Von den fatalen Konsequenzen, wenn sich alte Freunde zu einer Geburtstagsfeier in einer Hütte einfinden.
Eine Erzählung von ROLAND GROHS
Serpentinen, ohne Ende. Paul driftet in die Kurven. Ich kauere am Beifahrersitz und fürchte, jeden Moment zu kotzen. Josef, Lukas und Richard sind auch dabei. Drei Kommilitonen aus der Stadt. Sie hängen im Rückspiegel wie schlaffe Sonnenblumen. Berge kennen sie nicht. Bestenfalls Hügel. Der holprige Schotterweg irritiert sie, doch die Aussicht lässt sie strahlen.
Ich darf nicht kotzen. Nicht in Pauls SUV. Er ist mein ältester Freund. Schon in der Volksschule sind wir nebeneinandergesessen. Seine Schwester räkelt sich auf der Hinterbank. Ganz links, im Eck des Rückspiegels. Diesmal habe ich sie auch eingeladen. Daran war nichts Seltsames. Sie ist fast so alt wie wir, und ich kenne sie schon lange.
Der Wagen schleppt sich durch den Schlamm. Die Reifen schleudern den Dreck in alle Richtungen. Zeichnen ein graues Spinnennetz auf die Windschutzscheibe. Je höher wir hinaufgelangen, desto unwegsamer wird es. Die Hütte ist schon zu sehen. Dahinter der Gipfel und der gescheckte Himmel. Der Bergkamm zieht sich von Ost nach West. Hinter uns eine verblichene Zivilisation.
„Gibt’s dort Strom?“, möchte Richard wissen.
Ich beuge mich über die Lehne nach hinten.
„Sicher. Meine Eltern haben schon vor Jahren mehrere Solarpanele installiert.“
Sandra lächelt.
„Mit Kerzen wäre es bestimmt abenteuerlicher.“
Paul schüttelt den Kopf. Seine Augenbrauen bilden eine strenge Linie.
„Mit dem verrückten Haufen ist man besser nicht allein im Dunkeln.“
Das kleine Anwesen liegt knapp unter der Baumgrenze. Ein paar Zirben stehen um das Häuschen wie eine spärliche Palisade. Ein Holzzaun begrenzt das trapezförmige Wiesenstück. Paul hält an. Ich springe hinaus, öffne das klapprige Holztor, schließe es und folge dem brummenden Geländewagen bis vor den Eingang.
Das Geburtstagswochenende auf der Almhütte ist Tradition. Paul war immer dabei. Ohne Ausnahme. Josef und Lukas kommen zum zweiten Mal. Die anderen sind Frischlinge.
„Ich werfe den Ofen an“, sagt Paul und hetzt durch die Tür.
Ich konturiere mein Haar nervös mit der rechten Hand.
„Sandra, Richard – Lust auf eine Führung?“
„Unbedingt!“ Sandra drängt nach vorne.
Richard nickt reserviert. Wir steigen über den ausgefransten Teppich. Die Muster sehen aus wie gierige Fratzen. Jedes Mal fällt mir das auf, aber niemand wechselt das Ding aus.
„Dort ist Platz für die Schlafsäcke“, erkläre ich und deute in ein kleines Nebenzimmer. „Du kannst oben schlafen, Sandra. Da liegt eine frisch bezogene Matratze.“
„Aber wo schläfst du?“ Ihre großen Augen starren mich an. Blaue, denke ich. Vielleicht auch grüne.
Ich stocke. Mein Blick hält nicht stand.
„Also …“
Paul huscht mit einem leeren Holzkorb an uns vorbei.
„Saukalt hier oben“, murmelt er und hüpft über die Schwelle ins Freie.
Ich sehe ihm nach. Zwei, drei Schritte, dann komme ich wieder zu mir.
