte, für Gleichstellung und für die politische Kultur in Österreich?

Nina Scholz: Das Gesetz verbietet die Verhüllung von Mädchen bis zum 14. Geburtstag, dem Zeitpunkt der Religionsmündigkeit, und es gilt ausschließlich für die Schule. Das Kindeswohl ist in der Begründung zentral. Die Verhüllung von Mädchen im Kindesalter sieht das Gesetz nicht durch den Hinweis auf die Religionsfreiheit gerechtfertigt. Anlässlich des ersten Anlaufs für ein solches Gesetz 2019, habe ich im KURIER und im STANDARD dargelegt, warum ich das Gesetz für richtig halte. Diese Argumente sind in meinen Augen unvermindert relevant, weil wir Kinderrechten den Vorrang vor Religionsfreiheit und einer in meinen Augen falsch verstandenen „Gleichbehandlung der Religionen“ geben sollten (vgl. die Literaturangaben am Ende dieses Interviews). Wenn Eltern erneut vor den Verfassungsgerichtshof ziehen, um gegen das Kopftuchverbot zu klagen, kommt es darauf an, ob dieser eine Einschränkung der Religionsfreiheit in diesem Fall für begründbar erachtet und damit zeigt, dass nicht per se alle religiös argumentierten Traditionen und Praktiken mit dem Recht auf Religionsfreiheit gerechtfertigt werden können.

Eine Ungleichbehandlung der Religionen kann ich in dem Verbot nicht erkennen, denn keine andere Religion besteht auf einem Kleidungsstück, das bereits kleine Mädchen sexualisiert und in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Die mit dem Kopftuch verbundene Markierung und Frühsexualisierung von Mädchen widerspricht dem Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Männern und Frauen“. Die Forderung nach Verschleierung von Mädchen in frühem Alter ist in streng muslimischen Familien eine Folge der dort vorherrschenden Sexualmoral und den daran geknüpften Ehrvorstellungen, die Mädchen und Frauen generell strenge Regeln auferlegen. Im Gegensatz zu Burschen werden Mädchen als latente Gefahr für die Familienehre und die Moral der Gemeinschaft betrachtet. Diese Gefahr soll durch Tragen eines Hijabs bereits im Kindesalter eingehegt werden. Dem Mädchen wird also die Verantwortung für den Bestand dieser Moralvorstellungen auferlegt. Es liegt auf der Hand, dass Mädchen im Kindesalter durch den Hijab sehr früh auf ein Rollenbild festgelegt werden, das Werte wie Sittsamkeit, Zurückhaltung und Enthaltsamkeit zum Maßstab für die Ehrbarkeit einer Frau macht. Sie werden in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihrer freien Entwicklung eingeschränkt, wenn sie schon im Kindesalter diesen Kleidervorschriften unterworfen werden. Mit der Verhüllung werden Mädchen bereits im Kindesalter sexuell markiert. Sie ist ein Zeichen der Ungleichstellung der Geschlechter und drängt Mädchen in eine inferiore Rolle.

ZUKUNFT: Man hat in dieser Debatte mitunter den Eindruck, dass das Recht auf Religionsfreiheit eine übergeordnete Rolle spielt. Auch in den öffentlichen Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf wurde ihr oft Vorrang gegeben. Warum ist das so?

N. S.: Das liegt zum einen in der Geschichte dieses Grundrechts begründet. Nach langen Epochen religiöser Konflikte und Verfolgungen wurde der religiöse Glaube außer Streit gestellt. Jeder Mensch sollte nach seiner Fasson selig werden. Religionsfreiheit sollte ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften garantieren, der Staat sollte sich neutral verhalten und allen dieselben Rechte zur Religionsausübung garantieren. Religionsfreiheit, zu der übrigens auch das Recht auf Freiheit von Religion – die sg. negative Religionsfreiheit – gehört, wurde zu einem hohen Gut. Es gab und gibt durchaus Einschränkungen und Eingriffe in sie. Dennoch neigt die Rechtsprechung dazu, sie außerordentlich hoch zu bewerten. Das liegt vielleicht auch daran, dass es über einen längeren Zeitraum hinweg keine gravierenden Probleme mehr gab, keine Forderungen und Normen, die in Konflikt mit Grundrechten und Regeln der Gesellschaft gerieten, aber mit dem Recht auf Religionsfreiheit argumentiert wurden.

