Radikalisierung im Netz von Emil Goldberg

Wie schnell sich die Spirale von Fake News bis hin zur totalen Eskalation drehen kann und welche durchaus fragwürdige Rolle Online-Giganten darin spielen, reflektiert EMIL GOLDBERG in seinem Denkanstoß über die Rolle der Sozialen Medien und der Filterblasen im (politischen) Diskurs.

I. Deplatforming

Die letzten Tage der Präsidentschaft von Donald Trump waren überschattet vom Sturm auf das Kapitol am Nachmittag des 06. Jänner 2021. Social Media-Giganten und Technologiekonzerne wie Twitter, Facebook und Alphabet (Anm.: die Dachholding der Google-Marken wie Youtube und Co) reagierten mit einem in der Geschichte noch nie dagewesenen Schritt und sperrten Trumps Accounts – zunächst temporär, danach vielerorts auch dauerhaft. Damit wurden dem scheidenden Präsidenten einige seiner wohl wichtigsten Kommunikationskanäle genommen – allein auf dem Kurznachrichtendienst Twitter hatten etwa 88 Millionen Userinnen seinen Kanal @realdonaldtrump abonniert. Dieses sogenannte „Deplatforming“ von Trump stellt eine medienpolitische Zäsur dar – noch nie wurde ein derart reichweitenstarker Account – und schon gar nicht der eines amtierenden US-Präsidenten – von Social Media-Plattformen verbannt. Grund genug, einen kritischen Blick auf diesen sich zunehmend radikalisierenden Mikrokosmos im Netz und die damit verbundene(n) Polarisierung(en) und d. i. hier Radikalisierung(en) zu werfen. II. Von Gatekeepern und Graswurzeljournalismus Im klassischen Medienbetrieb, egal ob im Rundfunk- oder Printjournalismus, durchlaufen die eintreffenden Nachrichtenmeldungen die Redaktionen, werden dort geprüft, inhaltlich eingeordnet, kommentiert und/oder Faktenchecks unterzogen. Den Journalistinnen kommt also die Rolle des sogenannten Gatekeepers, also eines sprichwörtlichen Torwächters, zu. Sie entscheiden, was in der gedruckten Zeitung steht oder über den Äther flimmert. Jedes Medienprodukt ist das Ergebnis einer ganzen Serie von Selektionsprozessen, fasste es der Schriftsteller Walter Lippmann bereits 1922 in dem Klassiker Public Opinion – Die öffentliche Meinung (Lippmann 2018) treffend zusammen. Ein Umstand, der seit jeher Stoff für mannigfaltige Diskussionen über Objektivität, Färbung oder Schlagseite(n) von Medien mit sich bringt.


Eine Revolution stellte hier das Internet dar: Plötzlich konnte jede/r über alles berichten; der Graswurzeljournalismus war geboren. Zunächst vielleicht nur als Textbeitrag, doch dank der immer preisgünstiger werdenden Endgeräte und des rasant voranschreitenden technologischen Fortschritts ist es inzwischen für die breite Masse möglich, mittels hochaufgelöstem Bewegtbild und Live-Video direkt vom Ort des Geschehens zu berichten. Mit dem Smartphone und mobilem Breitbandinternet hat man heutzutage quasi seinen eigenen TV-Sender in der Tasche.

Mündige Bürgerinnen, die eine aktive Rolle im Recherchieren, Aufbereiten und Verbreiten von Informationen einnehmen, klingt das nicht schön? Das Ziel dieser Partizipation sei „eine Bereitstellung von unabhängigen, verlässlichen, genauen, ausführlichen und relevanten Informationen, die eine Demokratie benötigt“. Soweit jedenfalls die Wunschvorstellung, wie sie Shayne Bowman und Chris Willis optimistisch beschrieben (Bowman/Willis 2003). Die Kehrseite dieser Medaille sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben – mit denselben technischen Möglichkeiten kann natürlich auch jede noch so bizarre Falschmeldung oder Verschwörungstheorie an ein potenzielles Millionenpublikum verbreitet werden. Was uns wieder zu Donald Trump bringt. Das Internet und die Sozialen Medien im Speziellen umgehen also die Schranke der zuvor erwähnten Gatekeeper-Funktion – sie ermöglichen es nun allen Nutzerinnen, mit wenigen Mausklicks ihre persönliche Sicht der Dinge der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

III. Von Filterblasen und Fake News

Zum Schlüssel in der viralen Verbreitung von Inhalten aller Art sind die sozialen Medien geworden. Von der Privatperson bis hin zu internationalen Superstars, ob als gemeinnütziger Verein oder multinationaler Konzern – Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter und viele andere sind aus der heutigen Medienwelt kaum mehr wegzudenken. Die Accounts werden, teils mit erheblichem personellen und finanziellen Aufwand, gepflegt, um Likes und Follower zu akquirieren – kurz gesagt: um Reichweite zu erhalten. Und es sind zumeist die reißerischen Überschriften und markigen Sprüche, die den „Traffic“ auf die jeweiligen Kanäle bringen.