„Ähm, ich schlafe bei den anderen. Oder neben dem Ofen.“
Im Wohnzimmer öffne ich die Fensterläden. Dort stehen eine gepolsterte Eckbank und ein massiver Holztisch. Alles wirkt eng und gedrückt. Vermutlich wegen der dunklen Vertäfelung. Eine schmale Küchennische befindet sich gleich nebenan.
„Wo ist die Toilette?“, will Richard wissen.
„Am Gang. Die erste Tür rechts. Die andere führt hinunter in den Keller. Da gibt’s aber nur den Wassertank und einiges an Werkzeug.“
Josef und Lukas verschwinden mit ihren Schlafsäcken im Nebenzimmer. Paul entfacht das Feuer im Ofen.
„Schön ist es hier“, bemerkt Sandra.
„Freut mich, dass es dir gefällt.“
Wie ein hawaiianischer Surfer streiche ich mir durch den braunen Haarschopf.
„Gestern hat es geregnet“, sagt Sandra.
„Ach so?“
„Wir könnten Pilze sammeln – für ein richtiges Schwammerlgulasch. Hier gibt’s bestimmt viele, oder? Ist ja kein Mensch da, um sie einem wegzuschnappen.“
„Ja, viele“, antworte ich.
„Kommt ihr mit?“, fragt Sandra, als alle versammelt im Zimmer stehen.
Richard möchte sich erst akklimatisieren. Lukas und Josef sind auch nicht sonderlich motiviert.
„Ich befülle erstmal den Kühlschrank“, erklärt Paul und schlenkert zum Wagen.
Kurz ist es still. Hier oben ist es meistens still. Besonders allein.
„Dann eben nur wir zwei“, verkündet Sandra entschlossen.
„Nur wir zwei“, wiederhole ich.
Draußen ziehen die Vögel von Wipfel zu Wipfel. Fristen ihr Dasein in stumpfer Endlichkeit. Ein Perpetuum mobile, das sich im Raunen der Zeit abwetzt und im schleifenden Gegenwind zugrunde geht, irgendwann. Die Sonne ist kalt. Wir steigen ein Stück den Berg hinab und tauchen in einen dichten Fichtenwald. Harz und Rinde, gesprenkelte Schatten. Ich mag den Geruch. Sandra gleitet geschmeidig durch die Äste, tapst über die knisternden Nadeln. Sie ist sehr sportlich – Tennisspielerin. Ich komme kaum hinterher. Ihre kurzen, offenen Haare taumeln im Wind.
„Kennst du dich mit Pilzen aus?“, fragt sie.
Ich zögere.
„Schon, ein wenig.“
Ein Bach schlängelt sich durch den diesigen Wald. Er rauscht vor sich hin. Wir begleiten ihn ein Stück, lauschen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sandra streift durch die Farne und quert den Strom. Ich folge ihr stumm.
„Du studierst doch Philosophie?“, erkundigt sie sich nach einer Weile.
„Genau!“, sage ich eifrig.
„Und was macht man da so?“
„Naja, irgendwie alles und nichts. In einem Seminar beschäftige ich mich gerade mit Boethius, dem römischen Gelehrten.“
„Das ist ja cool! Was hat er entdeckt?“
„Er hat wichtige griechische Schriften ins Lateinische übersetzt, zum Beispiel die Logik des Aristoteles. Außerdem war er einer der ranghöchsten Beamten unter Theoderich dem Großen. Der residierte damals in Ravenna, als Ostgotenkönig und weströmischer Herrscher.“
„Hört sich wirklich spannend an.“
„Ist es – aber auch traurig. Boethius hat sich mit einigen am Königshof zerstritten. Wahrscheinlich, weil er die dort herrschende Korruption angeprangert hat. Zum Beispiel den Postenschacher.“
»Was ist passiert?«, fragt Sandra und steigt über eine der Wurzeln. Sie winden sich über den Boden wie Schlangennester.
