Teaser: GÜNTHER SANDNER fasst in seinem zeithistorischen Beitrag die Biografie und das politische Wirken Otto Neuraths zusammen, um damit eine maßgebliche intellektuelle Linie nachzuzeichnen, die zutiefst mit dem Roten Wien verbunden ist. Auch 100 Jahre später sind die Leistungen von Neurath und die Positionen des Austromarxismus – so etwa die Forderung nach einer „Vollsozialisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft – angesichts des neofeudalen Kapitalismus von beeindruckender Aktualität.
I. Zurück in Wien
Als Otto Neurath am 13. Februar 1920 aus München zurück nach Wien kam, stürzte er sich kopfüber ins Geschehen. Auf der Suche nach einer neuen beruflichen Perspektive, einer neuen Position, die es ihm ermöglichte, seine Vorstellungen und Projekte umzusetzen, entfaltete er schon in den ersten Monaten enorme Energien. Zunächst ohne Erfolg. „Der Arme muss immer in der argen Hitze herumrennen & obendrein noch ohne erfreuliche Ergebnisse“, schrieb seine Frau Olga im Sommer an das befreundete Ehepaar Franz und Hilde Roh in München.[1] Doch die Aktivitäten des groß gewachsenen, lauten und sprachlich gewandten Intellektuellen blieben nicht verborgen. „Etwas Kathederstreithengst“, aber mit einer „sprengenden Energie“, notierte etwa Robert Musil in sein Tagebuch.[2] Stand der Katheder wohl für das Dozierende, das Neurath als Wissenschaftler und Gelehrter repräsentierte, so verwies der Streithengst auf seine Lust am Disputieren und auch auf seinen unermüdlichen Drang, andere von seiner Position zu überzeugen – in Diskussionszirkeln, in wissenschaftlichen Zeitschriften und politischen Periodika, im Kaffeehaus, und, wenn es sein musste, auch auf der Straße.
Das nach der Republikgründung von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) aufgebaute Neue Wien wird vor allem mit den Politikfeldern Wohnbau und Siedlungswesen, Bildung und Erziehung, Gesundheit und Soziales assoziiert.[3] In all diesen Bereichen leistete die Stadt Wien eine an modernen, durchwegs als fortschrittlich anerkannten Prinzipien orientierte Aufbauarbeit, der auch internationale Anerkennung nicht versagt blieb. Das Bemerkenswerte an Otto Neurath ist, dass er – mit unterschiedlicher Intensität freilich – in all diesen Bereichen aktiv war. Vor allem aber revolutionierte er die politische Kommunikation und die mediale Vermittlung der damit verbundenen Politik. Mit einer eigens entwickelten Methode zur Visualisierung von sozialen und ökonomischen Zusammenhängen kommunizierte er nicht zuletzt die Leistungen und Errungenschaften des Wiener Kommunalsozialismus einem breiten nationalen wie auch internationalen Publikum.
Abbildung 1: Otto Neurath (rechts) zeigt Bürgermeister Karl Seitz das vom Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum herausgegebene Statistikwerk »Gesellschaft und Wirtschaft: bildstatistisches Elementarwerk«, ca. 1930 © Otto und Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading.
II. Sozialisierung und Gemeinwirtschaft
Akademisch betrachtet war der am 10. Dezember 1882 in Wien geborene Otto Neurath Wirtschaftshistoriker. In diesem Themenfeld hatte er zumindest im Jahr 1906 an der Berliner Universität promoviert. Nicht nur, aber vor allem als Ökonom trat er in den folgenden Jahren in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Er hatte aus seiner Kriegswirtschaftslehre, die er als „Sonderdisziplin“ der Politischen Ökonomie verstand, gegen Ende des Ersten Weltkriegs ein weitreichendes Modell der wirtschaftlichen Neuordnung entwickelt: „Vollsozialisierung“ lautete das Schlagwort.[4] Sozialisierung bedeutete für Neurath immer eine Umgestaltung der Gesamtwirtschaft, die Transformation der Verkehrs- in eine Verwaltungswirtschaft, basierend auf einem zentralen Wirtschaftsplan. Während er eine Teilsozialisierung im Gegensatz zu anderen Sozialisierungsverfechter*innen ablehnte, forderte er explizit einzelne Länder oder Staaten dazu auf, sofort mit der Sozialisierung zu beginnen.
