Die österreichische Republik ist relativ jungen Datums, was zugleich bedeutet, dass gerade hier die Prägung früherer Epochen noch besonders spürbar ist. CHRISTIAN ZOLLES plädiert dafür, angesichts massiver Rückentwicklungen im politischen und öffentlichen Diskurs diesem Umstand noch einmal besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn je weniger wir uns der Freiheiten bewusst sind, die gegenüber absolutistischen und feudal-aristokratischen Formationen gewonnen wurden, desto mehr droht, wie die Geschichte nur allzu deutlich lehrt, der katastrophale Rückfall in voraufklärerische Unmündigkeit und irrlichtende National- und Heldenmythen.
I. Post×Feudalität
Dem Soziologen Norbert Elias (1997) zufolge blicken wir auf einen jahrtausendealten europäischen Zivilisationsprozess, der drei prägende Phasen durchlaufen hat: in Hinblick auf die menschliche Persönlichkeitsentwicklung (Psychogenese) wurden die Ideale zunächst von der mittelalterlichen courtoisie, Höflich- und Ritterlichkeit geprägt, gefolgt von der civilité des Absolutismus und letztlich von den zunehmend kapitalistisch dominierten Formen moderner civilisation. Diese Ideale korrespondierten mit den jeweiligen Sozialformen (Soziogenese): Feudalisierung, Monopolisierung von Machtgewalt und moderne Vergesellschaftung dieser Monopole. Umrissen sind damit Haupttendenzen einzelner Epochen, die sich aber nicht einfach abwechselten, sondern als ineinander übergegangen und auch niemals gänzlich ausgeformt zu verstehen sind. Das moderne Bürgertum hat diese früheren Ideale auf verschiedene Weisen angeeignet und verinnerlicht. Vor allem ist es zu Fusionen mit der Aristokratie gekommen, bei denen sich etwa kleinbürgerliche Parvenüs mit den Insignien des Adels schmücken (mittels privatisierter Schlösser, Jagden, Festbankette usf.) oder Gutsbesitzer die Bewirtschaftung nach kapitalistischen Grundsätzen ausrichten.
Unter dem Konzept Post×Feudalität soll die Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheiten und Milieuwechsel untersucht werden. Der Mittelpunkt (·) im Begriff weist dabei darauf hin, dass kein Abschluss erreicht ist, sondern alle früheren Stadien in unsere Denk- und Verhaltensformen eingegangen sind. Es geht darum, nach ihrer aktuellen Präsenz zu fragen: Denn gerade sie sind es, die derzeit von reaktionärer und revisionistischer Seite massiv instrumentalisiert werden. Dabei muss es im Gegenteil immer wieder darum gehen, sich der gegenüber den ehemaligen Formationen gewonnenen Freiheitenbewusst zu werden.
Besonders spannend ist es in diesem Zusammenhang, den unterschiedlichen kulturellen Ausformungen nachzugehen. So lassen sich etwa für die G7-Staaten Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die USA ganz spezifische Entwicklungslinien ausmachen. Die Anziehungskraft des American Dream etwa: „go West!“, entsprach der jahrhundealten Verlockung: „Fliehe den feudal-aristokratischen Vorprägungen Alteuropas!“ Umso paradoxer erscheint der derzeitige radikale US-Neoabsolutismus.
Im Folgenden werden zentrale Aspekte im Zusammenhang mit der sozio- und psychogenetischen Entwicklung in Österreich aufgezeigt.