„Albinus war ein Freund und wichtiger Senator. Er wurde vor Theoderichs Kronrat zitiert. Dort hat man ihn wegen Hochverrats angeklagt. Möglicherweise, weil er mit Byzanz und dem oströmischen Kaiser sympathisierte.“
„Und – hat es gestimmt?“
„Schwer zu sagen. Wäre aus heutiger Sicht ja auch kein Kapitalverbrechen. Man hat wohl irgendwelche Briefe abgefangen. Jedenfalls setzte sich Boethius für ihn ein. Bald darauf wurde er ebenfalls angeklagt und unter Hausarrest gestellt.“
„Echt unfair!“
„Stimmt. Natürlich hatte Boethius einige Freunde. Sein Ziehvater Symmachus zählte zu den bedeutendsten Senatoren. Er hat sich vehement für die Freilassung seines Adoptivsohnes eingesetzt. Am Ende wurden alle drei hingerichtet.“
„Das ist ja eine furchtbare Geschichte.“
Ich nicke.
„In Gefangenschaft hat Boethius sein wichtigstes Werk geschrieben“, erzähle ich weiter. „Trost der Philosophie hat er sein Prosimetrum genannt. Die allegorisierte Philosophie tritt darin als Frauengestalt auf, um ihm selbst beizustehen. In fünf Abschnitten führt sie Boethius – also den literarischen Boethius meine ich – zu der Einsicht, dass er eigentlich nichts verloren hat, was tatsächlich von Wert ist. Nur vergängliche Güter, die Fortuna nach Belieben gibt und nimmt.“
„Ziemlich kompliziert“, bemerkt Sandra. Ihr Blick tastet über die kleinen Bäumchen zu unseren Füßen. Ich eile ihr hinter. Versuche, nichts niederzutrampeln.
„Ja, teilweise“, keuche ich. „Eine Stelle im fünften Abschnitt ist besonders absurd. Es geht darin um das göttliche Vorauswissen.“
„Was soll das sein?“
„Nun, Gott kennt sowohl Vergangenheit, Gegenwart als auch Zukunft. Er ist kein zeitliches Wesen. Sein Geist übersteigt solche Begriffe. Ihm erscheint der gesamte Weltlauf in einem einzigen Augenblick.“
„Und wo ist das Problem?“
„Der freie Wille …“
„Hmm?“ Sie bleibt stehen und sieht mich fragend an.
„Boethius glaubt, der Mensch besitzt einen freien Willen. Wenn aber alles vorherbestimmt ist, hat Moral keinen Sinn. Auch jedes Gebet ist dann zwecklos. Du musst wissen, dass Boethius ein christlicher Denker war. Er hat mehrere theologische Traktate verfasst.“
„Das versteh ich nicht.“
„Geht mir ähnlich“, sage ich verlegen. „Tja, wenn Gott die Zukunft kennt – also ein sogenanntes Vorauswissen besitzt – muss man doch annehmen, dass alles determiniert ist. Wie kann der Mensch frei sein, wenn die Zukunft feststeht?“
„Ach ja, daran hab’ ich nicht gedacht. Ziemlich unlogisch das Ganze.“
Vor uns wird es lichter. Nach ein paar Schritten treten wir auf eine Wiese hinaus. Auf der rechten Seite ist ein breiter Streifen abgezäunt. Kühe muhen und starren uns mit kauenden Mäulern an.
„Ich glaube, es liegt an der Art des göttlichen Geistes. Seine Denkweise hat nichts mit der unseren gemein. Er kann die Dinge sehen, die geschehen, ohne ihnen dadurch eine logische Notwendigkeit zu verleihen. Gott weiß, was geschehen wird, weil es geschehen wird – aber es geschieht nicht, weil er weiß, dass es geschehen wird.“
„Du bist klug“, sagt Sandra, während ihr Blick schweift. „Paul hat nie erzählt, wie klug du bist.“
Ich werde rot. Wie so oft weiß ich nicht, was ich sagen soll. Der Moment liegt mir nicht.