Hier entstand durch Zuwanderung vor allem aus fundamentalistischen Milieus islamischer Länder eine historisch neue Situation. In der Debatte um das Kopftuchverbot liegt die Argumentation, dass das Kopftuch durch die Religionsfreiheit gedeckt sei, aber auch darin begründet, dass es hier um eine Einwanderungsgruppe geht. Die Verteidigung geschieht hier oft aus ideologischen Gründen, im Glauben, ein Verbot könne muslimfeindlich oder rassistisch sein. Im Glauben, gegen Rassismus zu kämpfen, lässt man die Mädchen im Stich. Ich kenne das auch aus meiner Forschung zum Thema Unterdrückung und Gewalt im Namen der Ehre.

Religionsfreiheit, inklusive dem Recht der Eltern auf religiöse Erziehung, ist kein Grundrecht de luxe, das alle anderen Grundrechte sticht. Die Abwägung verschiedener Grundrechte in einem Rechtskonflikt ist in einer Demokratie selbstverständlich. Nicht alles, was von Religionsgemeinschaften bzw. von Teilen derselben für richtig gehalten wird, ist allein deshalb legitim. Anderenfalls müssten auch Forderungen von Hindu-Fundamentalisten nach Separierung von Witwen vom Rest der Gesellschaft erlaubt sein, die im Namen religiöser Reinheit erhoben werden. Oder um ein naheliegenderes Beispiel anzuführen: Erwachsene können lebenserhaltende Maßnahmen wie Bluttransfusionen ablehnen, aber Eltern haben selbst aus religiösen Gründen nicht das Recht, sie ihren Kindern im Notfall zu verwehren. Die Einschränkung von Mädchen durch den Hijab ist meiner Ansicht nach mit der politischen Kultur einer freien Gesellschaft, die die Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von Herkunft und Geschlecht anstrebt, nicht vereinbar. Das „Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip“
steht übrigens im Verfassungsrang und stellt einen verbindlichen Orientierungsmaßstab für Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung und selbstverständlich auch für die Schule dar.

ZUKUNFT: Ist dieses Gesetz ein Präzedenzfall, der über Symbolpolitik hinausweist?

N. S.: Ja, aber ein Präzedenzfall nur insofern, als dass es hier konkret um Mädchen aus muslimischen Familien geht. Was Kinderrechte und Kindeswohl angeht, gibt es schon lange eine gesellschaftliche Übereinkunft, die sich auch in Gesetzen manifestierte. Mir erschließt sich nicht, warum einer Maßnahme, die konkrete Auswirkungen auf den Schulalltag der Mädchen hätte, der Vorwurf der Symbolpolitik gemacht wird. Er geht meist Hand in Hand mit der Behauptung, Verbote seien kontraproduktiv, während die Lösung in Aufklärung liege. Meiner Ansicht nach sind solche Statements oft ideologischen Präferenzen geschuldet. An anderer Stelle werden Verbote durchaus begrüßt. Gesetze und Aufklärung sind ohnehin kein Gegensatzpaar. Das Verbot der Prügelstrafe etwa zeitigte Hand in Hand mit der Aufklärung letztlich eine gravierende Veränderung unserer Gesellschaft.

