ZUKUNFT-Redakteurin HEMMA MARLENE PRAINSACK hat RONALD LEOPOLDI, den Sohn von Hermann Leopoldi, zu einem Exklusivinterview gebeten, in dem nicht nur eine wichtige Geschichte des Wienerlieds dokumentiert wird. Das Interview wurde am 07.11.2022 in Niederösterreich geführt.
Hemma Marlene Prainsack: Ihr Vater, Hermann Leopoldi, hat als Klavierhumorist das Wienerlied wegweisend geprägt und ihm zu internationalem Ruhm verholfen. Wie ist ihm das gelungen und wie würden Sie einen Klavierhumoristen beschreiben?
Ronald Leopoldi: Das hängt mit singendem Journalismus zusammen. Mein Vater hat versucht, das Tagesgeschehen humorvoll zu erzählen – aus diesem Grund Klavierhumorist – die Texte und die Musik waren darauf abgestimmt und das war das eigentlich Wichtige. Die Leute sollten zuhören können und der Text sollte eine Synergie mit der Musik haben.
Bei den Texten kam die Idee sehr oft von ihm, er hat auch fast alle Texte umgearbeitet und für sich umformuliert. Das war ganz wesentlich, das macht fast jeder Künstler, er singt nicht nur die Sachen, wie sie die Autoren formulieren, sondern man muss sich das für sich selbst zurechtlegen und jeder Künstler macht das auf seine Art und Weise. Er hatte einfach ein Talent, der Beruf muss handwerklich funktionieren und man muss das Handwerk beherrschen, aber man braucht auch ein gewisses Talent, und das dürfte er gehabt haben.
H. M. P.: Für Gerhard Bronner und Georg Kreisler war Hermann Leopoldi ein großes Vorbild und eine Inspirationsquelle. Welche Vorbilder hatte Hermann Leopoldi?
R. L.: Er hat zuerst nur Klavier gespielt, er war in Agram als Kapellmeister engagiert, hat aber sehr wenig verdient. In Agram gab es einen Klavierhumoristen bzw. jemanden, der am Abend die Leute unterhalten hat. Ein gewisser Kurt Warnebold hat damit viel Geld verdient. Er hat gesungen, sich selbst am Klavier begleitet und Begeisterungsstürme ausgelöst, das hat sich mein Vater abgeschaut und wollte das auch versuchen. Es ist ihm dann auch gut gelungen. Für Bronner, Kreisler, aber auch Frederik Loewe war Hermann Leopoldi sehr wichtig. Loewe war ein Wiener, der nach New York ausgewandert ist und später gemeinsam mit Alan Jay Lerner als Fritz Loewe für Musical-Erfolge wie My Fair Lady und Gigi verantwortlich zeichnete. Mein Vater hat später in den USA im Lerner & Loewe Musical The Day Before Spring am Broadway Dr. Sigmund Freud verkörpert. Loewe hat sich, als er nach Amerika kam, mit den Liedern meines Vaters über Wasser gehalten und auch Georg Kreisler hat in Amerika Leopoldi-Lieder gebracht und sein erstes Geld damit verdient.
H. M. P.: 1922, also genau vor hundert Jahren, hat Hermann Leopoldi gemeinsam mit seinem Bruder Ferdinand und Fritz Wiesenthal das Kabarett Leopoldi-Wiesenthal in der Rothgasse im Ersten Bezirk in Wien gegründet, in dem die täglichen Vorstellungen fünf Jahre lang ausverkauft waren und in dem namhafte Künstler*innen große Erfolge feierten.
R. L.: Es war damals eines der ersten Kabaretts in Wien und eigentlich eine neue Kunstform, die man eingeführt hat. Schauspieler*innen vom Burgtheater sind gekommen, Hans Moser oder Armin Berg hatten im Leopoldi-Wiesenthal ihre Anfänge. Raoul Aslan, Fritz Grünbaum, Karl Valentin wurden eingeladen und sind als Gäste aufgetreten, Fritz Löhner-Beda hat viele Programme geschrieben. Unzählige Künstler*innen haben im L-W ihre eigenen Programme ausprobiert, Gisela Werbezirk zum Beispiel und Szőke Szakáll, er ist von Budapest nach Wien gekommen, um im L-W aufzutreten. Szakáll, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste, wurde später durch seine Rolle als Oberkellner im Film Casablanca weltberühmt.
Ganz neu war es, dass zwei Menschen simultan auf zwei Klavieren gespielt haben. Es gab zwei Klaviere auf der Bühne, auf denen Hermann mit seinem Bruder Ferdinand Variationen gespielt und Leute zu zweit begleitet haben. Das gab es davor nur bei Klassikkonzerten.