Gemeinsam mit den beiden Publizisten Hermann Kranold und Wolfgang Schumann versuchte er im Februar 1919, die linke Regierung in Sachsen von der notwendigen Sozialisierung zu überzeugen (Neurath-Kranold-Schumann-Plan).[5] Parallel dazu wurde er auch in München aktiv. Ende März 1919 ernannte ihn die bayerische Regierung mehrheitlich, trotz der Bedenken einiger Minister und insbesondere des sozialdemokratischen Regierungschefs Johannes Hoffmann, zum Präsidenten des Zentralwirtschaftsamts. Dieses Amt sollte die bayerische Wirtschaft nach Neuraths Plänen sozialisieren. Genau zu diesem Zeitpunkt publizierte Neurath einen Artikel in der Wiener Arbeiter-Zeitung: „Sollten Sachsen, Bayern und Deutschösterreich die Vollsozialisierung auf der Grundlage des Verbandssystems in Angriff nehmen, dann wird wohl auch das Reich seine lahmen Teilverstaatlichungen einem sozialistischen Gesamtplan einfügen müssen, dann ist aber der Sozialismus in kurzer Zeit Wirklichkeit“, hieß es darin.[6] Aus diesen ambitionierten Vorstellungen wurde aber nichts. Weder in Sachsen noch in Österreich wurde seine Idee aufgegriffen, und auch in Bayern währte die Sozialisierungspolitik nur wenige Wochen. Noch im April 1919 folgten der Regierung Hoffmann zwei Räterepubliken – und Neurath blieb im Amt. Deswegen verurteilte ihn ein Standgericht nach der brutalen Niederschlagung des Räteexperiments im Juli 1919 wegen „Beihilfe zum Hochverrat“ zu eineinhalb Jahren Festungshaft. Nur die entschlossenen Interventionen von Staatskanzler Karl Renner und Außenminister Otto Bauer ermöglichten nach langem diplomatischem und politischem Tauziehen seine Rückkehr nach Wien.[7]
Im Frühsommer 1920 wurde er dort zum Generalsekretär eines Forschungsinstituts für Gemeinwirtschaft bestellt, dessen Aufgabe nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Unterstützung der österreichischen Sozialisierungskommission bestand. Das Thema Sozialisierung war zu diesem Zeitpunkt in Österreich allerdings auf niedrigem Niveau bereits beendet worden. Die Maßnahmen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Umwandlung der ehemaligen Heeresbetriebe in gemeinwirtschaftliche Anstalten.[8] Neurath aber focht weiter für seine Ideen. In der sozialdemokratischen Monatszeitschrift Der Kampf entgegnete ihm Helene Bauer im Jahr 1919, dass „nur noch komplette Narren jetzt schon das Verlangen nach einer planmäßigen Wirtschaft stellen können“[9] – und auch andere Sozialdemokrat*innen widersprachen seiner Idee einer sofort in Angriff zu nehmenden Vollsozialisierung. Otto Neurath blieb seinen Vorstellungen aber treu, auch wenn diese in der politischen Praxis schon bald keine Rolle mehr spielten.
III. Die Siedlerbewegung
Die Siedlerbewegung muss als Reaktion auf die durch den Krieg hervorgerufene Versorgungskrise und Wohnungsnot begriffen werden. Ursprünglich als Selbsthilfeorganisation ins Leben gerufen, existierte Anfang der 1920er-Jahre bereits ein Netzwerk aus Vereinen und Verbänden, und es war nicht zuletzt Neuraths Leistung, aus dieser recht heterogenen Bewegung eine politisch wirksame Organisation zu formen. Im Oktober 1921 erfolgte die von ihm vorbereitete Gründung des Österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen und kurz darauf der Siedlungs-, Wohnungs- und Baugilde. In beiden Organisationen arbeitete Neurath als Sekretär. „Ohne das organisatorische Talent Neuraths wäre die Siedlerverbands- und Gildenorganisation nicht so konsequent ausgebaut worden“, urteilte Klaus Novy in einem seiner Beiträge zur Siedlerbewegung.[10]