Es sind im Übrigen oft säkular eingestellte Musliminnen, die ein Kopftuchverbot in der Schule begrüßen. In Österreich tragen einer repräsentativen Studie der Uni Wien zufolge zwei Drittel der Musliminnen kein Kopftuch. Es verwundert nicht, dass gerade aus dieser Gruppe Zustimmung kommt. Musliminnen und Muslime, die eine strenge Auslegung des Islam ablehnen, fürchten die Ausbreitung von Kleidervorschriften und anderer Gebote und Verbote. Sie bzw. ihre Töchter sind es, die in Schulen oder auf der Straße unter Druck durch Sittenwächter geraten, die unverhüllte Mädchen als „Schlampen“ betrachten. Durch ein Verbot des Kopftuchs in der Schule würde auch der Druck auf unverhüllte Mädchen ausgehebelt.

ZUKUNFT: Gerade in linken und akademischen Milieus wird der politische Islam oft verharmlost, teils sogar als antiimperialistische Kraft dargestellt. Wie erklärst Du Dir diese Haltung – angesichts der enormen Kapitalströme aus Golfstaaten in westliche Finanzsysteme, Universitäten und Thinktanks?

N. S.: Das Thema der finanziellen Verflechtungen mit den wohlhabenden islamischen Ländern ist meiner Wahrnehmung nach im linken Diskurs nicht gerade präsent. Die Gefahr der Beeinflussung von Universitäten und Thinktanks steht jedenfalls nicht auf der Prioritätenliste der Linken, obwohl diese Beeinflussung ein immer größer werdendes Problem darstellt, weil hier sehr viel Geld im Spiel ist und Universitäten zunehmend auf Drittmittel angewiesen sind. Das ist selbstverständlich auch ein Instrument der Einflussnahme und Infiltration. Wir können anhand einiger Beispiele in europäischen Ländern, etwa in Großbritannien, inzwischen erkennen, das eine solche Einflussnahme versucht wird. Welche Universitäten und Forschungsinstitute in Österreich von welchen islamischen Ländern bzw. Stiftungen mit welchem Zweck finanziert wurden und werden, ist nicht genauer erforscht.

Was die Zusammenarbeit mit Islamisten und die Verharmlosung derselben betrifft, sehe ich zwei parallele Entwicklungen. Zum einen hat die Linke ihr revolutionäres Subjekt verloren. Die Industriearbeiterschaft ist in den vergangenen 50 Jahren massiv geschrumpft. Zum anderen hat sie sich von den verbliebenen Resten derselben und von den unteren Gesellschaftsschichten entfremdet. Diese sind in vielen Bereichen deutlich konservativer als die akademisch gebildete Linke unserer Tage – hier sind die Lebenswelten weit auseinandergefallen. Man lebt nicht in den gleichen Wohnvierteln, die Kinder gehen nicht in die gleichen Schulen. Die politischen Interessen der Linken folgen zunehmend modischen Vorstellungen von Befindlichkeits- und Identitätspolitik, die sich zu einer Art Ersatzreligion entwickelt haben. Das ist vielleicht ein wenig überspitzt gesagt und wird nicht allen linken Segmenten gerecht, aber die Tendenz ist doch sehr stark.

Als Ersatz für den Verlust der historischen Klientel hat man Migranten, vor allem DIE Muslime, entdeckt und arbeitet mit islamistischen Akteuren zusammen. Der gemeinsame Nenner besteht aus Identitätspolitik und der Ablehnung des Westens. In Frankreich gibt es den Begriff „Islamogauchisme“, der die Allianz von Linken und Islamisten sehr gut beschreibt. Die Partei La France Insoumise ist ein Beispiel für eine solche Allianz. Die Anbiederung an islamische Kräfte ist allerdings nicht neu. Nicht geringe Teile der Linken begrüßten 1979 die sog. islamische Revolution in Iran. Man teilte dieselben Feinde, die USA, Israel und den Westen insgesamt, und sah  in der islamistischen Bewegung eine antiimperialistische Kraft.

Das heutige Einfallstor für Islamisten in westliche linke universitäre Diskurse ist vor allem die sogenannte postkoloniale Theorie, die die Gesellschaft in essenzialistische und hierarchisch gegliederte Opfer- und Tätergruppen teilt.