H. M. P.: Hermann Leopoldi hat oft mit den Autoren Theodor Waldau und Peter Herz, mit Fritz Löhner-Beda und auch Karl Farkas zusammengearbeitet. Besonders war, dass diese Arrangements jegliche Publikumsschicht angesprochen haben.
R. L.: Ja, seine Lieder waren nicht nur für Intellektuelle gedacht, sondern er hat wirklich breite Schichten angesprochen und die Lieder waren so aufgebaut, dass sie nicht nur an einzelne Gruppen gerichtet waren, sondern auch an die breite Masse.
H. M. P.: In den Liedern Ihres Vaters werden oft tagesaktuelle politische und gesellschaftliche Missstände benannt. Hermann Leopoldis Musikkompositionen waren sehr melodiegesteuert. Wenn man diese vielfältigen Lieder hört, fällt ein ungemeines Wiener Sprachvermögen und eine ganz eigenartig anmutende Aktualität der Texte auf. Leopoldi, der „unverbesserliche Optimist“, benennt mit seiner Musik die Sorgen und finanziellen Nöte der Zeit auf humoristische Weise:
„Ich hab mein Geld am Schottenring verloren,
die Kurse fielen über Nacht.
Ich war ruiniert bis über beide Ohren,
und mein Bankier war tags zuvor verkracht.
Vergeblich klagten meine Kreditoren,
als ich voll Wehmut ihnen eingestand,
dass ich mein Geld am Schottenring verloren,
als Börsenspekulant.“
singt er in der Börsen-Symphonie (1922). Der Foxtrott Money macht froh! (1928) beginnt mit den Zeilen:
„Ist der Mensch auch noch so blöd,
daß es höher nicht mehr geht,
hat er nur Geld,
gilt er der Welt mehr als jeder Geistesheld.“
Immer Voran! (1929) widmet sich dem Arbeitsmann und dessen Einsatz:
„Nur mit Euch und auf Euch gestellt,
steht und fällt die Welt!“
Weltschmerz (1932) ist, wenn
„Die Welt erwacht und Satan lacht,
Wer hätt’ gedacht, dass das Pfund jemals kracht.
Das ist die Pleitemelodie, das Lied vom Dalles.
Es ist die reinste Ironie, ein Sieg Lavales.
Es gibt nur einen Weg auf Erden,
um doch noch reich zu werden,
wenn dich in Öst’reich
der Staat zum Beamten erkoren hat.“
Liedzeilen wie diese haben dem Publikum aus der Seele gesprochen. Wenn wir an die heutige Situation in unserem Land denken, würden die parteipolitischen Vorkommnisse und die Tagespolitik eigentlich unzähliges Material liefern, das man musikalisch im Wienerlied verarbeiten könnte. Welche Beobachtungen stellen Sie über das Musikschaffen heute fest?
R. L.: Damals haben sich die Autoren zusammengetan, sind im Kaffeehaus gesessen, haben ihre Meinungen ausgetauscht und hatten dadurch ein breites thematisches Spektrum. Und jeder, der einen Einfall gehabt hat, hat diesen eingebracht und der Autor hat das Lied dann für sich eingetragen, der nächste einen anderen Einfall usw. … es war eine Mischung, sie haben alle zusammengearbeitet. Das Problem heute ist, dass die Kabarettist*innen ihre Programme alleine entwickeln. Allein hat man selten die besten Ideen, manchmal wird es einseitig. Ich kann mich an erste Programme erinnern, die zum Beispiel Peter Orthofer für Künstler*innen gemacht hat. Das erste Programm war grandios, das zweite war schwächer und es ist immer weniger geworden, schließlich gab es viele Wiederholungen, früher war das nicht so, weil die Künstler*innen sich immer wieder ausgetauscht und zusammengearbeitet haben.
H. M. P.: In der Bildbiografie In einem kleinen Café in Hernals über Hermann Leopoldi und Helly Möslein erzählt Ihr Vater erstmals „ob der Unmenschlichkeit“ über seine Erfahrungen im KZ. Als „Hymnendichter und Betrüger der Vaterländischen Front“ [NS Telegraf: 1938] wurde Leopoldi von den Nationalsozialisten verhetzt. Im April 1938 wurde er festgenommen, ins KZ Dachau gebracht und im September ins KZ Buchenwald verlegt. Hier hat er gemeinsam mit dem ebenfalls inhaftierten Librettisten und Autor Fritz Löhner-Beda, der 1942 im KZ Auschwitz ermordet wurde, den Buchenwälder Marsch komponiert. Wie kam es dazu?