„Nach der Schule würde ich gerne Geschichte studieren“, verrät sie mir.
„Gute Idee. Geschichte hat mich auch immer interessiert.“
„Schau, dort drüben!“ Sandra zeigt auf den verlassenen Hochsitz eines Jägers.
Wir nähern uns. Das schlecht gezimmerte Baumhaus ist bereits morsch. Der Leiter ist nicht mehr zu trauen. Hüfthohe Fichten stehen zwischen ihren greisenhaften Ahnen, die den Himmel verdecken. Der Untergrund ist übersät mit Moos und Klee – weich und feucht.
„Da ist einer!“ ruft Sandra vergnügt.
Ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen: ein prächtiger Steinpilz. Sie zieht ihn behutsam aus der Erde, putzt den Stil mit einem kleinen Messer und steckt ihn in den Sack. Bald finden wir einen weiteren und ein gelbes Feld mit Eierschwammerl. Wir bücken uns und lesen sie auf. Eines nach dem anderen.
„Wir sollten langsam zurück“, sagt sie. „Die anderen haben bestimmt schon Hunger.“ Erst jetzt fällt mir auf, wie gut sie riecht. Wie sich ihr Duft deutlich gegen den herben Dunst des Waldes abhebt.
Ich wippe wortlos mit dem Kopf. Unsere Ausbeute ist nicht schlecht. Bestimmt zwei Kilo. Vielleicht mehr.
Auf dem Rückweg stolpern wir über einige Schwarzbeersträucher. Sandra nimmt eine der Beeren in den Mund. Kaut. Schluckt.
„Die sind gut“, kommentiert sie.
Ich sage nichts. Versuche, meine Gedanken zu ordnen.
Als wir die Hütte erreichen, sind Josef und Lukas bereits in heiterer Stimmung. Bierflaschen stehen überall verstreut.
„Stellt sie bitte in die Kisten zurück“, bitte ich die beiden.
Paul wirkt etwas missmutig. Er lehnt an der Hütte und beobachtet mich aus dem Augenwinkel. Dabei unterhält er sich mit Richard.
„Gleich gibt es was zu essen“, verspreche ich ihnen. Sandra sagt, sie hilft mir. In der Hütte ist es angenehm warm. Schon vom Gang höre ich das Knistern des Ofens.
„He, da geht es hinunter, oder? Ist das so ein gruseliger Folterkeller?“
„Nein, eher …“
„Komm, sehen wir’s uns an!“
Sie drückt die Tür auf und nimmt schwungvoll die ersten Stufen. Die alten Neonröhren tauchen den Keller in trübes Licht. Der Plastiktank steht neben dem schmalen Fensterschacht. In groben Holzregalen stapeln sich Schraubenzieher, Nägel und rostige Sägeblätter. Ich höre meinen Atem und die dumpfen Gespräche der Freunde, die durch das Fenster hereindringen. Sandra sieht sich in Ruhe um.
„Lust zu ficken?“ Kommen die Worte tatsächlich aus ihrem Mund? Sie blickt verstohlen zur Seite.
„I– Ich … Was?“
„Nur ein paar Bälle“, erklärt sie und deutet auf den Fußball in der Ecke. „Mir ist klar, dass ich nicht besonders gut bin. Aber vielleicht hast du morgen trotzdem kurz Zeit.“
„Kicken – auf jeden Fall. Gleich morgen.“
Wir kochen gemeinsam. Ich schneide die Eierschwammerl, die Steinpilze und zwei kleine Parasole. Sandra röstet die Zwiebeln und lässt sie mit Paprikapulver anschwitzen. Draußen spielen Paul und Richard Tischtennis. Josef und Lukas nageln ihre Dartscheibe an die Hütte. Das Pochen macht mich nervös.
Während das Essen köchelt, stelle ich fest, wie sich Sandras Körper über die Jahre verändert hat. Es ist irgendwie schleichend passiert. Im Hintergrund. Ich beobachte, wie sie den Topf umrührt, gleichmäßig und bedächtig. Vor der Hütte wird fleißig getrunken. Ich sollte nachkommen, mitmachen.
