Für HEMMA PRAINSACK sind die Schriften Heiner Müllers stets präsent und relevant. Angesichts des Ausnahmejahrs 2020 reflektiert sie mit Müllers Arbeiten die Auswirkungen der Pandemie auf Kultur und Bildung.
I. „Geschichte geht immer auf Umwegen“
Vor 25 Jahren starb Heiner Müller, der für mich wichtigste deutsche Dramatiker und Denker, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt und seiner Zeit weit voraus gedacht hat. Kaum ein Autor vermochte es, mit derartiger Genauigkeit (geschichtliche) Zusammenhänge in Zeit und Raum, die über die Spanne von Lebenszeiten hinaus wirken, in eine so präzise Sprachform zu bringen. Da gibt es nichts Zufälliges, das Durchdachte ist bei Müller zentral. Seit mehr als fünfzehn Jahren ist er mit seinen Schriften nicht nur ein Wegbeleiter, sondern vielmehr ein verlässlicher Wegweiser – insbesondere ist er das auch in einer Gegenwart, die zeitgleich Beschleunigung und Bremsung mit sich gebracht hat. Es ist, als würde die Geschichte die Interpretation und Aktualisierung von Müllers Arbeiten leisten. Auch anhand der eben erschienenen Publikation Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung (vgl. Strehlow 2021) kann man sich davon überzeugen.
Geleitet wurde Heiner Müller von einem Zwang, schreiben zu müssen, anschreiben zu müssen gegen die Wirklichkeit. Seine Stücke handeln von Herkunft und Klasse, Armut und Elend, Bevölkerungsexplosion, ökologischen Katastrophen und vom Kapitalismus, von welchem man zurzeit nur Verweigerung lernen könne. Er nimmt Anleihen bei antiken Mythen oder fragmentiert literarische Vorlagen, erzählt über das „Echo einer früheren Geschichte eine neue Geschichte“ (vgl. Kluge o. J.). Zwei Motive durchziehen sein Werk: menschliche Arbeit und die mythische Idee des Verrats, der überall lauert. Auch sie prägen sein Mitdenken der Vergangenheit als Grundbedingung für Sein und eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. In der Mühlheimer Rede 1979 merkt er dazu an: „Meine Hoffnung ist eine Welt, in der Stücke wie GERMANIA TOD IN BERLIN nicht mehr geschrieben werden können, weil die Wirklichkeit das Material dafür nicht mehr bereithält“ (Müller 2008a: 220).
II. „Bedeutung von Landschaft“
In seiner Arbeit interessiert sich Heiner Müller immer auch für den Gegenblick, also die andere, außereuropäische Perspektive. 1975 bereist er erstmals Amerika, es folgen mehrere längere Aufenthalte. Während seiner USA-Reisen machte Müller eine für ihn ganz wesentliche Grunderfahrung: Er entdeckte die Bedeutung von Landschaft und der räumlichen Dimension für sich. Im vergangenen Jahr ist Der amerikanische Leviathan. Ein Lexikon erschienen. Darin fasst Herausgeber Frank M. Raddatz die Müllerschen Stellungnahmen über Amerika zusammen und lässt dabei einen Gegenblick auf Europa sichtbar werden. (vgl. z. B. Müller 2020: 76) Seine Beobachtung wirken heute, nicht zuletzt angesichts des Sturms von Trump-Anhänger*innen auf das US-Kapitol in Washington D.C., seltsam aktuell. Wenn seine Gedanken und Überlegungen auch aus dem vergangenen Jahrhundert sind, so scheinen sich viele seiner Beobachtungen erst im Nachhinein zu erschließen. Auch zu diesem Punkt hat Müller eine überraschende Einsicht zu bieten: „Das Aktuelle ist nur eine Folge von Ereignissen, die vielleicht unbemerkt geblieben sind, aber viel entscheidender waren“ (Müller 2008b: 74).
