„Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein,
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. / […].“
Bertolt Brecht (1927): Vom armen B. B.
Lange Zeit schieden sich die Geister, wenn es um die Frage ging, ob Bertolt Brecht, der wohl bedeutendste sozial engagierte Poet des 20. Jahrhunderts, ein guter oder ein politischer Schriftsteller gewesen sei. Betonte und belohnte etwa die DDR sein politisches Engagement, galt der Meister der reimlosen Lyrik in der BRD eher als Ästhet, der die Kunst als Verfahren und Verfremdung begriff. Wohl kaum ein Leben und Werk sind dahingehend auch heute noch so umstritten, weil sie eben beides sind: politisch erhaben und ästhetisch engagiert. Da die Person und die Kunst Brechts unbestreitbar von größter Aktualität sind und eben weder um ihre künstlerische Schönheit noch um ihre politische Präzision gebracht werden können, hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen, dieser tiefen Verbindung von proletarischer Ästhetik und antifaschistischer Haltung bei Brecht eine eigene Ausgabe zu widmen. Dies auch, um gerade im Umfeld der Sozialdemokratie darauf zu insistieren, dass die Archivbestände der Arbeiter*innenbewegung immer wieder aktualisiert werden müssen, um sie zu retten.
Denn gerade in Österreich zeigt sich am Beispiel des offiziellen Umgangs mit Bertolt Brecht, inwiefern der Nationalmythos der „österreichischen Lösung“ in erster Linie auf politischem Kleinmut beruht. Als Brecht auf Vorschlag von Gottfried von Einem die österreichische Staatsbürgerschaft beantragte, lautete die Abmachung schlicht: Ein Pass gegen einen Totentanz. 1950 dann tatsächlich als „Gewinn für das kulturelle Österreich“ zum Staatsbürger ernannt und mit dem Schreiben eines neuen Salzburger Festspiels betraut, wurde Brecht rasch zur Zielscheibe einer untergriffigen antikommunistischen Agitation im Lande. Für die Einbürgerung des systematisch diffamierten „Kulturbolschewisten“ wollte plötzlich niemand mehr die Verantwortung übernehmen. Während künstlerische „Granden“ wie Herbert von Karajan oder Karl Böhm mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit längst wieder (in Salzburg) dirigierten und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bekannterweise erst in den 1980er-Jahren einsetzte, wurde die McCarthy-Doktrin der USA, mit der etwa auch Charlie Chaplin gebrandmarkt war, postwendend zum beinharten politischen und journalistischen Programm.
Es folgte ein zehnjähriger Brecht-Boykott in Österreich, dessen Nachwehen noch viele Jahre später auf den Bühnen spürbar war. Die „salzenburger fetzenspiele“ (Ernst Jandl) hingegen bekamen, nicht zuletzt in der unsäglichen antisemitischen Befürchtung einer „Verjudung“ (Josef Klaus), jene restaurative Barock-Fassade, die sie noch immer tragen. Ein freier Diskurs um die Zusammenhänge von Ästhetischem und Politischem ist also in Österreich nie wirklich geführt worden, und wenn doch, dann recht ungelenk und mit Scham behaftet. Genau deshalb lohnt es gerade heute, Bertolt Brecht zum Gegenstand der politischen und/als ästhetischen Debatte zu machen. Der arme B. B. kam also aus dem Schwarzwald von Augsburg und starb 1956 in Berlin als Österreicher.
Wenn wir ganz in diesem Sinne ein aktualisiertes Bild auf das (verhinderte) Wirken von Brecht am Beginn der Zweiten Republik werfen wollen, kann Der Edelmarder im Hühnerstall oder: Wie Herr B. Österreicher wurde von Kurt Palm ein hervorragendes Orientierungszeichen sein. Denn mit diesem Beitrag wird der von Gottfried von Einem befürwortete Einbürgerungsversuch eingehender beleuchtet, der faktisch zwar vollzogen wurde, kulturell aber beim Versuch blieb und zum „größten Kulturskandal der Zweiten Republik“ wurde: Während Brechts Dramatik u. a. in Paris und London Furore machte, galt zwischen 1953 und 1963 ein harter Brecht-Boykott auf Österreichs Bühnen. Als Hauptprotagonisten rückten hierbei Friedrich Torberg und Günther Nenning sowie die kulturpolitische Zeitschrift FORVM in Szene, die direkt von der CIA finanziert wurde. Die erste Brecht-Aufführung am Burgtheater 1966 wurde dann, wieder typisch österreichisch, erst nach einem Anti-Brecht-Stück von Günter Grass am selben Abend auf die Bühne gebracht. Was vielleicht zunächst noch wie ein Abwägen zwischen den Polen in Zeiten des Kalten Krieges erscheinen mag, erweist sich tatsächlich als skandalöse Entmündigung des Publikums in einer nach wie vor hierarchisch und nepotistisch geprägten österreichischen Kultur- und Medienlandschaft.