„Willst du einen Zirbenschnaps?“, frage ich stattdessen.
Sie wirkt schüchtern.
„Darf ich ja eigentlich noch nicht …“
„Nur einen kleinen. Der ist harmlos, keine Sorge. Vor allem süß.“
Ich hole zwei Stamperl aus dem Kasten und stelle sie auf die Anrichte. Dann greife ich nach den Untersetzern.
„Meine Eltern sind ziemlich pingelig“, erkläre ich ihr. Sie wollen keine Abdrücke auf dem Holz.
Einer der Pappuntersetzer gleitet mir aus den Fingern. Sandra bückt sich hinunter. Ihre Hose strafft sich. Ich starre auf ihren Hintern. Starre. Paul kommt eben zur Tür herein. Unsere Blicke kreuzen sich wie klirrende Schwerter.
Beklemmendes Schweigen.
„Wieso gibst du ihr hartes Zeug? Sie ist siebzehn, Tom!“
„Tut mir leid.“
„Ich seh mir mal das Dachzimmer an“, sagt Sandra und verschwindet im Gang.
Das Gulasch schmeckt bitter. Unförmige Stücke treiben darin. Sie sehen aus wie Schnecken. Nacktschnecken, die meine Mutter mit der Gartenschere zerschneidet. Genau in der Mitte. Die Gespräche tröpfeln dahin wie saurer Regen.
„Sind deine Eltern religiös?“, fragt Richard und deutet auf das Kreuz an der Wand.
„Eher nicht. Glaub, das Ding war schon vorher hier.“
Pauls Kiefer malt gleichmäßig. Er wirkt abwesend. Josef und Lukas haben keinen Hunger. Sie nuckeln zufrieden an ihren Bierflaschen.
Nach dem Gulasch gibt es eine Überraschung. Die Jungs haben diesmal an eine Torte gedacht. Bestimmt wegen Sandra. Sie ist der Typ, der an sowas denkt. Mädchen eben. Paul stellt die Torte mit funkelnden Kerzen auf den Tisch – Schwarzwälder Kirsch. Alle singen Happy Birthday. Ich blase die Kerzen aus.
Nachdem ich mein Stück aufgegessen habe, verkrampft sich mein Magen. Mir ist schwindlig. Ich frage mich, ob die Pilze in Ordnung waren. Richard verschwindet aufs Klo, als wollte er dieselbe Frage erörtern. Paul begibt sich mit Josef und Lukas vor die Tür zu einem kleinen Dartturnier. Dart mochte ich noch nie. Ich bleibe.
Sandra wäscht ab und ich helfe ihr dabei. Sie reicht mir die tropfenden Teller und ich trockne sie mit dem Geschirrtuch. Vor dem Fenster dämmert es bereits. Nach einer Weile erschallt Musik. Richards teure Bluetooth-Boxen dröhnen durch die Wände. Unverkennbar Josefs Techno-Scheiß.
„Hey!“ Pauls Hand liegt auf meiner Schulter. Ich zucke zusammen. „Können wir mal reden?“
Wir haben lange nicht geredet. Über nichts Wichtiges. Seit Jahren schon. Aber das ist normal. Immerhin sehen wir uns nicht mehr so oft. Jetzt, wo er arbeitet. Achtunddreißigeinhalb Stunden. Der Ernst des Lebens. Sein Gesicht ist rot. Es sieht merkwürdig aus.
„Sicher“, antworte ich, lege eine Gabel auf die Anrichte und trete aus der Küchennische hervor.
Ein klirrender Schrei.
Oder war es die Musik? Die laute Drecksmusik? Im nächsten Moment verstummen die Boxen. Lukas steckt den Kopf durch die Tür.
