Polaritäten im Äußeren VON CONSTANTIN WEINSTABL

CONSTANTIN WEINSTABL analysiert die Implikationen von global verstärkten Polaritäten, untersucht deren Ursachen sowie Narrative und analysiert die Überlappung und Wechselwirkung von innen- und außenpolitischem Handeln.

Innen und Außen

Nur eine geschickte Außenpolitik,
eine Politik bedeutender Unternehmungen,
ermöglicht eine fruchtbare Innenpolitik,
die letzten Endes immer von geringerem Tiefgang ist.

Ortega y Gasset 1996: 22

Die in dieser Ausgabe der ZUKUNFT diskutierten Polaritäten erstrecken sich zweifellos auch auf die Beziehungen von Staaten und supranationalen Einheiten untereinander und damit auf jegliches außenpolitische Handeln. Dies umso mehr, als Außenpolitik immer mehr innenpolitischen Zielen und Begehrlichkeiten untergeordnet und damit als eine Verlängerung der Innenpolitik gesehen und gehandhabt wird. Case in point wäre z. B. das Einspannen von Entwicklungszusammenarbeit (EZA) für innenpolitische Ziele der Fremden- und Migrationspolitik.

Solcherart tragen Akteur*innen interne Konflikte auch auf die außenpolitische Ebene. Dadurch wird deutlich, dass staatliche Gewalten durch internationale Verquickungen und Globalisierung sowie durch den nicht mehr vorhandenen Primat der Politik zu oft das Nachsehen haben gegenüber internationalen und/oder wirtschaftlichen Interessen. Mögliche Lösungsansätze werden zunehmend verkompliziert durch wirtschaftlich-technische und seit Beginn der COVID-19 Pandemie auch vermehrt medizinisch-biopolitische Schieflagen. Die Konkurrenz um Ressourcen nimmt sowohl zwischen den politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaften als auch innergesellschaftlich zu, da auch im Globalen Norden die Zahl der Globalisierungsverlierer steigt. Angestammte (internationale) Ordnungen und wahrgenommene Sicherheiten zerbrechen, ohne dass bereits Alternativen oder Nachfolgemodelle bereitstünden (vgl. Weinstabl 2021). Dies lässt weite Teile der Bevölkerungen irritiert und verärgert zurück, was in schwierigen Zeiten das Potenzial für tiefe Verwerfungen birgt.

Spalter! Spalter!

In diesem aufgeladenen Umfeld sehnen sich viele Menschen nach einfachen Narrativen, um komplexe Sachverhalte in einer Weise herunterzubrechen, die es ihnen erlaubt, ein Verständnis für globale Ereignisse zu entwickeln, die immer mehr auch Auswirkungen auf ihre unmittelbaren Lebensrealitäten haben. In Kenntnis dieses Sehnens und des Erfolges, der sich erzielen lässt, wenn man sich populistisch gibt, flacht das Niveau politischer Diskurse zusehends ab. Dabei ist ein Ende dieser Entwicklung noch nicht abzusehen. Wo klare Worte sowie umsichtiges und entschiedenes, manchmal auch unpopuläres, Handeln vonnöten wären, regieren stattdessen leere Phrasen und wird Verantwortung für unliebsame Entscheidungen nach unten abgeschoben oder man gibt „den Anderen“, den „von außen Kommenden“ die Schuld an unerwünschten Entwicklungen, während man sich für allzu oft nicht einmal selbst erbrachte Leistungen feiern lässt.

Statt dieses den Tribalismus begünstigende Biotop trockenzulegen, werden gesellschaftliche Auseinandersetzungen noch weiter von oben befeuert. Aufgrund der zuvor genannten Überlagerungen von Innen- und Außenpolitik hat dies auch Auswirkungen über die Grenzen der jeweiligen politischen Entitäten hinaus. Wahlergebnisse werden angezweifelt und der wütende Mob angestachelt, den US-Senat zu stürmen; Regierungen ziehen ungeniert die Unabhängigkeit der Justiz in Zweifel oder besetzen diese ihrem Belieben nach um; Unterrepräsentierte werden zu Sündenböcken abgestempelt, während man die schützende Hand über die eigentlich Schuldigen hält.

Mit einer denkbar niedrigen Schwelle, seine Meinung mit einem simplen Mausklick weltweit zu verbreiten, werden sämtliche Themen, die die haves und have-nots, die Bourgeoisie und das Proletariat, den Globalen Süden und Globalen Norden beschäftigen, anonym und öffentlichkeitswirksam breitgetreten. Dies gilt umso mehr, je existenzieller die Themen bzw. die Perzeption derselben durch die sich Äußernden ist. Konnte man bisher vor allem in der Migrationsthematik verfolgen, wie tief die Sonne der (Diskurs-)Kultur augenscheinlich steht, um mit Karl Kraus zu sprechen, so fördert seit nunmehr einem Jahr der „Meinungsaustausch“ zur COVID-19 Pandemie Ähnliches zutage und Verschwörungstheorien, Verteufelungen Andersdenkender sowie Beleidigungen direkt aus der untersten Schublade des Konversationsvokabulars reüssieren.