Was in diesem Zusammenhang gerne übersehen wird, ist die Tatsache, dass all diese Plattformen gewinnorientiert arbeiten. Die Währung heißt Aufmerksamkeit – und je länger die Nutzerinnen auf einer Seite verweilen, desto mehr Geld lässt sich mit der dort angezeigten (personalisierten) Werbung verdienen. Durch die Anwendung komplexer Algorithmen neigen die Plattformen dazu, den Benutzerinnen möglichst Informationen vorzuschlagen, die mit dem bisherigen Nutzungsverhalten der Userinnen übereinstimmen. Das Ganze ist ein Milliardengeschäft – deshalb arbeiten Heerscharen von Programmierern mit Hochdruck daran, ebendiese Algorithmen dahingehend zu optimieren; die Quellcodes dahinter werden gehütet wie Staatsgeheimnisse. Soll heißen: das in PR-Texten oft beschriebene „Nutzungserlebnis“ für die Userinnen dient allem voran dem Konzernergebnis.

Es werden also tendenziell jene Informationen ausgeschlossen, die den bisherigen Ansichten der Userinnen widersprechen. So werden die Nutzerinnen schleichend, aber sehr effektiv in einer Art „Blase“ isoliert, wie der Kommunikationswissenschaftler Eli Pariser ausführlich in seinem Buch The Filter Bubble (Pariser 2012) beschreibt. Man kann nun einwerfen, dass es beim Kleidungseinkauf eine untergeordnete Rolle spielt, ob verstärkt die Produkte von Firma A oder B angepriesen werden – gesellschaftspolitisch relevant wird es jedoch im politischen Bereich.

Die durch Algorithmen geschaffene Filterblase bildet auch hier die Grundlage dafür, dass sich das Meinungsspektrum im Netz zunehmend polarisiert. Die Userinnen finden sich in einer Art Echokammer wieder, in der anderslautende Meinungen nur mehr wenig bis gar keinen Raum bekommen. Insbesondere wenn der Nachrichtenkonsum vorwiegend auf den Social Media-Plattformen stattfindet, kann es so weit führen, dass sich Menschen binnen kurzer Zeit radikalisieren. (vgl. den bezeichnenden Beitrag von Florian Klenk in FALTER 45/16: Boris wollte mich verbrennen). Wenn also ausgehend von reichweitenstarken Accounts, wie beispielsweise jene des US-Präsidenten, Meldungen von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt an ihre Abertausenden von Followerinnen ausgesendet werden, verschiebt dort jedes „Like“ die individuellen Filterprofile der Anhänger*innen in diese Richtung. Mit jedem Klick ein Stückchen mehr. Wem die Geschichte von einer manipulierten Wahl „gefällt“, klickt vielleicht auch auf eine Meldung darüber, dass das Coronavirus wahlweise harmlos und/oder eine Erfindung von Bill Gates ist. Und bei der Impfung bekommen wir dann sehr schnell alle einen 5G-Chip implantiert. Dass man in den alteingesessenen Medien nichts davon liest, kann doch nur damit zusammenhängen, dass die mit denen unter einer Decke stecken. Lügenpresse! Fake News!

Man sieht: auf mittelfristige Sicht bilden sich dadurch regelrechte Parallelrealitäten heraus. Worin die Polarisierung gipfeln kann, hat Washington am 06. Jänner erlebt und es ist zu befürchten, dass das sprichwörtliche Ende der Fahnenstange nicht erreicht ist.

IV. Conclusio

Wer glaubt, dass dies ein amerikanisches Phänomen sei, irrt leider. Das (fälschlicherweise) Karl Kraus zugeschriebene Zitat „Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien. Dort passiert alles zehn Jahre später“ gilt in diesem Zusammenhang schon lange nicht mehr. Auch hierzulande prallen die Meinungen mit zunehmender Aggressivität aufeinander – sowohl virtuell als auch auf der Straße, wie uns nicht zuletzt auch die Ausschreitungen am Rande der Demonstrationen der selbsternannten „Corona-Skeptiker*innen“ zeigen. Es ist die Aufgabe einer aufgeklärten Zivilgesellschaft, in diesem extrem polarisierten Schlachtfeld der Meinungen klar Stellung zu beziehen und den „Fake News“ mit Fakten entgegenzutreten.

Einspruch
INGRID BRODNIG EINSPRUCH. VERSCHWÖRUNGSMYTHEN UND FAKE NEWS KONTERN – IN DER FAMULIE, IM FREUNDESKREIS UND ONLINE Wien: Brandstätter 160 Seiten | € 20 ISBN: 978-3-7106-0520-8 Erscheinungstermin: Jänner 1921

EMIL GOLDBERG ist Pressesprecher beim Fonds Soziales Wien. Davor war er viele Jahre in der Presseabteilung der Bundes-SPÖ tätig und zwischenzeitlich auch für die Öffentlichkeitsarbeit des ÖBB-Konzernbetriebsrats verantwortlich. Auf Twitter: @emil_goldberg

Literatur

Bowman, Shayne/Willis, Chris (2003): We Media. How audiences are shaping the future of news and information, commissioned by The Media Center at The American Press Institute, online unter: https://tinyurl.com/tlmpbqqt (letzter Zugriff: 17.02.2021).

Klenk, Florian (2016): Boris wollte mich verbrennen, FALTER 45/16: online unter: https://tinyurl.com/3d7rglun (letzter Zugriff: 17.02.2021).

Lippmann, Walter (2018): Die öffentliche Meinung: Wie sie entsteht und manipuliert wird, Frankfurt am Main: Westend.

Pariser, Eli (2012): Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden, München: Hanser.

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