„Fuck!“, brüllt er. „Fuck! Fuck! Fuck!“
„Was ist denn los?“
„Josef steckt ein Pfeil im Kopf!“
Pauls Gesicht furcht sich. Seine Augen bekommen etwas Dunkles.
„Dämlicher Idiot! Ich hab ein Pflaster in meinem Rucksack. Tom! Besorg eine Schere, schnell!!“
Sandra ist völlig aufgelöst. Ihre Wangen kreidebleich. Ich gehe zu ihr, während Paul in den Schlafraum eilt. Lukas stürzt wieder nach draußen zu Josef.
„Ganz ruhig“, beschwichtige ich. „Ist bestimmt halb so schlimm.“
An einem Haken über der Anrichte hängt eine silberne Schere. Ich strecke den Arm ungeschickt danach aus. Merke, dass ich zittere. Ich erschrecke über mich selbst. Die Schere stürzt hinab. Geradewegs in den Spalt hinter dem Unterbaukühlschrank.
„Mist!“
Sandra ist dicht an meiner Seite. Ich spüre die Hitze ihres Körpers.
„Hilfst du mir?“, bitte ich sie. „Wir müssen ihn ein Stück von der Wand wegrücken.“
Sie packt mit an. Gemeinsam ziehen wir an der Kühlschrankkante. Der Boden knirscht und ein dunkler Riss tut sich auf. Ich presse mich gegen die Wand und suche mit dem Arm nach der Schere. Meine Finger stoßen auf Papier. Ich ziehe ein Heft hervor. Halte es in die Luft.
Schon drohe ich zu versinken. Ich spüre, wie sich mein Gesicht verfärbt. Während Sandra leise kichert, spiele ich in meinem Kopf die Möglichkeiten durch, wie ein Heft mit gespreizten Vaginas hinter die Rückwand des Kühlschrankes gelangt sein könnte. Sandra ist wieder ganz entspannt. Sie tastet mit den Augen neugierig über den Umschlag.
Paul schielt durch die Nebenzimmertür.
„Arschloch! Ich schlag dir den Schädel ein!“
Erschrocken sehe ich auf. Bin verwirrt.
Paul greift nach dem Schöpfer im Topf. Das Schwammerlgulasch spritzt quer über den Esstisch.
Ich bin erstarrt – für eine halbe Sekunde. Das Magazin gleitet aus meinen Fingern. Blitzartig weiche ich zurück und reiße den Schnitzelklopfer von seinem Haken. Ich fuchtle hilflos herum, wirble ihn durch die Luft.
Klack! Wie das Knacken einer Walnuss.
Sandra sackt vor Entsetzen zu Boden. Ein roter Faden rinnt aus Pauls Nase. Er sinkt auf die Knie.
„Das war das letzte Mal“, stöhnt er. „Das letzte Mal!“
Ich lege den Schnitzelklopfer auf die Anrichte. Dann verlasse ich die Hütte. Richard scheißt sich noch immer die Seele aus dem Leib. Josef und Lukas sitzen draußen in der Wiese. Ein gelber Dartpfeil steckt in Josefs Stirn. Trotzdem lächelt er.
Ich denke an Boethius, den Trostlosen, an den geknechteten Willen, und ich denke an Gott und sein blutiges Gemälde.
„Wo ist die Schere?“, ruft Lukas.
Ich zeige auf die Tür.
„Drinnen.“
Es ist kühl, windig. Nicht verweilen. Im Verharren kommen die Gedanken. Ich wanke auf das Tor zu. Irgendjemand spricht hinter mir. Aber die Worte werden mit jedem Schritt leiser. Verschwimmen. Immer weiter, Meter für Meter, gehe ich fort.
ROLAND GROHS
wurde 1993 in der Obersteiermark geboren. Im Winter 2021 erschien sein dystopischer Roman Golem, im Frühjahr 2022 sein Schelmenroman Joe baut ein Meer. Roland Grohs ist mehrfacher Judo-Landesmeister und Träger des 3. Dan.
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