ZUKUNFT: Welche Folgen hat diese Verharmlosung für die Glaubwürdigkeit einer kritischen Linken?

N. S.: Es geht inzwischen nicht mehr nur um Glaubwürdigkeit, sondern um die Existenz. Dafür braucht man sich nur die Wahlergebnisse in weiten Teilen Europas anzusehen. Die ehemaligen linken Hochburgen in Österreich, Deutschland und Frankreich gingen schon vor längerer Zeit verloren. In Favoriten, Simmering, Floridsdorf und der Donaustadt erzielte die SPÖ in den 1980er-Jahren zwischen 60 % und 70 % der Stimmen. Mitte der 1990er-Jahre setzte der Niedergang ein, der bis heute anhält, während die FPÖ immer mehr aufholt.

Die dänischen Sozialdemokraten haben das Phänomen analysiert, Umfragen ernst genommen und eine Abkehr von Identitätspolitik vollzogen. Das konsequente Vorgehen unter der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin und Parteivorsitzenden Mette Frederiksen jenseits von Wunschdenken, Relativierung und Tabuisierung wird von den meisten Menschen Dänemarks honoriert, inklusive derjenigen Migranten und ihrer Nachkommen, die unter der jahrzehntelangen Fehlentwicklung litten. Von einer solchen Einsicht scheint die SPÖ weit entfernt.

ALLES FÜR ALLAH.
WIE DER POLITISCHE ISLAM
UNSERE GESELLSCHAFT VERÄNDERT
VON NINA SCHOLZ
UND HEIKO HEINISCH
Wien: Molden
193 Seiten
€ 20,00
(Gebundenes Buch)
ISBN: 978-3990405147
Erscheinungsdatum:
20. März 2019

ZUKUNFT: Das Kopftuch wird im westlichen Diskurs häufig als Symbol der Selbstbestimmung gedeutet. Du argumentierst dagegen aus einer feministischen Perspektive. Was übersieht diese liberale Lesart?

N. S.: Ich würde meine Haltung zum islamischen Kopftuch nicht unbedingt als feministische Perspektive bezeichnen und die Rechtfertigung der Verschleierung im westlichen Diskurs nicht unbedingt als liberale Lesart. Zum einen haben Begrifflichkeiten hier wie auch in manchen anderen Debatten ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Viele Verteidigerinnen des Hijabs sehen sich ja durchaus als Feministinnen und Begriffe wie „Selbstbestimmung“ oder „Selbstermächtigung“, die in diesem Zusammenhang kursieren, stammen aus dem feministischen Diskurs. Kopftuchlobbyistinnen oder Frauensprecherinnen von islamischen Verbänden berufen sich mitunter auch auf den Feminismus. Es widerspricht meinen Vorstellungen von Gleichberechtigung, wenn Menschen aufgrund der Tatsache, dass sie weiblich sind, zurückhaltend, anständig und sittsam sein und ihre Haare, ihren Hals und Nacken verhüllen sollen, auch wenn diese Haltung von selbstbewussten Hijabis propagiert wird, wie etwa von Mariah Idrissi, einem Hijab-tragenden Model von H&M, die dieses Frauenbild einst in einem Interview im Spiegel als vorbildlich bewarb.

Es scheint mir doch etwas absurd, dass jene, die für Gleichberechtigung der Geschlechter kämpfen und – wie weite Teile
der neuen Linken – von fluiden Geschlechtern sprechen, im Bereich der Biologie die Existenz von definierten Geschlechtern bestreiten und die Grenzen zwischen den Geschlechtern aufheben wollen, ausgerechnet im Kopftuch, mit dem das weibliche Geschlecht als solches markiert und eine sichtbare Grenze zwischen den Geschlechtern gezogen wird, ein Zeichen der Selbstbestimmung sehen.