R. L.: In Buchenwald mussten die Gefangenen und die Häftlinge Kinderlieder singen, was den Wärtern und Befehlshabern mit der Zeit auf die Nerven ging und so wurden die Insassen in einer Art Wettbewerb beauftragt, etwas auf Buchenwald zu schreiben. Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi haben so den Buchenwälder Marsch geschrieben, der eigentlich höchst revolutionär war. Aber Oberst Rödel, der Leiter des Konzentrationslagers, hat das natürlich nicht erkannt und aus diesem Grund mussten die Häftlinge Tag und Nacht den Buchenwälder Marsch singen. Darin kommt die berühmte Liedzeile vor „Trotzdem ja zum Leben sagen“, die Viktor Frankl später zum Titel seines Buches gemacht hat.
H. M. P.: „Wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag, da sind wir frei“ (Buchenwälder Marsch, 1938). Der Tag der Freiheit ist für Hermann Leopoldi im Jahr 1939 gekommen, er konnte gerade noch fliehen.
R. L: Er hatte das große Glück, dass seine Frau schon in den USA war, denn seine Schwiegereltern waren Wirtschaftsflüchtlinge, die schon in den 1920er-Jahren ausgewandert waren. Sie haben in der 3rd Avenue in New York ein Geschäft aufgemacht. Kraus Hardwaregab es bis Mitte der 1990er-Jahre.
H. M. P.: Und in den USA hat er dann Ihre Mutter Helly Möslein getroffen, die geborene Wienerin war.
R. L.: Meine Mutter ist in Wien im 10. Bezirk geboren worden, sie war in der Volkschule in Wien und ist dann mit ihren Eltern, die auch Wirtschaftsflüchtlinge waren, 1925 nach Amerika ausgewandert. Mein Großvater war in Wien bei der Südbahn, er hatte einen sehr guten Posten. Eigentlich wollte er Lokführer werden, er war aber leicht farbenblind und aus diesem Grund konnte er das nicht machen. Und die Familie seiner Frau war zum Großteil schon ausgewandert und in Chicago recht gut situiert, seine Schwiegermutter betrieb dort ein Restaurant. Sie war sehr bemüht, den Rest der Familie in die USA zu holen und so ist auch meine Mutter ausgewandert und in den USA in die Oberschule gegangen. Sie hatte jedoch solches Heimweh nach Wien und kehrte deshalb hierher zurück, weil sie unbedingt in Wien Musik studieren wollte. In drei Jahren hat sie ein enormes Studienprogramm absolviert, Klavier und Gesang. Als die Nazis kamen, hat mein Großvater schon ein sehr ungutes Gefühl gehabt, er war zwar nicht jüdisch, aber er war im ersten Weltkrieg eingerückt und hat 1934/35 zu meiner Mutter gesagt, dass mit Hitler nichts Gutes kommen wird und sie sofort wieder nach Amerika kommen muss. Meine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt als Koloratursopranistin schon ein Engagement in Troppau, sie hätte bestimmt in Europa Karriere machen können. Aber ihr Vater hat darauf bestanden, dass sie Europa verlässt. Daher ist sie dann 1935 wieder zurück nach Amerika gegangen und hat in Chicago einen Liederwettbewerb der Chicago Tribune gewonnen. Daraufhin war sie mit einer Operntruppe in Amerika unterwegs und hat das sehr gut gemacht. 1939 hat sie dann in New York per Zufall meinen Vater kennengelernt. Sie hat ihn sehr unterstützt, er konnte kein Englisch, sie war perfekt darin und hat ihm Texte übersetzt und ihn eigentlich auch für die Amerikaner*innen so weit gebracht, dass er überall auftreten konnte. Gemeinsam haben sie Tourneen durch ganz Amerika gemacht, sind u. a. in der Carnegie Hall und der Orchestra Hall in Chicago aufgetreten und Helly Möslein hat auch eine eigene Radiosendung in den USA gehabt.
Nach dem Krieg war sie 1947 die treibende Kraft, nach Wien zurückzukehren. Sie hatte großes Heimweh, mein Vater war anfänglich jedoch nicht so begeistert. Sie haben sich noch für längere Zeit eine kleine Wohnung in New York behalten und sind dann im Sommer immer wieder in Catskills aufgetreten, wo sie zuvor schon mehrmals Gastspiele gegeben hatten.
Vor allem Viktor Matejka war dann sehr darauf bedacht, Künstler*innen zurückzuholen. Doch die österreichische Regierung war über diese Idee nicht sehr erfreut. Man wollte einen Schönberg zurückholen, aber die österreichische Regierung meinte im Grunde: „Was wollen die alle da, die Juden, die sollen bleiben, wo sie sind! Wir haben nichts, keine Wohnungen und dergleichen … aber den Leopoldi, den müssen wir unbedingt zurückholen, weil der im zerbombten Wien vielleicht eine gute Stimmung machen und uns helfen kann“. Und so war es dann auch. Man hat ihm einen großen Empfang am Bahnhof in Wien bereitet und hat das so beschrieben, als wäre Hermann Leopoldi ein bisserl in Amerika auf Urlaub und für ein paar Jahre auf Gastspiel gewesen, weil er gehörte ja nur nach Österreich.
Meine Mutter hat das durchaus genossen, für meinen Vater war das schwieriger, da sein Bruder Ferdinand im Dezember 1944 in Wien von der Gestapo ermordet wurde und er darüber viel nachdenken musste. In Wien hat er sich dann wirklich mit ununterbrochenem Komponieren und mit Auftritten ablenken müssen.
H. M. P.: Ein ganz besonderes Merkmal von Hermann Leopoldi war sein Optimismus, den er oft besungen hat. Wie haben Sie das erlebt?
R. L.: Der Optimismus war ganz wichtig, sonst hätte man den Ersten und Zweiten Weltkrieg und damit das Konzentrationslager nicht überleben können. Er hat auch im KZ den anderen Häftlingen vorsingen müssen: „Ich bin ein unverbesserlicher Optimist“. Der Optimismus ist das Wichtigste überhaupt, denn man muss die positiven Seiten sehen, da man sonst zugrunde geht. Anders kann man das nicht schaffen.
H. M. P.: Mit welchen Klängen sind Sie aufgewachsen?
R. L.: Ich war vier Jahre alt, als mein Vater gestorben ist. Er hat mir noch als Kind die neuesten Nummern vorgespielt, ich bin da bei ihm am Schoß gesessen, aber ich habe relativ wenig Erinnerungen an ihn. Ich bin hier in Niederösterreich aufgewachsen, er und meine Mutter waren viel auf Tournee und wenn ich bei meinen Eltern war, hat er sich mit mir beschäftigt, aber er war ein älterer Herr. Ich habe von meiner Mutter sehr viel über ihn erfahren und sie hat mich gut unterrichtet. Sie hat auch den Nachlass aufgehoben, damit wir das alles heute weitergeben können, denn er war nicht in der Lage, viel über seine Vergangenheit zu erzählen.
H. M. P.: Sie verwalten jetzt seinen Nachlass und haben u. a. den Hermann-Leopoldi-Preis ins Leben gerufen, der heuer zum dritten Mal vergeben wurde. Der Leopoldi-Ehrenpreis wurde soeben in einer sehr würdevollen Zeremonie im Wiener Volksliedwerk an Kammersänger Heinz Zednik verliehen, der im Rahmen der Preisverleihung Leopoldi-Lieder zum Besten gegeben hat. Sie haben in Ihrer Rede von einer besonderen Begegnung in Israel erzählt.
R. L.: Ich bin Mitglied des Vereins Wien–Tel Aviv. Seit 2013 bringen wir gemeinsam mit Judith Weinmann-Stern den Altösterreicher*innen, die 1938 aus Österreich flüchten mussten, Konzerte und Wiener Musik. Bei meinem ersten Besuch 2013 kam eine Dame in ihren hohen 80ern zu mir und sie sagte: „Ich bin mit den Liedern Deines Vaters aufgewachsen, ich bin Gesangslehrerin in Jerusalem. Ich habe schon versucht, den Student*innen Wiener Musik beizubringen.“ Daraufhin habe ich ihr die Notenbücher und die Biografie geschickt. Als ich nach eineinhalb Jahren wieder nach Israel gekommen bin, kam die Gesanglehrerin glückstrahlend auf mich zu und meinte, dass die jungen Leute und ihre Student*innen so viel Spaß mit den Leopoldi-Liedern haben. Als ich ein Jahr später wieder zu Besuch war, kam diese Dame, mittlerweile im Rollstuhl, zu mir und hat mir erzählt, sie habe mehrere Schlaganfälle erlitten. Dann nahm sie mich um den Hals und sagte, „aber wenn ich im Bett lieg und mir so ganz mies ist, dann denke ich an die Musik von Deinem Vater, das macht es mir leichter.“
H. M. P.: Danke fürs Teilen dieser Begegnung. Haben Sie einen Wunsch, wie man mit der Musik, dem Liedgut und den Erinnerungen Ihres Vaters künftig umgehen soll?
R. L.: Ich habe unter anderem die Notenbücher herausgebracht, weil ich eben wollte, dass nichts verloren geht und junge Menschen sich die Texte anschauen können, um nachzudenken. Aufgrund der Texte und der Biografie kann man Einiges bewirken. Bis jetzt ist das sehr gut angekommen, weil sehr viele junge Menschen die Lieder singen, sich für die Texte interessieren und es werden immer mehr. Die Wiener Musik und auch der Journalismus werden sehr unterschätzt, ähnlich wie die Operette. Es gibt so großartige Operettenmelodien, die Texte sind zwar manchmal banal und man müsste sie vielleicht umarbeiten, aber die Musik ist einfach fantastisch und vielleicht kommt man langsam wieder darauf, dass nicht alles so schlecht ist.
Über seine Lebensgeschichte hat Susi Wolf ein Stück geschrieben, das bisher noch niemanden so richtig interessiert hat, aber auch hier bin ich überzeugt, dass die Zeit kommen wird, in der das Stück aufgegriffen und übernommen wird. Es kommt natürlich darauf an, wie es gemacht, gespielt wird und wer es dann macht.
H. M. P.: Von der Vielfalt und Abwechslung kann man sich im Werk von Hermann Leopoldi überzeugen, über 400 Lieder sind in seiner Schaffensperiode entstanden. Eines der Lieder, Händereichen, dessen Text Peter Herz ca. 1956 verfasst hat, klingt wie eine Aufforderung an die Menschheit.
R. L.: Das Lied entstand damals während der Kuba-Krise, meine Mutter hat es damals im Konzerthaus vorgetragen. Sie musste es mehrfach wiederholen und es war ein einmaliges Erlebnis. Es gilt noch immer und heute mehr denn je.
„Was wird noch aus Europa? Was wird noch aus der Welt?
Die Völker lauschen angstvoll, ob nicht ein Schuss wo fällt.
Die ganze Atmosphäre ist betrübt, gewittert schwer. Man weiß:
Kommt erst das Wetter, gibt’s keine Rettung mehr.
Der Einzelne ist machtlos und denkt sich bloß: Gott helf’,
indessen geht der Zeiger der Weltenuhr auf zwölf.
Es ist Zeit zum Händereichen! Es ist allerhöchste Zeit.
E ist Zeit, schon gut zu werden, denn sonst tät’ es allen leid!
Lasst der Herzen Stimme tönen, kommt wir wollen uns versöhnen.
Lasst nicht die letzte Frist verstreichen!
Händereichen, Händereichen.
Es ist Zeit zum Händereichen, es ist allerhöchste Zeit!“
H. M. P.: Mit diesem dringlichen Apell und der Anregung, sich eingehend mit der Musik, der Biografie und dem kulturellen Erbe von Hermann Leopoldi und seinen Zeitgenoss*innen auseinanderzusetzen, bedanke ich mich herzlich im Namen der ZUKUNFT für Ihre Arbeit und diesen bereichernden Beitrag.
Literatur
- NS Telegraph, 15. Juni 1938 S. 8, online unter: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nst&datum=19380615&seite=8&zoom=33&query=%22neu%2Berschienen%2Bnr%2B24%22&ref=anno-search (letzter Zugriff: 12.11.2022).
- Leopoldi, Ronald (Hg.) (2011): Leopoldiana. Gesammelte Werke von Hermann Leopoldi und 11 Lieder von Ferdinand Leopoldi, Band 1 & 2. Beiträge zur Wiener Musik Bd. 2, herausgegeben vom Wiener Volksliedwerk, Wien: Nachlassverwaltung Hermann Leopoldi und Institut für historische Intervention.
- Leopoldi, Ronald/Weiss, Hans (Hg.) (1992): In einem kleinen Café in Hernals. Hermann Leopoldi & Helly Möslein. Eine Bildbiographie. Wien: Edition trend S.
- Nähere Informationen zu Hermann Leopoldi online unter: https://hermannleopoldi.at/(letzter Zugriff: 12.11.2022).
HEMMA MARLENE PRAINSACK
ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. In ihrer Dissertation widmet sie sich dem Filmstar Harry Piel, dem Sensationsfilm und dem Motiv der Panik zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein Institut für Kulturstudien. Davor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunksund bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video.