Inner Conflict ©Wikimedia Commons (author: Arafat Uddin)


Inner Conflict ©Wikimedia Commons (author: Arafat Uddin)The Land of Confusion

If living were a thing
that money could buy,
you know the rich would live
and the poor would die.

All my trials (Traditional)

Nun kann man sicher nicht schlüssig behaupten, dass die derzeitige COVID-19-Pandemie all die zusätzlich (zum Gesundheitsaspekt) verschärfenden politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen originär zu verantworten hat. Vielmehr zeigt die auch aus dem alles andere als souveränen Umgang vieler Entscheidungsträger*innen entstandene Krise auf, was schon seit Jahren und Jahrzehnten im Argen liegt: die auseinanderdriftende Wohlstands- und Einkommensschere mit steigenden Gewinnen für die Wenigen und sinkenden Mitteln für die Vielen; das Abladen der durch zunehmende Betreuungspflichten entstandenen Arbeit auf Frauen, was deren finanzielle Sicherheit und Einkommen weiter drückt; oder die Diskrepanz der Allokationen von COVID-Impfstoffen zwischen den Ländern des Globalen Nordens und denen des Globalen Südens.

Die allgemeine Frustration über die solcherart verstärkten Ungleichheiten sowie die Politik in der Bekämpfung der Pandemie sorgen momentan global für heftige Unruhen. Die stimmgewaltigsten Proponent*innen sind sicher im Lager derjenigen zu finden, die gegen die teilweise schweren Eingriffe in Grundrechte, die Ausgangsbeschränkungen oder den Zwang, Masken zu tragen, protestieren. Jedoch gibt es auch regen Widerstand unter jenen, denen solche Maßnahmen nicht weit genug gehen, die strengere Regeln fordern und sich vortrefflich über ihre Mitmenschen aufregen können, wenn ihnen diese maskenlos zu nahekommen – die Gegen-Wutbürger sozusagen.

In Summe polarisiert also dieses Thema wie zweifellos kein anderes im Moment unsere globale Gesellschaft und treibt Entscheidungsträger*innen vor sich her, da sich deutlich zeigt, wie verroht der politische Diskurs mittlerweile ist, wie sehr der Populismus greift, wie wenig Vertrauen den Entscheidungsträger*innen trotz – oder gar deswegen – von ihrem Elektorat entgegengebracht wird und wie locker die Kritik an den Herrschenden sitzt. Und die Kritik ist ja bekanntlich der Tod des Königs (Koselleck 2018: 97).

Weltbürger*innendispute

Am Beispiel von COVID-19 lässt sich auch sehr gut ablesen und plastisch zeigen, wie diese gleichzeitig intern und international diskutierten Themen zu globalen Polaritäten werden, wenn sich Entscheidungsträger*innen dazu aufschwingen, über die Grenzen ihres eigentlichen Machtbereiches hinaus Einfluss auf andere Entscheidungsträger*innen und Entitäten zu nehmen. Viele der Entscheidungsträger (da es sich bei den genannten Beispielen ausschließlich um Männer handelt), die seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 mittels populistischer Ankündigungen und Politiken an die Macht kamen, stehen nicht überraschend fest im Lager derjenigen, die die von COVID-19 ausgehende Gefahr herunterspiel(t)en. In diesem Zusammenhang überlappt sich die isolationistische, protektionistische, xenophobe und spalterische Law and Order-Politik der „starken Männer“ mit ihren Bestrebungen, sich ihre Narrative z. B. nicht von Expert*innen demolieren zu lassen.

So verglich der ehemalige US-Präsident Trump die Krankheit mehrfach mit der einer saisonalen Grippe bzw. ventilierte abstruse Ideen (u. a. Injektionen von Desinfektionsmittel oder Lichttherapie), um Erkrankte zu heilen. Seine Brüder im Geiste, die Bolsonaros, Johnsons und Orbans, taten es ihm größtenteils gleich und hetzten im besten Fall von einem unkoordinierten Shutdown in den nächsten, wenn sie die Existenz der Pandemie nicht ohnehin schlichtweg vollkommen leugneten. Im Gegensatz hierzu verlief die Pandemie bisher in Ländern, die von gemäßigten Entscheidungsträgerinnen (bei den genannten Beispielen handelt es sich ausschließlich um Frauen) weitaus weniger dramatisch. So legten und legen Jacinda Ardern oder Angela Merkel auch in der Pandemie die gleiche, eher ruhige und umsichtige sowie faktenbasierte Herangehensweise an den Tag, wie sie dies auch bei den der Pandemie vorausgehenden Herausforderungen taten.