II. Postimperialität und Postaristokratie
Im Interview mit dem Standard stellte der US-Historiker Timothy Snyder im Juli 2023 fest:
„Europäer glauben, es gäbe eine europäische Friedensordnung. Aber das stimmt nicht. Sie haben eine postimperiale Ordnung, die auf einer Niederlage basiert. Österreich ist heute dieses wundervolle Land, weil es einen Krieg verloren hat, weil das Dritte Reich verloren hat. Frieden ist nicht einfach eingetreten. Österreich ist ein Land, das im Entstehen ist. Die Erste Republik hat nicht so gut geklappt. Die Zweite Republik lief bisher ziemlich gut, aber sie hatte einen seltsamen Start. Die Geschichte der Habsburger ist sehr alt und faszinierend, aber die Geschichte Österreichs als Nation ist eigentlich relativ neu – jünger als die Volkspartei und Sozialdemokratische Partei. Der Beitritt zur EU im Jahr 1995 war in der Tat eine große Veränderung. Das war keine Neutralität mehr im Sinne von 1955.“ (Snyder 2023)
Konzise zusammengefasst im europäischen Kontext des 20. Jahrhunderts, erweist sich die Republikwerdung Österreichs nicht nur als sehr jung, sondern auch als nicht von sich heraus entwickelt, von breiten Teilen der Bevölkerung initiiert und getragen: Vielmehr ist sie Resultat zweier furchtbarer Weltkriege, die Millionen Tote, einen kulturellen Kahlschlag und den absoluten moralischen Nullpunkt zur Folge hatten. Daraus folgt, dass, während zentrale demokratische Formen und Haltungen von außen, nach 1945 über die alliierten Besatzungsmächte und die Einübung in demokratisierende Mediengebräuche, ins Land gebracht wurden, sich die Dominanz älterer Strukturen hartnäckig hielt und nie ganz überwunden wurde.
Nun wurde die Monarchie und die damit verbundene Sozialform mit dem Habsburgergesetz und dem Adelsaufhebungsgesetz vom 3. April 1919 de jure abgeschafft (sie kamen 1920 in den Verfassungsrang, wurden im 1921 angegliederten Burgenland allerdings erst 2008 ratifiziert). Karl I. wurde des Landes verwiesen, das Vermögen der Staatsverwaltung und die Besitzungen in die Österreichischen Bundesforste überführt sowie die Vorrechte des Hochadels aufgehoben. ‚Typisch österreichisch‘ kam es allerdings nicht zum Bruch mit den althergebrachten Verhältnissen: Das im internationalen Vergleich einzigartige Verbot der offiziellen Führung von Adelsbezeichnungen, Titeln und Würden wog – außer für den niederen (Beamten-)Adel – wenig im Vergleich dazu, dass aristokratischer Privatbesitz weitgehend unangetastet blieb (vgl. Korom/Dronkers 2015). Im Gegensatz etwa zur Tschechoslowakei kam es in der Zwischenkriegszeit zu keiner agrarischen Landreform. Das führte dazu, dass Vertreter*innen des Adels ihre Kapitalien über die politischen Umbrüche hinweg weitgehend erhalten konnten. Familien wie Esterházy, Batthyány, Habsburg-Lothringen, Foscari, Seilern-Aspang, Czernin-Kinsky, Cumberland, Reverta, Mayr-Melnhof, Schwarzenberg, Liechtenstein, Sachsen-Coburg u. a. m. zählen bis heute zu den größten Waldbesitzern. Angesichts der Profite aus Industrie, Energie und Tourismus sowie der weit überdurchschnittlichen Besetzung von Spitzenpositionen im Bankwesen und in der Industrie kann keineswegs von einer Entmachtung des Adels gesprochen werden.
Klagen, wonach die seit dem Nationalsozialismus aufgelöste Vereinigung katholischer Edelleute erst 2006 reaktiviert werden konnte, beziehen sich weitgehend auf repräsentative Agenden und zeugen vom sukzessiven Aufbau eines neuen öffentlichen Selbstbewusstseins. Auf Gemeindeebene ist der Einfluss einzelner Fürst*innen, Grafen und Gräfinnen kaum jemals geschwunden. Politische Heimat haben Nachkommen aus Adelsfamilien traditionellerweise in der ÖVP (Alexander Schallenberg), mittlerweile aber auch bei den Neos gefunden (Douglas Hoyos-Trauttmansdorff; vgl. Pink 2023). Vereinzelt waren und sind sie aber auch in den anderen Parteien aktiv, in der FPÖ (John und Johann Gudenus), aber auch in der SPÖ (Karl Freiherr von Lütgendorf, Theodor Kery, Caspar Einem …). Mit Van der Bellen ist letztlich ein adeliger Namenszweig (aus Holland stammend, in Russland geadelt, über Estland nach Österreich verschlagen) auch an die österreichische Staatsspitze gerückt.