Die Sozialdemokratie erkannte die Siedlerbewegung zwar einerseits an und unterstützte sie, andererseits aber beschloss sie im Wiener Gemeinderat bereits im September 1923 ein Wohnbauprogramm, das vorwiegend auf mehrgeschoßige Großwohnanlagen bzw. Gemeindebauten setzte. Dadurch verlor die Siedlerbewegung sukzessive an Bedeutung. Betrug der Anteil von Wohnungen in Siedlungshäusern am von der Gemeinde Wien finanzierten Wohnbau im Jahr 1921 noch 55 %, sank er in den Folgejahren kontinuierlich bis auf nur noch vier Prozent im Jahr 1925.[11] Auch Neurath wendete sich nun anderen Arbeiten zu. Seine zahlreichen Beiträge zu Architekturfragen, sein Engagement in der Werkbundsiedlung oder seine Teilnahme am CIAM-Kongress (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) im Sommer 1933 zeigten allerdings, dass er dem Thema Bauen und Wohnen verbunden blieb.[12]
IV. Bildungsarbeit
Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr aus München unterrichtete Neurath in Wien und in der Tschechoslowakei in einem „Lehrerkurs für Betriebsräte“. Dies stand in unmittelbarer Verbindung mit seinen ökonomischen Arbeiten. Denn die „Erziehung zur Sozialisierung“ verlange „die Umgestaltung des ganzen Erziehungswesens“, schrieb er.[13] Sein Engagement in der Volksbildung hatte allerdings schon lange vor dem Ersten Weltkrieg begonnen. Seit dem Studienjahr 1907/08 war er bis kurz vor seiner Emigration 1934 kontinuierlich und zu den unterschiedlichsten Themenkreisen volksbildnerisch tätig – im Volksheim in Ottakring und in der Urania sowie in zahlreichen weiteren Volkshochschulen.[14]
Im Roten Wien wurde Otto Neurath auch zu einem der führenden Arbeiterbildner. Besonders seine Lehrtätigkeit in der Arbeiterhochschule – sie bildete gewissermaßen die Spitze des sozialdemokratischen Bildungswesens – ist dabei zu nennen. Karl Renner, Otto und Helene Bauer, Max Adler, Friedrich Adler, Julius Deutsch – die dort Lehrenden verkörperten „einen repräsentativen Querschnitt durch die geistige Führungsgruppe der SDAP“.[15] Obwohl Neurath keineswegs zur politischen Führungsgruppe der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gehörte, ja nicht einmal einer ihrer Funktionäre war, zählte er dennoch zu ihren wichtigsten Intellektuellen.
V. Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum
Aus einer Serie von Ausstellungen zu Siedlung und Städtebau auf dem Wiener Rathausplatz entstand gegen Ende des Jahres 1923 ein Museum für Siedlungs- und Städtebau, aus dem schließlich das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (GWM) hervorging – zweifellos eine der bedeutendsten von Otto Neurath gegründeten Institutionen. Nach der offiziellen Eröffnung 1925 mit nur bescheidenen räumlichen Kapazitäten ausgestattet, erweiterte sich dieses Sozialmuseum sukzessive an verschiedenen Orten.
Nachdem sich das GWM im Jahr 1926 beim Internationalen Wohnungs- und Städtebaukongress in Wien beteiligt hatte, wurde es 1927 von der Gemeinde Wien beauftragt, die Ausstellung Wien und die Wiener (1927) zu gestalten. Sie war im Mai und Juni des Jahres im Messepalast zu sehen. Im Dezember desselben Jahres wurde eine Dauerausstellung in der Volkshalle des Neuen Rathauses eröffnet. Mit dieser Ausstellung begann die Zusammenarbeit Neuraths mit dem Architekten Josef Frank, der für die Gestaltung der Ausstellungsräumlichkeiten verantwortlich war. Otto Leichter schrieb anlässlich der Eröffnung in der Arbeiter-Zeitung, dass keine andere Methode als jene Neuraths „das große soziale Werk der Gemeinde Wien klarer und einprägsamer vor Augen“ führen könnte.[16] Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war schließlich auf mehrere Standorte in Wien verteilt, an denen unterschiedliche thematische Schwerpunkte gesetzt wurden. Während in der Volkshalle vor allem die Mengenbilder und Fotos zu den Themen Weltwirtschaft, Arbeiterbewegung, Bevölkerung und Wien zu sehen waren, zeigte eine Filialausstellung am Parkring Bildstatistiken zu Sozialhygiene und Sozialversicherung. Im Volkswohnbau Am Fuchsfeld waren wiederum Tafeln zu weltwirtschaftlichen Themen zu sehen, während die erst ab 1933 (und daher nur relativ kurzzeitig) betriebene „Zeitschau“ in der Wiener Innenstadt eine zusätzliche Möglichkeit bot, ausgewählte Arbeiten von Neuraths Sozialmuseum zu sehen.[17]