Wie das Kopftuch von den Islamverbänden gesehen wird, macht die österreichische Kopftuch-Fatwa, also das an österreichische Musliminnen gerichtete islamische Rechtsgutachten des Muftis der IGGÖ deutlich. Mit Berufung auf die islamischen Rechtsschulen wird darin von der Verhüllung als religiöser Pflicht für weibliche Muslime ab der Pubertät gesprochen. In der Öffentlichkeit sei, so die Fatwa, die Bedeckung des Körpers, mit Ausnahme von Gesicht und Händen, ein religiöses Gebot und damit Teil der Glaubenspraxis. Ein Alter wird nicht erwähnt, Pubertät reduzierend als Zeitpunkt der Geschlechtsreife aufgefasst. Ich kann linke oder sonstige intellektuelle Verrenkungen nicht nachvollziehen, die darin ein Zeichen der Selbstbestimmung erkennen wollen.

Beim Thema Kopftuch würde ich die Tragfähigkeit von Kategorien wie „Selbstbestimmung“ und „Freiwilligkeit“ ohnehin in Frage stellen. Damit will ich nicht sagen, dass alle Frauen zum Kopftuch gezwungen werden. Aber für viele Mädchen und Frauen sieht die Realität anders aus. Wenn ein Mädchen in einem familiären und sozialen kollektivistisch geprägten Umfeld aufwächst, in dem das Kopftuch als Merkmal der guten Muslimin und ehrenhaften Frau angesehen wird, ist Freiwilligkeit, soziologisch und psychologisch betrachtet, kaum eine abfragbare Kategorie. Freiwilligkeit ist unter diesen Voraussetzungen oft nur die Einwilligung in eine in der Familie und im sozialen Umfeld vorherrschende und geforderte Norm oder in ein scheinbar unvermeidliches Schicksal.

ZUKUNFT: Welche Stimmen muslimischer Frauen sind in der österreichischen und europäischen Debatte unterrepräsentiert – und warum?

N. S.: Das ist eine gute Frage. Ich werde gelegentlich von Medien gefragt, ob ich eine Muslimin für ein Interview empfehlen könne. Und es kam schon vor, dass man ausdrücklich nach einer Muslimin mit Kopftuch fragte. Im Grunde zeigt sich auch daran die Symbolkraft des Kopftuchs. Die Folge ist, dass eine Minderheit, denn das sind muslimische Frauen mit Kopftuch in Österreich, als Vertreterinnen der Musliminnen betrachtet wird. Diese Frauen, oft Funktionärinnen der Islamverbände, propagieren die Verhüllung als selbstbestimmte religiöse Praxis und verallgemeinern, was für sie persönlich zutreffen mag.

Und damit sind wir bei jenen Frauen, die in der Öffentlichkeit keine Stimme haben: Es ist nicht sehr naheliegend, dass diejenigen Mädchen und Frauen, die von Eltern, Brüdern oder Ehemann zum Kopftuch gezwungen werden, in einem Interview oder einer TV-Diskussionssendung über ihr Schicksal berichten. Ihre Stimmen kommen im öffentlichen Diskurs also nicht oder kaum vor, während selbstbewusste Kopftuchträgerinnen von der „Freiheit des Hijab“ schwärmen. Die Debatte ist also von vornherein asymmetrisch.

ZUKUNFT: In Deutschland haben sich Kritiker*innen des politischen Islam im Arbeitskreis Politischer Islam (AK POLIS) zusammengeschlossen. Wäre eine ähnliche Plattform in Österreich denkbar, und wer wären mögliche Partner*innen?

N. S.: Theoretisch wäre ein solcher Arbeitskreis auch in Österreich denkbar. Anders als in Deutschland sehe ich jedoch kaum öffentlich aktive Personen, die eine entsprechende parteiübergreifende Initiative tragen könnten. Dafür wäre es nötig, dass sich Menschen zusammenschließen und eine verbindliche Leitung entsteht. AK Polis ist ein junger, aber erfolgreicher aktiver Verein, der die Kapazität und das Know-how hat, ein Netzwerk aufzubauen und mit unterschiedlichen Stakeholdern zusammenzuarbeiten.