III. Mythos Adel
Am Namen des amtierenden Bundespräsidenten lässt sich ablesen, dass dem ‚Adel‘, wie er sich im 19. Jahrhundert gegenüber dem Bürgertum und der sich emanzipierenden Arbeiterschaft als eine homogene Sphäre herausbildete, immer auch eine besondere kosmopolitische Prägung eigen war (die ‚blaue Internationale‘). Dies zeigt sich bspw. auch an den britischen Windsors, die wie schon das Haus Hannover auf eine deutsche Dynastie zurückgehen; oder am ersten König Griechenlands, dem bayrischen Wittelsbacher Otto. Dass der Adel aufgrund seines besonderen genealogischen Charakters ‚von oben‘ innenpolitisch befriedend wirken sollte, galt nun im besonderen Maße für den österreichischen Vielvölkerstaat, zu dem der Soziologie Georg Simmel 1907feststellte:
„Die grosse Bedeutung des Adels in Österreich und die erheblichen, ihm dort jederzeit eingeräumten Vorrechte hat man darauf zurückgeführt, dass in den ausserordentlich heterogenen und auseinanderstrebenden Bestandteilen der österreichischen Monarchie der Adel noch ein durchgehend gleichmässiges, qualitativ gemeinsames Element sei und damit dem Zusammenhalt des Ganzen erheblich nütze. Die gleiche formale Stellung des Adels in den verschiedensten Teilen dieses zusammengewürfelten Landes ermögliche es, dass es einen österreichischen Gesamtadel geben kann, auch wenn es keine österreichische Gesamtnation gebe. Die Einheit, die er in sich vermöge seiner immer gleichen soziologischen Position hat, disponiert ihn dazu, der Einheit des Ganzen als Kitt zu dienen.“ (Simmel 1993: 326)
So wundert es nicht, dass in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, gerade für die Identitätssuche einer fragilen deutsch-österreichischen Nation im Zentrum Europas, alternative Kulturmodelle des Adels entworfen wurden. Die Salzburger Festspiele sind bis heute kulturelles Zeugnis davon – als post-Habsburgische Bastion gegen den protestantisch-preußisch geprägten Norden und die militanten ‚Konservativen Revolutionäre‘ der Weimarer Republik. Ein anderes Beispiel sind die Bestrebungen des aus altem Adelsgeschlecht stammenden Richard Coudenhove-Kalergi um eine Paneuropa-Union. Die ersten Entwürfe aus den 1920er-Jahren stützten sich noch auf die Idee einer kulturellen Elite. Auch die Vorläufergedanken zur europäischen Einheit also waren an einem aristokratischen und politisch ‚von oben‘ her gedachten Modell ausgerichtet, in dem sich die Arbeiter- und Bauernschaft weiterhin unter obrigkeitlicher Vormundschaft, in alter ständischer Verbundenheit, aufgehoben fühlen sollten.
Wenig überraschend kam es auch im österreichischen Ständestaat zu einer Aufwertung des ersten Standes, der sich wieder vermehrt politisch engagierte (Ernst Rüdiger Starhemberg u. a. m., auch Kurt Schuschnigg entstammte einer geadelten Offiziersfamilie). Die Versuche einer erzkonservativen Restauration waren freilich zum Scheitern verurteilt. Ihr elitärer Überbau wurde – durchaus in Kollaboration mit zahlreichen (hoch)adeligen Vertreter*innen (vgl. Malinkowski 2003, 2021) – von der Ideologie des rassischen Übermenschentum hinweggefegt. Die dabei zu Macht beförderten skrupellosesten und mörderischsten Parvenüs erreichten das nach den Gräueln des Ersten Weltkriegs nicht mehr Vorstellbare: die endgültige Perversion des europäischen Zivilisationsprozesses.
Die Frage nach der Identität des aus dem Dritten Reich wiederaufgetauchten Österreichs wurde dann gerade um den Staatsvertrag mit maßgeblicher Unterstützung der Heimat- und Historienfilme beantwortet. Die Sissi-Trilogie (R: Ernst Marischka, 1955–1958) kann als imaginationspolitisches Paradigma dafür gelten, wie sich das offizielle Österreich neu als eine alte Kulturnation inszenierte. Die auf allen Feldern einsetzende Restauration hat der damals führende literarische Surrealist Andreas Okopenko folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„Ich gedieh in der Atmosphäre eines jungen Staates, die ich vor jeder Politik erlebte […]. Da plötzlich tauchten allüberall wie die Schwammerln literarische Rückbesinner auf ‚österreichische Eigenart‘, auf den Glanz von vorvorgestern aus dem Reisig. Die zwei K hiessen nicht mehr kalter Kaffee. Adel wurde wieder schick, Nostalgie zum Kopfweh der nächsten dreissig Jahre, Causerie ersetzte die Kaustik, jedem Künstler sein Schlössel, klang das ungedruckte Manifest. Österreich wurde, rechtzeitig zum Staatsvertrag, rasch erstmal alt.“ (Okopenko 2000: 305–308)
Die Kunst- und Kulturgeschichte der Folgejahrzehnte blieb im Innersten von dieser Reaktion geprägt, allen progressiven Ansätzen zum Trotz, die sich wohl gerade aufgrund der enormen Spannungen zwischen Altem und Neuem zu höchsten international anerkannten Leistungen aufschwingen konnten. Umso merkbarer wird die große Lücke, wenn die Kräfte nachlassen, die diese Spannungen politisch, intellektuell und künstlerisch sublimiert haben. Bei einer erneuten Ballung illiberaler Mächte droht Österreich seine Identität vermehrt aus einer mythischen Vergangenheit zu beziehen, was nur umso deutlicher zeigt, dass es sich niemals vollständig von seinen elitären Vorprägungen emanzipieren konnte.
IV. Reimperialisierung von Ost und West
Im Interview mit der rechten ungarischen Nachrichtenplattform Alfahír bemerkte das Aushängeschild der neoimperialen russischen Reaktion Alexander Dugin 2015:
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ära der Nationalstaaten vorbei ist. Es gibt weit mehr Ethnien als Nationen, und daher sind nationale Grenzen immer ungerecht. Deshalb ist es wieder an der Zeit, Imperien zu schaffen. […]. Die Länder des ‚Cordon sanitaire‘ zwischen Europa und Eurasien müssen selbst eine gemeinsame territoriale Einheit schaffen, beispielsweise das Große Osteuropa, und dabei ihre doppelte Lage als teils eurasisches, teils europäisches Gebiet nutzen. Aber auch in diesem Fall sehe ich keinen Platz für nationale Bestrebungen. Wenn beispielsweise Ungarn, Rumänien, Serbien, die Slowakei und vielleicht auch das Gebiet Volhynien und Österreich zu einer Einheit würden, würde dies alle Ungarn zusammenführen, d. h. ethnisch würde alles wieder so sein wie vor Trianon.“ (Dugin 2015; Übers. aus dem Ungarischen durch deepl.com)
Der am 04. Juni 1920 geschlossene Vertrag von Trianon besiegelte, dass etwa zwei Drittel des ehemals der ungarischen Krone zugehörigen Territoriums den Nachbarstaaten zufielen. Dugin zufolge brauche es also geopolitisch eine Rückkehr in die Zeit vor den Ersten Weltkrieg und ein zentral- oder vielmehr südosteuropäisches Imperium als ausgleichenden Machtbereich zwischen West und Ost.
Eben diese politische Agenda verfolgt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seit gut fünfzehn Jahren, der offen ein Großungarn propagiert, das es in dieser Form niemals gegeben hat. Architektonisch findet dies derzeit Ausdruck im Umbau der Budapester Burg nach Plänen aus der k. u. k.-Zeit, der sämtliche Modernität aus dem Stadtbild tilgen soll (vgl. zum ‚Hauszmann-Projekt‘ Novotny 2005). Auf allen Ebenen geht es um die Auslöschung sämtlicher liberaler Errungenschaften der letzten hundert Jahren. Für Österreich, dem ganz offensichtlich keinerlei geopolitische Bedeutung mehr zugemessen wird,besonders bedenklich in der Sache: die tatkräftige Unterstützung von Nachfahren des Hauses Habsburg (vgl. Raidl/Schmid 2025). Die monarchistische Nostalgie hat sich mittlerweile unumwunden in rechtsextreme Nachbarschaft begeben (etwa rund um den ‚Ferdinandihof‘, vgl. Lorenz/Schmid 2024).