Hinzu kamen zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland. Bereits 1926 gestaltete das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum einen Pavillon bei der Großausstellung GeSoLei (Gesundheit, Soziales, Leibesübungen) in Düsseldorf. Dort lernte Otto Neurath über seinen Freund, den Kunsthistoriker Franz Roh, den Grafiker und Künstler Gerd Arntz kennen, der einige Zeit später zu seinem Team nach Wien kam. Für die grafische Entwicklung und zeichnerische Gestaltung der Piktogramme war dies ein entscheidender Schritt. Es gab Nebenstellen und Kooperationen in Berlin, Amsterdam, New York und London. Zudem beriet Neurath gemeinsam mit Gerd Arntz, Marie Reidemeister und anderen ein bildstatistisches Institut in der Sowjetunion. Von 1931 bis 1934 entstanden im Moskauer Izostat Bildstatistiken, die allerdings nicht nur im Sinne der sowjetischen Propaganda eingesetzt wurden, sondern sich zum Teil auch deutlich von den Prinzipien der Wiener Methode entfernten.[18]
Unter den zahlreichen bildstatistischen Publikationen sticht das Mappenwerk Gesellschaft und Wirtschaft heraus. Das „bildstatistische Elementarwerk“ – so sein Untertitel – rief zahlreiche Reaktionen hervor. Auch wenn diese nicht alle positiv waren, konnte am wegweisenden Charakter der Publikation kein Zweifel bestehen. Von einem „Meisterwerk pädagogischer Statistik“ schrieb etwa Kurt Tucholsky.[19]
VI. Die „Wiener Methode der Bildstatistik“
Die Wiener Methode der Bildstatistik wird zwar vor allem mit Otto Neurath verbunden, sie basierte aber auf einem kollektiven Arbeitsprozess, auf Teamwork: Für die einzelnen Arbeitsschritte – also etwa für das Sammeln und die wissenschaftliche Aufbereitung des Datenmaterials, für die „Transformation“ dieser Daten in Bilder und für die zeichnerische Ausgestaltung der Piktogramme in Mengenbildern – waren jeweils unterschiedliche Personen und Personengruppen zuständig.[20]
Die Wiener Methode arbeitete mit sprechenden Zeichen, mit kontinuierlich standardisierten Piktogrammen, die leicht zu identifizieren waren. Es existierten etwa Zeichen für Arbeiter*innen und Arbeitslose, für Häuser und Fabriken, für Schuhe und – die beiden Letzten kombiniert – für Schuhfabriken. Solche Zeichen und Symbole sollten weder künstlich belebt noch individualisiert werden. Die in der Bildstatistik dargestellten Mengenunterschiede und Mengenrelationen wurden nicht durch unterschiedlich große Symbole, sondern durch eine unterschiedliche Anzahl jeweils genau gleich großer Symbole vermittelt. Neurath selbst beschrieb die Wirkung der Methode folgendermaßen: Auf den ersten Blick sollte das Wichtigste zu erkennen sein, auf den zweiten Blick wichtige Einzelheiten und auf den dritten Blick weitere Details. „Ein Bild, das beim vierten und fünften Blick noch weitere Informationen gibt, ist, vom Standpunkt der Wiener Schule, als pädagogisch ungeeignet zu verwerfen.“[21] Neben Otto Neurath waren Gerd Arntz für die grafische Gestaltung und Marie Reidemeister für die Transformation Schlüsselfiguren – darüber hinaus waren aber noch zahlreiche und zum Teil sehr bekannte Persönlichkeiten an der Arbeit des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums beteiligt.[22]
Neurath verstand die Bildstatistik immer auch als ein Instrument im Klassenkampf, und er betonte wiederholt, dass diese für die politische Schulung der Arbeiterklasse besonders gut geeignet wäre. Mit ihrer Hilfe sollte das bürgerliche Bildungsprivileg gebrochen und das Proletariat für die politische Auseinandersetzung gewappnet werden. Die Wiener Methode konnte auch als Propagandainstrument eingesetzt werden – und tatsächlich verwendete die SDAP immer wieder Bildstatistiken in Wahlkämpfen. Otto Neurath schlug Robert Danneberg vor, Gemeindemuseen in Sozialmuseen umzuwandeln, forderte von Karl Renner den intensiven Einsatz der Bildstatistik in der politischen Parteipropaganda und von Friedrich Adler, bildstatistische Unterrichtsmaterialien in der Sozialistischen Internationale zu verwenden.[23]