An einer Stelle sind wir in Österreich allerdings einen Schritt voraus. Zu den Zielen von AK POLIS gehört die Etablierung einer Dokumentationsstelle politischer Islam. In Österreich existiert mit der DPI bereits seit fünf Jahren eine solche Stelle, in Niederösterreich wird aktuell auf Landesebene eine aufgebaut, andere Bundesländer haben ebenfalls Interesse signalisiert. Mit dieser Institutionalisierung ist Österreich beispielgebend für Deutschland und andere Länder.

ZUKUNFT: Du warst kürzlich Referentin bei einer Konferenz im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Wie lautet Dein Resümee: Wird die deutsche Politik hellhöriger und klarer in der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam?

N. S.: Das lässt sich schwer beurteilen. AK Polis hat diese Veranstaltung organisiert und stieß auf Interesse seitens der SPD. In Deutschland wurde auf Regierungsebene ein Bund-Länder-Aktionsplan gegen den Politischen Islam beschlossen. AK Polis sieht seine Aufgabe darin, Impulse für diesen zu geben. Eine Veranstaltung im Willy-Brandt-Haus mit hochkarätiger Zuhörerschaft war dafür sicher ein wichtiger Schritt. Wie nachhaltig die Beschäftigung der Politik, in diesem Fall der SPD, mit diesen Themen ist und vor allem, ob endlich gehandelt wird, kann ich nicht einschätzen und bin nach den Erfahrungen der Vergangenheit skeptisch. Es gibt innerhalb der Sozialdemokratie verschiedene Fraktionen. Alles wird davon abhängen, ob die Fraktion, die die Probleme, die durch Einwanderung fundamentalistischer islamischer Milieus und der Ausbreitung entsprechender Islamvorstellungen entstanden sind, wächst und die Politik der SPD in die richtige Richtung bewegen kann. Es fällt zwar auf, dass das Thema unter der neuen Regierung nicht mehr, wie noch unter der Ampel-Regierung, schlichtweg geleugnet wird, aber inwiefern das zu tatsächlichen Maßnahmen führt, ist ungewiss.

EUROPA, MENSCHENRECHT
UND ISLAM – EIN KULTURKAMPF?
VON HEIKO HEINISCH
UND NINA SCHOLZ
Wien: Passagen
352 Seiten | € 25,60
(Gebundenes Buch)
ISBN: 978-3-7092-0016-2
Erscheinungsdatum:
01. April 2019

ZUKUNFT: Du arbeitest seit Jahren mit dem Historiker Heiko Heinisch zusammen. Eure Publikationen – Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert  (2019) und Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf? (2019) – haben breite Debatten ausgelöst. Was ist die zentrale Botschaft eurer Forschung?

N. S.: Botschaft ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich würde sagen, ein wichtiges Ergebnis unserer Forschung ist die Erkenntnis, dass es islamistischen legalistisch operierenden Organisationen, wie etwa der Muslimbruderschaft und der dieser nahestehenden Milli Görüs Bewegung gelang, sich in westlichen europäischen Ländern an die Spitze des organisierten Islam zu stellen und dass sich radikale islamische Vorstellungen ausbreiten. Das ist auch eine Frage der Demografie. Durch eine schnell wachsende muslimische Bevölkerung – seit 1971 hat sich der Anteil der Muslime an der österreichischen Gesamtbevölkerung alle 10 Jahre ungefähr verdoppelt – sind wir heute an einem Punkt angekommen, an dem die Ideologie des politischen Islam immer stärker in unsere Gesellschaft eingreift, unter Zuhilfenahme bzw. Ausnutzung der Möglichkeiten, die sich dafür in einer Demokratie bieten. Wenn wir in die Türkei schauen, sehen wir, dass Erdogan seine Islamisierungspolitik unter dem Deckmantel einer Demokratisierung sukzessive vorantreiben konnte. Dafür braucht es nicht unbedingt Mehrheiten – die Islamverbände selbst vertreten Schätzungen zufolge in Österreich wie auch in Deutschland nur etwa 20 % der Muslime – sondern nur eine ambitionierte Minderheit, die die Unterwanderung von Parteien, NGOs, Gewerkschaften und staatlichen Institutionen und damit ihre Einflussnahme vorantreibt. Forderungen nach Rücksichtnahme auf islamische Regeln und mit diesen Regeln begründete Forderungen, etwa nach Einschränkung der Meinungs- und Forschungsfreiheit, breiten sich langsam aber sicher aus, in Großbritannien oder Deutschland stärker als bisher in Österreich.