Die neoimperialen Ambitionen von Osten treffen nun auf jene von Westen, vertreten etwa durch einen ehemaligen österreichischen Bundeskanzler, der die Agenden der MAGA-Bewegung offen lobbyiert. Die Privatdoktrin von Peter Thiel und anderen greift dabei auf die tiefsten reaktionären Diskurse der Weimarer Republik zurück und erweckt auch endzeitliche Motive zu neuem Leben. Im Kern treffen hier Ost und West in den rückschrittlichsten, geistes- und sozialwissenschaftlich unhaltbarsten Weisen zusammen, im Versuch, eine Epoche des puren Elitarismus zu initiieren – begleitet von Einpeitschungen in ein neues Mythen- und Heroentum (wie von ‚Kriegsminister‘ Pete Hegseth Anfang Oktober 2025 vor höchsten Militärvertreter*innen). Das erschreckende daran: Sofern die Interessen von Wirtschaft und Industrie nicht angetastet werden, scheint sich kein Widerstand gegen diese Tendenzen zu regen, im Gegenteil. Es bleibt erneut an der Zivilgesellschaft hängen, die von privater Seite massiv finanzierte und mittels Plattformen nun auch getragene Propaganda aufzudecken und demokratische Perspektiven zu erhalten.
V. Ausblick: demokratische Deduktionsgrundlagen
Zentral- und Südosteuropa sind deshalb ein so faszinierendes Untersuchungsgebiet für ‚post×feudale‘ Phänomene, weil hier bereits vor hundert Jahren tatsächlich der Untergang eines Großreiches stattfand und zukunftsweisende Alternativen nicht nur meisterhaft durchdacht, sondern angegangen wurden.
Zwei Beispiele aus der Literatur sollen dies abschließend zeigen: Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930ff.), in dem ausgehend vom ehemaligen Zentrum der Doppelmonarchie die Identitäts- und Genderdebatte bereits vor hundert Jahren auf die angemessenste Weise behandelt wurde: verbunden mit der Frage nach dem möglichen Gestaltungsraum in Nachfolge der imperialen und feudal-aristokratischen Denkformen und militanten Haltungen. „Der Fehler der Demokratie war das Fehlen jeder Deduktionsgrundlage; sie war eine Induktion, die nicht der gründenden Geisteshaltung entsprach“ (Musil 1978: 1860): Nicht die Demokratie erweist sich als das Manko, sondern das unzureichende Grundverständnis dessen, was sie für die Freiheit jeder und jedes Einzelnen bedeutet.
Nicht vom Zentrum, sondern von der Peripherie ausgehend bemerkt Franz Kafka in dem kurzen Text Zur Frage der Gesetze (1920), dass die Bevölkerung die jahrtausendealten Gesetze des Adels tatsächlich niemals abgelegt hat. Hatte Simmel behauptet, dass sie den ‚Kitt‘ für die Habsburger-Monarchie darstellten, stellt Kafka fest: Es werde einmal eine Zeit kommen,
„wo die Tradition und ihre Forschung gewissermaßen aufatmend den Schlußpunkt macht, alles klar geworden ist, das Gesetz nur dem Volk gehört und der Adel verschwindet. Das wird nicht etwa mit Haß gegen den Adel gesagt, durchaus nicht und von niemandem. Eher hassen wir uns selbst, weil wir noch nicht des Gesetzes gewürdigt werden können.“ (Kafka 1992: 273)
Über Forschung (Aufklärung) könne es irgendwann möglich werden, sich ohne elitäre Klammer, ohne Burgen und Schlösser, Parvenüs und Kriegshelden in den spezifischen kulturellen Traditionen zu verstehen und eine angemessene politische Sozialform zu finden.
Was also angesichts des widererstarkten Selbstbewusstseins öffentlicher ‚Dummheit‘ (Musil 2024) zu tun bleibt? Die bedeutendsten kulturellen Ressourcen zu reaktivieren, weiterhin an einer von Adel und Mythos befreiten österreichischen und zentraleuropäischen Geschichte zu arbeiten und für eine ZUKUNFT der unterschiedlichen Kulturen, progressiven Ausdrucksformen und humanistischen Werte im Namen einer liberalen und sozialen Demokratie einzutreten.
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Diser Essay entstand im Rahmen eines Projektvorhabens zur Aufarbeitung des Nachlebens feudal-aristokratischer Formen und Haltungen in demokratischen Gesellschaften. Die Forschung daran wurde unterstützt durch den österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung(FWF, Grant-DOI: 10.55776/J4728).
Literatur
Dugin, Alexander (2015): „Birodalom épül a Nyugattal szemben“/„Ein Imperium gegen den Westen entsteht“, Interview, in: Alfahir.hu (27.01.2015), online unter: https://alfahir.hu/hirek/alekszandr_dugin_oroszorszag_oroszukran_konfliktus_jobbik_vona_gabor (letzter Zugriff: 10.10.2025).
Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kafka, Franz (1992): Zur Frage der Gesetze, in: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer, 270–273.
Korom, Philipp/Dronkers, Jaap (2008): Nobles among the Austrian Economic Elite in the Early Twenty-First Century, in: Kuiper, Yme/Bijleveld, Nikolaj/Dronkers, Jaap (Hg.): Nobilities in Europe in the Twentieth Century. Reconversion Strategies, Memory Culture and Elite Formation. Leuven u. a.: Peters, 281–304.
Lorenz, Laurin/Schmid, Fabian (2024): Im Schatten des Ferdinandihofs: Wie eine Wiener Eventlocation zum Hort der Rechten wurde, in: Standard online (18.12.2024), online unter: www.derstandard.at/story/3000000249771/im-schatten-des-ferdinandihofs-wie-eine-wiener-eventlocation-zum-hort-der-rechten-wurde (letzter Zugriff: 10.10.2025).
Malinowski, Stephan (2003): Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin: Akademie.
Malinowski, Stephan (2021): Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration, Berlin: Propyläen.
Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Musil, Robert (2024): Über die Dummheit, Salzburg/Wien: Jung und Jung.
Okopenko, Andreas (2000): Klage um den Vormai, in: Gesammelte Aufsätze und andere Meinungsausbrüche aus fünf Jahrzehnten, Bd. 1, Klagenfurt/Wien: Ritter, 305–309.
Novotny, Maik (2025): Beim Umbau der Budapester Burg verschwindet die Moderne aus dem Stadtbild, in: Standard online (09.08.2025), online unter: www.derstandard.at/story/3000000282754/beim-umbau-der-budapester-burg-verschwindet-die-moderne-aus-dem-stadtbild (letzter Zugriff: 10.10.2025).
Pink, Oliver (2023): Adel in der Politik: Von Schallenberg bis Hoyos, in: Die Presse (26.03.2023), online unter: www.diepresse.com/6267919/adel-in-der-politik-von-schallenberg-bis-hoyos (letzter Zugriff: 10.10.2025).
Raidl, Melanie/Schmid, Fabian (2025): Wie die Habsburger und Viktor Orbán eine politische Symbiose bilden, in: Standard online (10.08.2025), online unter: www.derstandard.at/story/3000000282327/wie-die-habsburger-und-viktor-orban-eine-politische-symbiose-bilden (letzter Zugriff: 10.10.2025).
Simmel, Georg (1993): Zur Soziologie des Adels. Fragment aus einer Formenlehre der Gesellschaft, in: Aufsätze und Abhandlungen, 1901–1908, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 324–334.
Snyder, Timothy (2023): „Natürlich können wir Putin demütigen“. Interview, in: Standard online (14.07.2023), online unter: www.derstandard.at/story/3000000178768/timothy-snyder-natuerlich-koennen-wir-putin-demuetigen (letzter Zugriff: 10.10.2025).
CHRISTIAN ZOLLES
ist Kulturhistoriker und Hochschul-/Lehrer. Er lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/
Der Essay entstand im Rahmen eines Projektvorhabens zur Aufarbeitung des Nachlebens feudal-aristokratischer Formen und Haltungen in demokratischen Gesellschaften. Die Forschung daran wurde unterstützt durch den österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF, Grant-DOI: 10.55776/J4728).