Diese Entscheidungsträger*innen wirken auf dem internationalen Parkett wie Blitzableiter und Ikonen in Personalunion, indem sich in ihnen entweder die Verachtung derjenigen politischen Subjekte, die der eigenen Regierung loyal gegenüberstehen, oder die Bewunderung der mit den eigenen Herrschenden Unzufriedenen kristallisiert. Wenn sich die deutsche Bundeskanzlerin für ihren angeblich zu laschen und humanen Umgang mit seit 2015 nach Deutschland Geflüchteten rechtfertigt, so hat sie sich gegen Anwürfe sowohl ihrer innerstaatlichen Opposition von rechts als auch von osteuropäischen illiberalen Machthabern zu wehren, während Trumps Staatsbesuche in westeuropäischen Staaten zumeist von heftigen Protesten gekennzeichnet waren. Gegengleich wurde Trumps Vorgänger Obama im Ausland – in Abgrenzung von den jeweiligen inländischen populistische(re)n Machthaber*innen – zum säkularen Heiland verklärt und die getroffene Brexit-Entscheidung entfachte in vielen anderen Ländern der EU eine verhaltene Begeisterung für die Leave-Campaigners, die es der EU – im Gegensatz zur eigenen, feigen Regierung – „gezeigt hätten“. So werden nationale/supranationale Entscheidungsträger*innen zu Figuren in einem Spiel, das auf mehreren Ebenen gespielt wird.

Sapere et suffragium ferre aude!

Zurückgespiegelt in das Innere bedeutet dies, dass die Macht des Elektorats gleichzeitig grösser ist und schwerer wiegt, als zuvor angenommen. In Anlehnung an Horaz’ Worte und an deren Interpretation durch Kant im Sinne dessen, dass man den Mut haben solle, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (Kant 1999), sei ergänzt, dass man nicht nur selbst denken, sondern sich auch dementsprechend (politisch) einbringen und seine Stimme abgeben soll. Denn gerade die oben beschriebene Verquickung von Innen und Außen, die Implikationen, die nationale Wahlen und politische Entscheidungen auf dem internationalen Parkett haben, das Verschwimmen von Grenzen und die tiefen Gegensätze, die unsere Gesellschaften plagen, machen es notwendig, dagegen zu halten und die eigene demokratische Verantwortung auch außenpolitisch wahrzunehmen.

Es gibt keine Insel der Seligen mehr. Die Entscheidungen, die im Inneren getroffen werden, strahlen immer auch in das Äußere hinaus. Jede(r) Despot*in, der/die gewählt wird, ermutigt vielleicht in anderen Ecken der Welt jemanden mit einer ähnlichen Agenda, sich ebenfalls aufzuschwingen. Umgekehrt hat jede Person, die sich für vernunftbasierte Demokratie, internationale Solidarität und den Kampf gegen spaltenden Populismus einsetzt, das Potenzial, international Nachahmer*innen zu finden. Während rechtspopulistische Kräfte Außenpolitik zunehmend auf eine Verlängerung von Innenpolitik reduzieren, ist es für progressive Kräfte an der Zeit, Außenpolitik zu ver-inner-lichen und sie um ihrer selbst willen zu einem wesentlicheren Teil des innenpolitischen Diskurses aufzuwerten, im Wissen darum, durch eigenes Handeln anderen als gutes Beispiel vorangehen zu können.

Literatur

Kant, Immanuel (1999): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg Meiner, 20–27.

Koselleck, Reinhart (2018): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Berlin: Suhrkamp.

Ortega y Gasset, José (1996): Aufbau und Zerfall Spaniens, in: Ortega y Gasset, José: Gesammelte Werke. Band II, Augsburg: Bechtermünz Verlag.

Weinstabl, Constantin (2021): Zerfall der Internationalen Ordnung und Alter Allianzen, in: Müller, Bernhard/Weinstabl, Constantin (Hg.): Sozialdemokratische Außenpolitik. Historisches Selbstverständnis und aktuelle Ausblicke, Wien: Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H.

CONSTANTIN WEINSTABL hat an der Universität Wien und der Universiteit Leiden Rechtswissenschaften mit den Schwerpunkten Rechtsphilosophie und Völkerrecht sowie an der University of Hull Politikwissenschaften mit dem Fokus Strategy and International Security studiert. Er ist Mitglied der Redaktion der ZUKUNFT