Ein Beispiel für die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas ist etwa die Tatsache, dass es kaum eine Zeitung mehr wagt, Mohammed-Karikaturen zu drucken oder Witze über den Islam zu machen. Letzteres trifft auch auf Comedians zu. Der Druck, die Angst und der damit oft einhergehende vorauseilende Gehorsam haben ein unübersehbares Ausmaß angenommen. Von dieser Selbstzensur sind sogar KI-Systeme beeinflusst, die sich auf Nachfrage weigern, Fragen nach Witzen oder Karikaturen über den Islam zu beantworten. Wenn es nicht gelingt, das Ruder herumzureißen und islamisch argumentierten Begehrlichkeiten entgegenzutreten, sind die Zukunftsszenarien eher düster. Das Anwachsen von Parallelgesellschaften und eine Libanonisierung im städtischen Raum wären dann noch die positivsten Prognosen. In Großbritannien zeigen sich besorgniserregende erste Anzeichen von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, bei denen Teile der Bevölkerung das Recht in die eigene Hand nehmen und sich extremistische Gruppierungen gegenseitig hochschaukeln.

Literatur

Scholz, Nina (2018a): Das Kopftuch drängt die Kinder in eine inferiore Rolle, in: KURIER (online) vom 16.04.2018, online unter: https://kurier.at/meinung/das-kopftuch-draengt-die-kinder-in-eine-inferiore-rolle/400021720 (letzter Zugriff: 01.11.2025).

Scholz, Nina (2018b): Kopftuch und Kindeswohl, in: STANDARD (online) vom 23.11.2018, online unter: https://kurier.at/meinung/das-kopftuch-draengt-die-kinder-in-eine-inferiore-rolle/400021720 (letzter Zugriff: 01.11.2025).

NINA SCHOLZ
studierte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und arbeitete u. a. am Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft. Sie lebt und arbeitet in Wien. Sie forscht und publiziert zu den Themen Nationalsozialismus, Antisemitismus, Islam und Menschenrechte.

VIKTORIA KRIEHEBAUER
hat 1982 die Hertha Firnberg Schulen für Wirtschaft und Tourismus (HFS) gegründet. Sie engagiert sich derzeit als Vorstandsmitglied der Frauen-NGO Terre des Femmes Österreich (www.terredesfemmes.at), um alle Formen der Gewalt an Frauen zu bekämpfen. Sie ist Trägerin des Käthe-Leichter-Preises und der Otto-Glöckel-Medaille.

MARLIES ETTL
war langjährige Schulleiterin der Hertha Firnberg Schulen. Seit vielen Jahren engagiert sie sich auf verschiedenen Ebenen in der Frauenpolitik und ist eine profiliert auftretende Feministin. Sie ist Mitgründerin sowie stellvertretende Vorsitzende der NGO Terre des Femmes Österreich. Sie wurde mit dem Wiener Frauenpreis, dem Grete-Rehor- und dem Anton-Benya-Preis ausgezeichnet.

Weitere Informationen: www.terredesfemmes.at & www.firnbergschulen.at.