Gefragt, ob sein ausgeübter Beruf mehr mit einem Propheten, Zeit- oder Landvermesser zu vergleichen wäre, antwortet Heiner Müller: „Ich würde, wenn ich ehrlich bin, sagen: Ich bin ein Landvermesser“ (vgl. Kluge o. J.). Zum Vermessen von Land gehört absolute Präzision und ein scharfes Messinstrument für die Aufzeichnungen. Müller hat beides, und darüber hinaus ein bemerkenswertes Bewusstsein für die Relationen und Zusammenhänge in dieser Welt, für Unterschiede und Widersprüche. Die Beziehung zwischen der räumlichen Herkunft und Klasse, Zukunft und Abhängigkeitsverhältnissen macht er zum Provokationsmaterial seiner Arbeit um damit Handlungsbedarf zu evozieren. Entsprechend heißt es in seinem Stück Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution: „Die Welt eine Heimat für Herren und Sklaven. Sklaven haben keine Heimat, Bürger Debuisson. Und solange es Herren und Sklaven gibt, sind wir aus unserem Auftrag nicht entlassen“ (Müller 2002: 35). Sich selbst hat Müller nicht entlassen aus seinem Zwang, über die Wirklichkeit zu berichten, sie zu verschriftlichen und öffentlich zu äußern. Als unerbittlicher und beständiger Widersacher des Kapitalismus und beinahe hoffnungsloser Mahner, auch angesichts Mangel an Schuldbewusstsein und Informationsflut, wirbt er für eine sozialistische Utopie, für Erfahrung und den Freiraum der Phantasie.
III. „Kultur kommt nur von den Verlierern“
Für Müller gibt es auf die Frage, warum es denn Theater brauche, nur die hypothetische Antwort, dass „ein Jahr lang – es muß aber ein Jahr sein – alle Theater der Welt zu schließen“ (Müller 2008b: 792) hätten, wobei die Mitarbeiter*innen weiterbezahlt würden. Nach genau einem Jahr könne man wieder aufsperren und feststellen, was gefehlt hat. Oder ob etwas gefehlt habe. Bald liegt ein ganzes Jahr hinter uns, in dem die Theater aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geschlossen halten mussten. Kultur, das Unmittelbare, das lustvolle Erleben, die gemeinsame Erfahrung und Erinnern ist als nicht systemrelevant eingestuft und an den äußersten Rand der Öffentlichkeit gedrängt worden, von dem aus man die anfangs zögerlichen Hilferufe nicht vernehmen wollte. Doch genau hier, dezentral am Rand, sieht Heiner Müller die potenzielle Wirkung, denn „Kultur kommt nur von den Verlierern und aus der Niederlage. Das produziert Kultur.“ (vgl. Kluge o. J.)
IV. Schluss: „Krieg der Viren“
Kultur bewirkt, indem sie das Publikum in einen unkontrollierten zeitlichen Raum ziehen und in eine Verlangsamung bringen kann, eine Störung gegen die Verfestigung der Politik. Für Müller ist der Künstler imstande, die Realität partiell aufzuheben, Theater ist Beteiligung. Es ist nicht wiederholbar, Substitution nicht möglich. Ein Theatererlebnis bedeutet das Spüren von Aura und Empfinden von Gleichzeitigkeit. Können wir die Frage nach diesem Jahr des Verlustes beantworten? Heiner Müller liefert selbst das Material für mögliche Antworten. 1995, ganz am Rande seines Lebens, schrieb er einen der letzten Szenenentwürfe für ein Stück mit dem Titel KRIEG DER VIREN: Im leeren Theater debattieren Autor und Regisseur, beide betrunken, wie ein Krieg der Viren beschreibbar, darstellbar sein könnte. „Gott ist vielleicht ein Virus / Der uns bewohnt“ folgert der Autor (vgl. Müller 2002: 308f). 25 Jahre nachdem Müller den Viren eine Bühne geschrieben hat, liegt eine ganz andere Bedeutungszuschreibung seines Textes über „Die grossen Krieger der Menschheit / Tropfen Tropfen / Auf den heissen Stein“ (vgl. Müller 2002: 308f) vor, überblendet mit aktuellen Erlebnissen. Diese Erfahrung der Verschiebung brauchen wir.
Literatur
Kluge, Alexander (o. J.): Heiner Müller über Rechtsfragen. Gespräch mit Alexander Kluge, online unter: https://kluge.library.cornell.edu/de/conversations/mueller/film/111/transcript
(letzter Zugriff: 09.01.2021).
Müller, Heiner (2002): Stücke 3. Werke 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Müller, Heiner (2008a): Schriften. Werke 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Müller, Heiner (2008b): Gespräche 3. Werke 12, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Müller, Heiner (2020): Der amerikanische Leviathan. Ein Lexikon. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Frank M. Raddatz, Berlin: Suhrkamp.
Strehlow, Falk (Hg.)(2021): Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung. Fragen an Heiner Müller, Berlin: Verlag Theater der Zeit.
HEMMA PREINSACK ist Theater- und Filmwissenschaftlerin. Nach langen Jahren am Burgtheater, bei den Salzburger Festspielen und dem ORF forscht sie derzeit zur Filmgeschichte im Umbruch zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus.