„Man darf nicht vergessen, das Schöne umgibt uns.“  HEMMA PRAINSACK INTERVIEWT CHRISTOPH MAYR

Der mehrfach ausgezeichnete Fotograf, Autor und Regisseur CHRISTOPH MAYR spricht im Interview mit HEMMA PRAINSACK über die Präzisierung des Blickes in der Begegnung mit der Nacht, den Reiz der Irritation und den anhaltenden Kampf Licht gegen Dunkelheit. Für den Künstler hat jedes Wort Berechtigung, was dazu herausfordert, sich zurückzunehmen und auf die Einfachheit zu besinnen.

Lockdown Winter Nights #3 © Christoph Mayr (2021)

Hemma Prainsack: In Deiner vierteiligen Serie Lockdown Nights hast Du bei My Private Book of Plants u.a. auf den Fotografen Nick Knight und sein Buch Flora zurückgegriffen.

Christoph Mayr: Es kommt nichts von nichts, es hängt alles immer irgendwie zusammen. Es sind alte Themen, die von mir neu bearbeitet werden. Man steht immer in einer Tradition, das betrifft nicht nur die Kunst, sondern das ganze Leben. Ich glaube, es ist Allgemeinwissen, dass alles, was wir erleben, wie wir uns verhalten, unsere Neurosen und Störungen und auch die positiven Dinge, dass das immer über Generationen geht. Wenn ich etwas wissen will über mich oder eben auch über die Kunst, die man macht, dann muss man immer über möglichst viele Generationen vorgreifen. Das betrifft das ganze Leben, man ist kein Solitär, man steht in einer Tradition, ob man will oder nicht. Das betrifft alle Generationen, weil immer alles von den Generationen vor Dir mitschwingt. Und das, was direkt vor Dir war, schwingt meist stärker mit als das, was zehn Generationen vor Dir war. Aber es gibt auch Phänomene, dass gerade etwas, das etliche Generationen zurückliegt, dann bei einer Generation viel später herauskommt. Das betrifft psychotherapeutische Geschichten genauso wie Kunst. Wobei ich keine Unterscheidung treffe zwischen dem sogenannten normalen Leben und dem künstlerischen Schaffen, es ist absurd, solche Kategorisierungen zu schaffen. Alles was einem deinem Vorgänger passiert ist, betrifft dich – ob es verheimlicht wurde oder ausgesprochen –, das hat sowohl mit der Kultur zu tun, in der wir aufwachsen, als auch mit dem persönlichen Familienumfeld.  

H.P.: Welche Rolle hat Kunst in Deiner Familie gespielt?

C.M.: Ich komme aus einer Familie, wo eigentlich alle immer auf gewisse Weise Kunst gemacht haben, aber nicht professionell. Meine Mutter hat Aquarelle gemalt, mein Vater hat ein wahnsinniges Zeichentalent gehabt, hat dies aber nur bei besonderen Gelegenheiten ausgelebt. Das war anders in den 1970er und 80er-Jahren, da hat man etwa noch Faschingsfeste ausgerichtet, für die man Dekorationen und so gemacht hat. Es war eine ganz andere Zeit und wenn da Not am Mann war, hat er gemalt dafür und Lustiges, Karikaturen für Geburtstagsfeste usf. aus dem Ärmel geschüttelt. Mütterlicherseits war meine Großmutter ausgebildete Pianistin und mein Onkel, also der Bruder meiner Mutter, ist Jazzmusiker und Musikschuldirektor in Deutschland. Der zweite Bruder meiner Mutter singt und ist Antiquitätenhändler, also es kommt alles irgendwo zusammen. Fotografie selbst ist nicht konkret vorgekommen, aber ich mache auch nicht nur Fotografie. Mein Vater hat immer Bilder gesammelt, und in unserem Tiroler Haus hängen Gemälde jeder Art, das beeinflusst einen sicher. Und, dass man Wert darauf legt, dass überhaupt ein Bild an der Wand hängt, wie es hängt und dass es einen Wert darstellt.

H.P.: In Deiner Ausstellung hängen Fotografien und das Thema ist eigentlich das Licht –

C.M.: Das ist sehr allgemein gefasst, Fotografie zeichnet bekanntlich mit Licht. Man kann es aus mehreren Perspektiven betrachten. Was mir der wichtigste erste Ansatz ist: das Medium Fotografie zeichnet etwas aus, das man eigentlich meistens gar nicht mitdenkt und das Fotografie von anderen Kunstrichtungen unterscheidet – Du musst vor Ort sein, um das Foto zu machen, im Gegensatz zur Malerei. Viele Maler gehen vielleicht hin und machen eine Skizze und malen das Bild dann daheim im Studio. Literatur, ich kann mich daheim ins Zimmer setzen und beschreiben, was ich gesehen habe. Das geht bei Fotografie nicht, wenn ich von technischen Tricks wie Fernauslöser oder ähnlichem absehe. Prinzipiell musst Du vor Ort sein.

H.P.: Und Du brauchst einen technischen Apparat –

C.M.: Ja, allerdings ist der Idealzustand, dass der Fotoapparat ein Werkzeug ist, das bestenfalls nicht im Weg, nicht spürbar ist. Aber du musst eben da sein, du kannst nicht fotografieren, ohne das zu erleben, was du fotografierst. Du kannst es aus einer gewissen Distanz betrachten, aber Du musst immer dabei sein. Das musst du bei Literatur nicht, ich schreibe ja auch.

Lockdown Winter Nights #6 © Christoph Mayr (2021)

Und das Interessante ist – das führt mich zu dieser Serie, die Lockdown Nights heißt – diese hat begonnen mit dem Verlust der Bewegungsfreiheit, die man ja gewohnt war und die mir besonders wichtig war. Die letzte Ausstellung hier in der Galerie am Park etwa habe ich in Bangkok fotografiert, ich war früher viel verreist. Und dann hatten wir plötzlich die Situation, in der die Bewegungsfreiheit auf das nächste Umfeld beschränkt war. Und wenn ich jetzt denke, dass Fotografie nur das sein kann, was ich erlebe, wo ich vor Ort sein muss, hat es dazu geführt, dass alle Bilder, die hier entstanden sind, wirklich in unmittelbarer Umgebung meines Wohnortes – was total außergewöhnlich ist – passiert sind. Das heißt aber auch, dass man – man kann das interpretieren, wie man will – aus dem, was da ist, möglichst viel macht.

Das Thema Licht trifft am allermeisten auf die erste Serie Lockdown Spring Nights zu: Es war Frühling nach einem langen Winter und die ganze Familie hatte das Bedürfnis hinauszugehen an die frische Luft, was man im Frühling braucht, dass man das Blühen mitbekommt. Nur das war uns nicht möglich, beziehungsweise war man in der ersten Zeit des Lockdowns noch sehr vorsichtig. Man hat nicht gewusst, was darf man, was kann man sich trauen, also habe ich mit einem meiner Söhne beschlossen, dass wir in der Nacht hinausgehen, und wir haben in der Nacht den Frühling nachgeholt. Das war sehr spannend, man weiß, dass sich in der Nacht die Farben ändern, und es waren die Nächte selbst auch sehr interessant, sie waren so klar. Ich weiß nicht, ob das nur subjektiv so war, weil wir in dieser außergewöhnlichen Situation waren oder weil weniger Luftverschmutzung oder Flugverkehr war. Es waren ganz klare, helle Nächte. Und natürlich sind in der Nacht die Sinne anders geschärft wie am Tag, das heißt, ich spüre viel mehr, wenn ich durch eine Duftwolke gehe zum Beispiel. Oder ich sehe eben auch, das ist mir aufgefallen, ich sehe auch das Wiedererblühen sprichwörtlich in einem anderen Licht. Und genau darum ist es mir gegangen. Wir haben zwar die Finsternis sozusagen, aber sehen auch die Schönheit im Finsteren. Und das ist auch ein Grundthema von mir, dass man im Düsteren immer noch das Schöne findet. Das ist etwas Einfaches, aber das ist mir auch ein Grundanliegen.

H.P.: Ist Dir das heutzutage zu selten, dass man das Einfache, das Schöne sehen und wertschätzen kann?

C.M.: Ich weiß gar nicht, ob das in der heutigen Zeit anders ist, als es früher war. Was heute sicher verloren gegangen ist, ist die Liebe oder auch die Zeit fürs Detail. Das muss man sich anschauen – zum Beispiel Möbel in der Kulturgeschichte – natürlich, diese Möbel, die man heute ausgestellt sieht, haben sich nur die wenigsten leisten können. Aber diese Möbel waren mit einer derartigen Präzision und mit Liebe und Zeit hergestellt, wie es heute nicht mehr möglich ist und nicht mehr passiert. Und dadurch passiert eine gewisse Abflachung in der Wahrnehmung von Kleinigkeiten. Das ist, worum es mir auch geht und weshalb ich auch begonnen habe, diese aufblühenden Frühlingsbüsche und Gewächse und Bäume zu fotografieren – durch das Extremisieren, das Übertreiben von Farben und Kontrasten den Blick neu zu lenken. Das heißt, wenn ich einen Ast sehe, der zwar schön sein mag, dann ist das nicht ungewöhnlich und wird meist übersehen. Wenn ich den Ast aber fotografiere und die Äste blau mache und den Hintergrund gelb und das Bild dann noch in einer Galerie aufhänge, dann lenke ich den Blick auf das Wunder seiner Form. Und erhebe das natürliche Erscheinungsbild eines Astes zum Kunstwerk. Es ist natürlich immer eine Anmaßung auch dabei, zu behaupten, das ist jetzt ein Kunstwerk. Aber ohne Anmaßung gäbe es keine Kunst. Das schwingt immer mit, dass man sagt, das ist es jetzt.

H.P.: Frühling, Aufblühen und die Rückkehr des Lichtes spielt in Religionen eine große Rolle und birgt viele Interpretationsmöglichkeiten. fiat lux – von Neubeginn, dem ewigen Licht, Gott… Hierbei muss ich an Christoph Schlingensief denken, der den Gedanken geäußert hat, Gott wäre neidig auf die Sterblichkeit, die Endlichkeit der Menschen, während Gott selbst immerwährend und unendlich sein muss. Vielleicht verhält es sich ähnlich mit der Dunkelheit und dem Licht…

C.M.: Das ist ein interessanter Gedanke, ob ewiges Leben überhaupt anzustreben ist. Ich bin der Ansicht von Schlingensief, dass Unendlichkeit kein erstrebenswerter Zustand ist. Ewiges Leben bedeutet auch ewiges Leiden. Ich bin im Moment ein relativ unreligiöser Mensch. Das Einzige, was ich glaube, das stattfindet, der einzige Kampf ist nicht Gut gegen Böse, sondern ist Licht gegen Dunkelheit. Wenn ich mir das Universum ansehe, wo eigentlich kein Licht ist bzw. erst durch den Urknall das Licht entstanden ist und jedes schwarze Loch Licht schluckt, dann ist das der einzige universelle Kampf, der stattfindet, Licht gegen Dunkelheit. Daraus sind unendlich viele Geschichten, ganze Religionen gewachsen.

Es gibt einen Dialog der beiden Protagonisten in der HBO-Serie True Detective, von Nic Pizzolatto, der das, worauf es ankommt, sehr gut auf den Punkt bringt:

  • „Ich sag dir Marty, ich hab‘ da oben in dem Zimmer gelegen und jede Nacht aus dem Fenster gestarrt und gedacht, es gibt nur eine Geschichte. Die älteste.“
  • „Welche denn?“
  • „Licht gegen Dunkelheit“ […]
  • „Ich habe den Eindruck, dass die Dunkelheit viel mehr Raum einnimmt.“
  • „Ja, da hast du absolut recht. […] Weißt du, du siehst das falsch, die Sache mit den Sternen.“
  • „Inwiefern?“
  • „Früher gab es nur Dunkelheit. Wenn du mich fragst, gewinnt das Licht.“

Für mich die treffendste Definition von Lockdown Spring Nights: Das Licht gewinnt.

My Private Book of Plants #2 © Christoph Mayr (2021)

H.P.: „Und wo viel Licht ist, ist starker Schatten“, heißt es bei Goethe in Götz von Berlichingen. Bei der Fotografie bergen Schatten ganz neue Perspektiven.

C.M.: Natürlich, der Schatten macht immer den Kontrast, und der Kontrast ist nichts anderes, als dass ich durch das Dunkle das Helle erkennen kann. Je größer der Kontrast, je dunkler, desto deutlicher das Helle. Das ist sehr simpel heruntergebrochen. Das Simple, man findet mit zunehmendem Alter immer mehr zum Simplen zurück. Und das Simple ist nicht gleichzusetzen mit dem Primitiven. Das gute Einfache ist das viel Schwierigere. Die Einfachheit in der kurzen, kleinen Form, die die schwierigste und die höchste ist. In welcher Kunstgattung auch immer. Das Ausufern auch beim Schreiben ist immer das Leichtere – sich zurückzunehmen und einkochen auf die wichtigsten Sachen, das ist das Schwierigste.

H.P.: Was ist das Schwierige beim Schreiben, beim konkret werden?