Die Wiener Methode stand ebenfalls mit einem der großen Zukunftsprojekte Otto Neuraths in Verbindung – der Einheitssprache, einem visuellen Esperanto. Visualisierung ermöglichte Kommunikation zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, zwischen Laien und Expert*innen, zwischen Nationen und Kulturen: „Worte trennen – Bilder verbinden“, so lautete sein Leitspruch.[24]
VII. Der Wiener Kreis
Zumindest kurz erwähnt sei eine weitere von Neuraths Aktivitäten, die nicht nur in der Philosophiegeschichte bedeutsam ist: der Wiener Kreis.[25] Der Wiener Kreis war eine interdisziplinäre Diskussionsgruppe rund um den Philosophen Moritz Schlick, die sich ab 1924 regelmäßig am Mathematischen Institut der Universität Wien in der Boltzmanngasse traf. Neben Schlick und Neurath gehörten der Gruppe unter anderem der Mathematiker Hans Hahn und der Wissenschaftsphilosoph Rudolf Carnap an. Diskutiert wurde etwa Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Der Wiener Kreis war freilich keine politische Gruppe, und insbesondere Schlick legte auf den unpolitischen Charakter der Zusammenkünfte großen Wert. Dennoch bildete sich ein linker Flügel heraus, dessen Exponenten (Otto Neurath, Rudolf Carnap, Hans Hahn) 1929 das Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis herausgaben.[26] Hintergrund für diese Publikation war das erfolgreiche Bemühen, Moritz Schlick, der eine Berufung nach Bonn erhalten hatte, zu überreden, in Wien zu bleiben und den Diskussionskreis fortzuführen. Zudem wurde durch den im November 1928 gegründeten Verein Ernst Mach, in dessen Anfängen Freidenker*innen und Monist*innen eine entscheidende Rolle spielten, diese wissenschaftliche Weltauffassung in zahlreichen Veranstaltungen einem breiten Publikum vermittelt.
VIII. Epilog
Die Zuspitzung der politischen Lage schränkte Otto Neuraths Arbeitsmöglichkeiten in Wien immer mehr ein. Dem brutal niedergeschlagenen Arbeiteraufstand vom 12. Februar 1934 folgten behördliche Repressionen, die auch zur Auflösung des Vereins Ernst Mach und zur Schließung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums führten. Otto Neurath, der sich zur Zeit des „Bürgerkriegs“ in Moskau befand, kehrte nicht mehr nach Wien zurück, sondern baute in Den Haag (NL) und ab 1940/41 in Oxford (UK) sein Leben neu auf. Vor allem mit seiner visuellen Arbeit, die unter dem Namen ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) firmierte, war er überaus erfolgreich. Einen Rückkehrwunsch nach Österreich hatte er, entgegen manchen Darstellungen, nicht. Im Nachkriegsösterreich blieb er nach seinem Tod am 22. Dezember 1945 in Oxford rund dreieinhalb Jahrzehnte lang nahezu vergessen.[27]
GÜNTHER SANDNER forscht und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und ist am Institut Wiener Kreis tätig. Weitere Informationen online unter: https://homepage.univie.ac.at/guenther.sandner/.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Schwarz, Werner Michael/Spitaler, Georg/Widal Elke (Hg.): Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel: Birkhäuser 2019, 300–305. Die Redaktion der ZUKUNFT dankt dem Autor und den Herausgeber*innen herzlich für die Genehmigung zum Wiederabdruck. Auch danken wir dem Verein für die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, dem Österreichischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum sowie der Otto und Marie Neurath Isotype Collection an der University of Reading für die mehr als freundliche Erlaubnis, Abbildungen aus ihrem Bestand wiederzuverwenden.
Literatur
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[1] Olga Neurath an Franz und Hilde Roh, 24. Juli (1920).
[2] Musil, Robert (1983): Tagebücher, Heft 9: 1919/20, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt: 429.
[3] Vgl. Danneberg, Robert (1930): Das neue Wien, 5., umgearbeitete Auflage, Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung.
[4] Neurath, Otto (1920): Vollsozialisierung. Von der nächsten zur übernächsten Zukunft, Jena: Eugen Diederichs.
[5] Vgl. Sandner, Günther (2014): Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien: Zsolnay, 111–114.
[6] Neurath, Otto (1919): Vollsozialisierung oder Teilverstaatlichungen, in: Arbeiter-Zeitung, 27, März 1919, 2.
[7] Sandner 2014: Otto Neurath, 132–143.
[8] Vgl. Weissel, Erwin (1976): Die Ohnmacht des Sieges. Arbeiterschaft und Sozialisierung nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich, Wien: Europaverlag; Gerlich, Rudolf (1980): Die gescheiterte Alternative. Sozialisierung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, Wien: Braumüller.
[9] Bauer, Helene (1919): Der Wirtschaftsplan, in: Der Kampf 12 (1919) 9, 341f., hier 342.
[10] Novy, Klaus (2012): Selbsthilfe als Reformbewegung. Der Kampf der Wiener Siedler nach dem 1. Weltkrieg, in: Krasny, Elke (Hg.): Hands-on Urbanism 1850–2012, Wien: Turia + Kant, 128–157, hier 144.
[11] Vgl. Frei, Alfred Georg (1991): Die Arbeiterbewegung und „Graswurzeln“ am Beispiel der Wiener Wohnungspolitik 1919–1934, Wien: Braumüller, 150.
[12] Sandner 2014: Otto Neurath, 195–203.
[13] Neurath, Otto (1920): Betriebsräte-Lehrerschule, Reichenberg: Verlag der Volksbuchhandlung Runge und Co, 13.
[14] Einen guten Überblick dazu liefert die Datenbank des Österreichischen Volkshochschularchivs, online unter: http://archiv.vhs.at/vhsarchiv_suche.html (letzter Zugriff: 15.07.2022).
[15] Weidenholzer, Josef (1981): Auf dem Weg zum „Neuen Menschen“. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik, Wien/München/Zürich: Europaverlag, 151.
[16] O. L. [Otto Leichter]: Vom Versammlungssaal zum Museum, in: Arbeiter-Zeitung, 7, Dezember 1927, 8.
[17] Sandner 2014: Otto Neurath, 181.
[18] Vgl. Köstenberger, Julia (2013): Otto Neuraths „Wiener Methode“ im Dienste der sowjetischen Propaganda, in: Moritz, Verena et al. (Hg.): Gegenwelten. Aspekte der österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918–1938, Wien: Residenz 2013, 275–282; Minns, Emma (2013): Picturing Soviet Progress: Izostat, 1931–4, in: Burke, Christopher/Kindel, Eric/Walker Sue (Hg.): Isotype. Design and Contexts 1925–1971, London: Hyphen Press, 257–280.
[19] Tucholsky, Kurt (1995): Auf dem Nachttisch (1931), in: Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke, Bd. 9, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 139–145, hier: 144.
[20] Sandner 2014: Otto Neurath, 185.
[21] Neurath, Otto (1991): Die Museen der Zukunft (1933), in: Haller, Rudolf/Kinross Robin (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien: LIT, 244–257, hier 257.
[22] Das vom Autor geleitete FWF-Projekt Isotype – Entstehung, Entwicklung und Erbe (P 31500 – G32) beschäftigte sich zwischen 2019 und 2022 unter anderem mit den Biografien der Mitarbeiter*innen des GWM.
[23] Vgl. die Briefe Neuraths an Robert Danneberg (17. Dezember 1930), Karl Renner (13. Mai 1931) und Friedrich Adler (26. Juli 1930). Alle: Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA), Altes Parteiarchiv ( I ), M. 45.
[24] Neurath, Otto: Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule (1933), in: Haller, Rudolf/Kinross Robin (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien: LIT, 265–336, hier 273.
[25] Waldner, Gernot (2019): Sich etwas zu sagen haben. Vier Motive der Intelligenz des Roten Wien, in: Schwarz, Werner Michael/Spitaler, Georg/Widal Elke (Hg.): Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel: Birkhäuser 2019, 120–125.
[26] Stadler, Friedrich/Uebel Thomas (Hg.) (2012): Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis. Reprint der Erstausgabe mit Übersetzungen ins Englische, Französische, Spanische und Italienische, Wien/New York: Springer.
[27] Die erste große österreichische Arbeit war: Stadler, Friedrich (Hg.) (1982): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz, Wien/München: Löcker.
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