C.M.: In ganz kurzen Sätzen das Wichtigste zu evozieren und konkret zu bleiben und stringent zu bleiben in den Gedanken. Ich kann gar nicht sagen, dass beim Schreiben nur eine einzige Sache schwierig ist, sondern es ist das Gesamtpaket beim Schreiben. Was für mich bei Sprache sehr wichtig ist, ist Rhythmus. Übrigens kann man das auch verallgemeinern, es kommt eigentlich überall auf den Rhythmus an.

H.P.: Die zweite Serie von Dir nennt sich Lockdown Winter Nights. In Deinen Texten zu den Lockdown Winter Nights sprichst Du von drastischen Farbverschiebungen und dass es in den Winternächten keine wirkliche Finsternis mehr gibt. 

C.M.: Es war damals der zweite Lockdown und wir haben gesagt, wir gehen wieder hinaus. Und es hat sich herauskristallisiert, dass es um etwas anderes ging auf einmal als in Lockdown Spring Nights. Zum einen hat die Frühlingsnacht eine ganz andere Opulenz, eine andere Strahlkraft als die Winternacht. Aber wider Erwarten ist die Winternacht nicht so abweisend und kalt, wie sie erscheint. Sie ist heller als die Frühlingsnacht, allein schon durch den Schnee, der am Boden liegt und reflektiert, dann die tief liegenden Wolken, die das Stadtlicht reflektieren. Man ist darauf eingestellt, dass es kalt sein wird, also ist man viel besser angezogen, man hat es wärmer in der Winternacht, bin ich draufgekommen. Für mich war das so, dass das Erwartete – die Finsternis, die Kargheit und die Dunkelheit – überhaupt nicht eingetroffen ist. Und auf einmal ging es in der Serie darum, was ist Erwartung und was ist Realität. Mit einer erlebten Kehrtwende ins Gegenteil von dem, was ich erwartetet habe. Und das habe ich zum Ausdruck gebracht, erstens mit Bildern, die ich ins Negativ umgekehrt habe, um so mit Erwartungshaltungen zu brechen. Indem ich eine kahle Baumkrone von unten fotografiere und ins Negative umkehre. Dabei geht es wieder darum, die Schönheit durch Irritation erkennbar zu machen, und diese Irritation soll keine Provokation sein, sondern ein Irritieren im Sinne des Öffnens. Die Irritation ist hier das Gegenteil einer Provokation, die den Zuschauer wegdrückt. In meiner Arbeit soll die Irritation den Zuschauer hineinholen. Und das Zweite ist, wenn ich in die Winternacht hinausgehe in die Kälte, die Finsternis, dann hat das etwas mit Angst zu tun. Es ging mir auch darum, zu sagen, dass die Angst verschwindet, wenn man sich ihr stellt. Das Thema ist eigentlich, ich gehe hinaus in die Winternacht und sehe, sie ist eigentlich freundlich und hell. Das ist das Thema der Lockdown Winter Nights.

H.P.: Der Winter ist auch etwas, das ein Ende markiert. Die Natur stirbt ab, das Jahr geht zu Ende, es geht zurück in die Dunkelheit, metaphorisch wird es oft mit dem Tod gleich gesetzt…

C.M.: Darum ging es mir eigentlich, dass das eben nicht eingetroffen ist. Dass es eigentlich ganz anders ist, wie man es sich erwarten würde. Das hat auch mit dem eingeschränkten Radius zu tun, dass man mit dem Wenigen, was da ist, etwas anfangen kann. Ich bin meine Radien immer schon gegangen, habe sie aber dadurch besser kennengelernt, habe sie präzisiert. Ich habe überall in meinem Umfeld durch meine Fotografien innere Markierungen gesetzt, das hat einen bleibenden Gewinn für mich gebracht.

H.P.: Ab wann war Dir bewusst, dass Du diese Eindrücke fotografieren willst oder war Dir von vornherein klar, dass Du diese Nächte im Lockdown fotografieren wirst?

C.M: Nein, das war nicht von vornherein klar. Das hat sich so ergeben – davon abgesehen, dass man als Fotograf immer fotografieren will und sich freut, wenn man etwas findet oder eine Idee hat – hat sich mir diese gespenstische Eleganz der Nacht, wie ich sie nenne, aufgedrängt. Das Licht selbst ist so wahnsinnig schön, die Straßenlaternen geben einen tollen Kontrast und wunderbares Licht und es geht immer auch um eine Schule des Schauens. Das Auge beginnt, präziser zu werden. Es ist immer schwieriger zu begeistern, aber der Blick wird präziser.

Man darf nicht vergessen, das Schöne umgibt uns. Ich behaupte gerne, die Welt ist nicht gerecht, die Welt ist grausam, die Welt ist vieles, aber vor allem ist sie eines, sie ist schön. Das ist mir ganz wichtig. Das zu verstärken, die Schönheit sichtbar zu machen, das ist das Grundthema dieser vier Serien.

Ich finde, simple Ideen sind ganz wichtig. Ich habe viele Drehbücher gelesen, es gibt tolle Drehbücher, auch für kommerziell erfolgreiche Spielfilme. Beinahe jedes gute Drehbuch lässt sich auf ein bis zwei Wörter reduzieren, die Essenz, worum es im Film geht. Wenn das funktioniert, dann funktioniert meist auch das Drehbuch. Vielleicht ist es wegen meiner Arbeit an Drehbüchern, dass ich immer versuche, meine Fotografie, meine Serien auf ganz einfache Themen zu reduzieren. Bei guten Drehbüchern hat man das Thema des Films oft in der ersten Viertelstunde im Dialog konkret ausgesprochen. Jedes einzelne Wort hat seine Berechtigung, und das ist, was das Schreiben schwierig macht. Weil die Wörter ihre Berechtigung haben müssen. Das macht das Mäandern so leicht und das präzise Schreiben so schwierig.

My Private Book of Stones #14 © Christoph Mayr (2022)

H.P.: Diese nächtlichen Spaziergänge hast Du Dir zur Gewohnheit gemacht. Um ganz „Gewöhnliches“ geht es in Deiner Serie My Private Book Of Stones, gewöhnlich im Sinne des Banalen. Im Gewohnten steckt das Wort wohnen, etwas gewohnt sein, innewohnen…

C.M.: Das Innewohnen trifft es mit den Steinen genau wie ich es meine, denn die Steine werden quasi nicht entdeckt, sondern vom Finder erfunden. Ein*e Steinesammler *in findet nicht nur den tollen Stein, sondern er erfindet das, was er in dem Stein sieht. Und das geht nur mit ganz banalen Dingen, die an und für sich „schwach“ sind von ihrer Strahlkraft her, denn dann sind sie offen für Interpretation.

H.P.: Das Steine sammeln hat etwas Zufälliges, man stolpert quasi darüber. „Nichts ist Zufall unter der Sonne“ heißt es in Emilia Galotti von Lessing. Heute, wo wir uns vom GPS lenken und von den sogenannten Recommendation Engines Vorschläge für unsere Sehgewohnheit liefern lassen, scheint es, als würde der Zufall abgeschafft werden.

C.M.: Stichwort Algorithmen, diese schlagen einem bekanntlich nur vor, was einem gefällt. Deshalb höre ich gerne Radio, weil ich mich hier überraschen lassen kann, etwas höre, von dem ich nichts weiß. Das ist ein Nachteil der auf Algorithmen basierenden Social Media. Bei den Steinen ist das Wichtige beim Sammeln für mich das Absichtslose, die absichtslose Suche. Das ist zwar ein Widerspruch in sich, trifft es aber. Man geht ziellos dahin und lässt den Blick schweifen. Und wenn ein Ast oder ein Stein einem ins Auge fällt, nimmt man ihn und steckt ihn ein oder eben nicht ein. Genau das macht es aus. Es geht nicht um die Suche nach sogenannten Edelsteinen oder Juwelen, auch nicht um Mineralogie. Es hat nichts mit einem beabsichtigten Ziel zu tun, das würde es zerstören. Genau um diese Offenheit geht es, und hier sind wir wieder bei den Algorithmen und den Search Engines, die uns genau das verwehren. Das ist ein Thema, das sehr aktuell ist und vieles betrifft in unserer Lebensumgebung.

In meiner Serie mit den Steinen schließt sich wieder der Kreis. Es hat angefangen mit der Suche nach dem Schönen in der Finsternis – den Lockdown Spring Nights – und endet mit der Suche nach dem Schönen im Banalen. Banal deswegen, weil Steine sammeln banal ist, jedes Kind macht das. Deshalb ist es so „wertlos“, und genau das macht es für mich so toll. Steine sind insofern so faszinierend, weil es kein richtig, kein falsch gibt, kein gut, kein schlecht. Es gibt nur den persönlichen Eindruck, einen persönlichen Anschein. Man sieht, so ist es und so bleibt es auch. Das ist wieder ein Gegensatz zu den Pflanzen: Pflanzen vergehen, verwelken, zerbrechen, werden aufgefressen. Steine bleiben, wie sie sind. Das macht sie zu so etwas besonderem und das Steine sammeln steht deshalb im starken Gegensatz zum Pflanzen sammeln.

H.P.: Steine sind nicht richtig und nicht falsch. Was heißt das eigentlich für die Kunst?

C.M: Ich habe Tonmeister studiert und seit ich klein war, Klavier gespielt. Ich würde nicht sagen, es gibt überhaupt kein „falsch“ in der Kunst. Ich finde diese Ansicht absurd, die man allenthalben besonders seit den 1970ern hört, dass es kein „falsch“ in der Kunst gäbe. Natürlich gibt es ein „falsch“, die Frage ist vielmehr, wer bestimmt, was falsch ist. Das ist viel wichtiger als die Frage, was falsch ist. Da sind wir dann bei Machtstrukturen. Falsch und richtig hat aber auch etwas mit Respekt zu tun. Wenn ich ein Musikwerk habe, das ein Komponist nachvollziehbarerweise so oder so aufgeschrieben hat, damit meine ich nicht John Cage oder Karlheinz Stockhausen, sondern nehmen wir Johannes Brahms, wenn er es nachvollziehbarerweise so notiert hat, dann habe ich das als interpretierender Künstler, als Pianist oder Musiker, so zu spielen. Selbstverständlich gibt es da „richtig“ und „falsch“.

Ich finde das ganz verkehrt zu behaupten, es gäbe keine Fehler in der Musik. Das stimmt nicht. Weil es hat mit dem Respekt dem Schaffenden gegenüber zu tun. Zu sagen, es gibt keine Fehler, ich spiele wie ich will, ist eine Missachtung des Komponisten. Allerdings bei Fragen zur Natur, bei einem Stein, was wäre falsch bei einem Stein? Hier gibt es überhaupt kein Kriterium. Es ist nur mir als Suchenden überlassen, diesen Stein als den Richtigen anzusehen.

H.P.: Die Steine und auch die Pflanzen hast Du nicht in deren natürlicher Umgebung fotografiert, sondern sie mitgenommen in eine künstliche Umgebung, im Studio abgelichtet.

C.M.: Meine Pflanzensammlung bestand aus alten Pflanzen, zu denen ich einige neu dazu geholt habe. Bei den Steinen habe ich nur alte verwendet, die ich bereits vor Jahren gesammelt habe. Das heißt, es hat eigentlich ein immer größerer Rückzug stattgefunden in diesen Bewegungen der vier Lockdown-Serien. Ich bin immer weniger hinausgegangen. Bei My Private Book of Stones habe ich nichts Neues mehr dazu finden müssen. Gleichzeitig sind die Bilder immer extremer geworden. Technisch ist das der komplizierteste Vorgang gewesen. Vom simplen Abfotografieren im Licht draußen bei den Lockdown Nights zu den extremen Veränderungen der Farben, bis zur nahezu Unkenntlichkeit der Steine.

H.P.: Wo hast Du Dir das technische Können angeeignet?

C.M.: Ich habe als Assistent u.a. von Elfie Semotan gearbeitet, war mit ihr zwischen Paris und New York unterwegs und bei dieser Arbeit habe ich sehr viel über den Umgang mit Licht und auch die Technik gelernt. Später als Dokumentarfilm-Kameramann habe ich mir die Fähigkeit angeeignet, aus wenig – bescheidenes Equipment, wenig Unterstützung, knappe Zeit – möglichst viel zu machen. Und um so etwas wie mit den Steinen umzusetzen, musste ich beim Fotografieren aufpassen, dass ich sie mit verschiedenfarbigem Licht beleuchte, mit Farbtemperaturen arbeite, damit das später am Computer funktioniert und damit ich weiß, wenn ich es nachbearbeite, so komme ich zu dem gewünschten Ergebnis. Wobei ich das nicht immer weiß, das ist nicht vorhersehbar, das entsteht in zig Versionen, bis die richtige da ist.

Der Kreis schließt sich, was mir so wichtig ist und ich hier wiederhole: durch seine Einfachheit schafft der Stein die Möglichkeit, das Besondere darin zu erfinden. Das heißt, er ist offen und das macht das Besondere aus. Deshalb kann kein einziger Mensch dieselben Fotos machen wie ich. Das sage ich gar nicht stolz – es liegt ja am Stein, es liegt nicht an mir.

Christoph Mayr © Christoph Mayr

H.P.: Steine haben eine metaphorische Bedeutung, Götter werden gestürzt durch deren versehentlichen Verzehr, Menschen versteinern…

C.M.: Es gibt viele tolle Bilder aus der Religions- und der Kunstgeschichte. Mir ist es sehr wichtig, bereits vorhandene Bilder nicht zu bedienen, sondern neue Narrative zu erfinden. Ich will nicht etwas nehmen, das es schon gibt. Deshalb liebe ich Peter Handke, weil er eine eigene Welt schafft, er übernimmt keine Bilder, die es schon gibt. Schlechter Journalismus macht nichts anderes, als nur Bilder zu übernehmen, es wird alles wiedergekäut. Deshalb sind die Steine auch so einzigartig, es geht darum, sich eine Welt zu schaffen, eine eigene Weltsicht, die der eigenen Persönlichkeit entspricht, dass man nicht tradierte Bilder fortsetzt. Und immer im Wissen, dass man dennoch in einer Tradition steht. Es geht mir nicht um das gewaltsame Brechen alter Traditionen, das ist jugendlich, dafür bin ich zu alt. Trotzdem ist mir wichtig, nicht tradierte Bilder wiederzukäuen.

H.P.: Also auch Dinge aus neuen Perspektiven zu betrachten, auch das Bestehende nicht alles in den Stein gemeißelt anzusehen, sondern zu hinterfragen und in eine ganz andere Richtung zu schauen.

C.M.: Neue Blicke erfassen, fotografisch interpretiert. Darauf bin ich stolz, ich schreibe „Es gibt nichts Beruhigenderes, als Steine zu sammeln“. Es ist beruhigend, weil sie so gleichförmig und unveränderbar sind. Und das ist ein kleines Beispiel für eine vielleicht neue Sichtweise, dass ich Steine beruhigend nenne. Es ist schwierig, sich von diesen genannten Metaphern, diesen tradierten Bildern zu lösen, frei zu werden.

H.P: Gibt es Kriterien, die ein Foto für Dich erfüllen muss?

C.M.: Ein Foto muss für mich zwei Hauptkriterien erfüllen: für mich muss ein Foto Atmosphäre und Überraschung beinhalten. Worauf ich schaue, ist die Atmosphäre und ich will ein überraschendes Momentum darin haben. Zum Beispiel bei der Bildhauerei ist das anders, hier ist für mich das wichtigste Kriterium, dass eine haptische Sehnsucht erweckt wird. Ich versuche immer, die Hauptkriterien herauszukristallisieren, was übrigens auch vom Drehbuchschreiben kommt. Wenn ich an Musik denke, dann ist für mich das Hauptkriterium das erhebende Energetisieren. Oder beim Film geht es mir um Emotion, Pathos, fast schon tränenreich, um Mitgefühl, solche Dinge. Und Fotografie ist für mich eben die Atmosphäre und Überraschung – nicht Humor, nicht Pathos, nicht Intellekt, das alles ist nicht Fotografie. Haptik sowieso nicht, auch nicht Erhabenheit, das alles ist in einer Fotografie nicht drin. Meine Fotografien sollen positive Überraschung sein für die Betrachter. Ein positiver, neuer Blick. Nämlich nicht das Schrecknis, nicht die Provokation, nicht das Gleichbleibende, sondern das Überraschende, das positiv, freudige Überraschende. Wenn jemand die Fotos der Steine-Serie sieht, soll man das Gefühl haben, dass man so etwas noch nie gesehen hat.

H.P.: Ist Fotografie, ist das Foto ein Augenblick?

C.M.: Das Foto passiert im Augenblick und es hält den Augenblick für die Ewigkeit fest. Ich weiß nicht, ob es immer ein außergewöhnlicher Augenblick ist. Ich weiß nur, was ein Foto nicht ist: es ist nicht die Wahrheit. Genauso wenig wie ein Gemälde oder ein Bild Wahrheit darstellt. Es ist ein Irrtum, zu glauben, nur weil man etwas Echtes fotografieren kann, ist es gleichzeitig auch die Wahrheit. Das greift zu kurz. Da spielen ganz viele Faktoren hinein. Was ist vor dem Foto passiert? Was nachher? Auch bei einem Portrait, Leute, die sagen, ich sehe ein Foto und interpretiere hier die Seele des Menschen im Gesicht, das ist ein esoterischer Gedanke.

H.P: Bei Deiner Serie My Private Book Of Plants hältst Du das Verwelken, das Fragile fest:

C.M.: Die Blumen, Pflanzen sind fragil, vergänglich und empfindlich. Und in jeder Pflanze steckt komischerweise eine Erinnerung. Ich weiß, wo ich sie gefunden habe, ich weiß, was da passiert ist, sprich, meine Pflanzensammlung hat einen nostalgischen Wert, im Gegensatz zu der Steinsammlung. Die Frage ist Warum? Ich glaube, das liegt daran, dass die Pflanzen vergehen und sich Pflanzen daher mehr für nostalgische Gefühle eignen.

H.P: Das ist naheliegend, es ist nur eine kurze Zeitspanne, die Du mit den Pflanzen verbringen kannst, Steine hast Du immer bei Dir. Pflanzen, Blumen per se sind mit Schönheit verbunden.

C.M.: Genauso bin ich gestrickt, dass ich im Finsteren, auch im Banalen das Schöne suche und im Schönen das Fehlerhafte, Mangelhafte. Das Interessante ist, ich rede über die Suche nach Schönheit. Jetzt habe ich die schönsten Pflanzen vor mir und nehme nur die, bei denen etwas kaputt, etwas gebrochen, ausgefranst ist. Das ist auch ein Bedürfnis.  

H.P: Warum gibt es dieses Bedürfnis? Warum suchst Du die Pflanze mit Mangel aus – weil sie dadurch individueller ist oder der Mangel in uns etwas auslösen soll?

C.M.: Nein, ich versuche nichts bewusst zu evozieren. Ich mache nie ein Kunstwerk, um eine bestimmte Reaktion beim Betrachter auszulösen. Deswegen betreibe ich auch keine Provokation, die nichts anderes will, als eine bestimmte Reaktion auszulösen. Bei einem Stein würden man nie sagen, er ist irgendwie kaputt. Da sagt man, er ist perfekt. Bei der Pflanze hingegen sagt man, bei der roten Monstera etwa, da sagt man, es ist ein Teil eingerissen. Aber ohne den Bruch hat es nicht den Reiz.

H.P.: Beim Spazierengehen sprichst Du vom ziellosen Herumgehen. Was ist das Ziellose für Dich in einer Welt, die aus Zielen besteht?

C.M.: Wenn ich hinausgehe, will ich kein Ziel. Es kann sein, dass ich zu einer Hütte will. Aber das Gehen hat dann für mich den meisten Wert, wenn ich ziellos dahin gehe und offen bin. Es geht eigentlich ums Offensein, um den offenen Blick, dass ich nicht genau den einen Edelstein suche, nicht genau diese eine Pflanze suche oder diesen einen Vogel sehen will, sondern offen gehe. Ich sammle dann nicht, denn das grenzt extrem ein, wenn ich nur das eine suche. Das ist absurd.

H.P.: Wie blickst Du in die Zukunft?

C.M.: Mit Gelassenheit und einer gewissen Vorfreude, aber auch mit der nötigen Aufmerksamkeit. Ich habe eine Familie zu begleiten, da muss man einen Fokus daraufsetzen. Und künstlerisch, woran es nicht mangelt, sind Ideen. Ich könnte das nie wie manche Künstler*innen, die immer dasselbe wiederholen. Es gibt sehr viele monothematische Künstler*innen, aber das liegt mir überhaupt nicht. Wenn ich diese Art zu fotografieren abgeschlossen habe, dann will ich nicht noch mehr damit probieren, es passt in die Zeit, in den Moment, es passt in den Ort, aber dann ist es fertig und ich beginne etwas ganz Neues.

H.P.: Wir dürfen uns mit Dir auf das Neue freuen. Danke Dir herzlich für dieses inspirierende Gespräch!

CHISTOPH MAYR

lebt und arbeitet im Süden Wiens. Aus Tirol stammend begann er mit 16 Jahren zu fotografieren. Ab sechs Jahren bekam er Klavierunterricht. Humanistisches Gymnasium, Matura, Studium der Musikwissenschaften in Innsbruck und Wien. Nach Abschluss des Lehrgangs für Tonmeister an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, arbeitete er als Texter und Songwriter bei ultraschall records, später als Assistent u.a. bei der Fotografin Elfie Semotan. Ab Ende der 1990er-Jahre bereiste er als Dokumentarfilm-Kameramann die Welt, begann Regie zu führen, schrieb Konzepte und Drehbücher für Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme. Als Fotograf erschienen zuletzt: Lockdown Nights, Frost – Bow to Hoyte van Hoytema, Winter’s Bones, Un jardin pendant la mousson

www.christophmayr.net

HEMMA PRAINSACK

ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. In ihrer Dissertation widmet sie sich dem Filmstar Harry Piel, dem Sensationsfilm und dem Motiv der Panik im Wandel zwischen Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein Institut für Kulturstudien. Davor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunks und bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video.

Editorische Notiz: Das Interview fand am 18.02.2022 im Rahmen der Ausstellung Lockdown Nights in der Galerie am Park statt.