Dabei bleibt zu betonen, dass Brechts Stücke auch im Sinne seines didaktischen Theaters ganz wesentlich auf ihre Rezeption verwiesen sind, weil es immer um das Handlungspotenzial und die Mitbestimmung der Zuschauer*innen geht. Die diesbezüglich entscheidenden Bezüge arbeitet Doris Neumann-Rieser heraus, die Brechts Textproduktion neben keine geringere als jene von Franz Kafka stellt. Denn im Vergleich lassen sich bei beiden parabolische Schreibweisen und die Anforderung ans Lese- oder Theaterpublikum, eigene Schlüsse zu ziehen, als Gemeinsamkeit aufweisen. Nicht zu vergessen sind auch die Gerichtsszenen, die sowohl bei Kafka als auch bei Brecht einen zentralen Stellenwert einnehmen und durchwegs eine ständige soziale Gefahrenlage spiegeln, von der Maßnahme bis zum Prozess. Schließlich wird bei Interpretationen gerne übersehen, dass sich auch Kafka als Bediensteter der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit nachdrücklich für die Sicherheit der Arbeitenden einsetzte und sich „notwendig zur Partei des Personals“ gehörig verstand, die um die archaischen Schuldkomplexe und Ängste vor dem Tyrannen weiß. Das Verhältnis zwischen Kafka und Brecht gilt es, so Neumann-Rieser, gerade in Österreich erst zu entdecken.
In die unmittelbare Gegenwart hinein führt uns dann der Beitrag von Christian Zolles, der für die Leser*innen der ZUKUNFT eine kleine Coronafibel als brechtianische Reflexion der Pandemiejahre zusammengestellt hat. Sie ist in Anlehnung an die bekannte Kriegsfibel von Brecht zu verstehen, in der er in humanistischen Fotoepigrammen versucht hat, die Gräuel des Zweiten Weltkriegs in einer Weise sichtbar zu machen und in Erinnerung zu rufen, die sich der gängigen Berichterstattung entzieht. Auch hier ist die selbstbestimmte und aufgeklärte Rezeption angesprochen, das nicht vorschnelle Abschalten, sondern das Einlassen der Leserinnen auf die Wirkung der verfremdenden Bild- und Textmontagen. Dann könnte man Brechts Anliegen ein Stück weit näherkommen: dass im Zentrum seiner Werke nicht plumpe Agitation, sondern Emanzipation steht; dass es sehr wohl Möglichkeiten im schriftlichen und bildhaften Ausdruck geben würde, sich der Komplexität und vor allem auch Brutalität zeitgenössischer Vorkommnisse zu stellen, die allerdings nur in den seltensten Fällen zum Repertoire politischer Repräsentant*innen zählen. Demgegenüber wusste Brecht, dass Irritation durch Ereignisse und Irritation durch Darstellung zusammenfallen müssen, um einer kollektiven Sprachlosigkeit zu entgehen.
Im Anschluss daran erinnert Rudolf O. Zucha an eine bemerkenswerte Aufführung von Brechts Leben des Galilei im Kärntner Krastal 2014 und nimmt sie zum Anlass, die Parallelen zwischen dem armen Astronomen und Physiker G. G. und dem armen Poeten B. B. herauszuarbeiten. Denn beide standen in einem bemerkenswerten Verhältnis von Wissen und Macht, von Wissenschaft und Herrschaft. Dabei muss unweigerlich auch an die jüngst von Christopher Nolan in seinem Kinofilm Oppenheimer geschilderten Repressionen im Schatten des Sicherheitsgesetzes zur Bekämpfung einer „kommunistischen Verschwörung“ auf amerikanischem Boden in der McCarthy-Ära gedacht werden. Ohne Rücksicht auf Meriten oder Differenzierungen wurde versucht, Künstler*innen wie Wissenschaftler*innen stigmatisierend in ein kommunistisches Eck zu drängen, wenn sie sich auch nur als „Liberale“ für Gewerkschaften und die Interessen der Arbeiter*innenklasse einsetzten. Damit kommen wir auch mit dem Beitrag von Zucha wieder auf die österreichischen Agitationen der 1950er- und 1960er-Jahre und die erstaunliche Schnelligkeit zurück, mit der klare kulturpolitische Fronten in der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges gezogen waren, während die nationalsozialistische Vergangenheit unter dem Denkmantel des Schweigens und einer Habsburger-Renaissance verschwinden sollte.
In diesem Kontext kann auch in der Gegenwart im Blick auf die Dramen Bertolt Brechts hervorgehoben werden, dass die Rolle seiner Stücke an unseren Theatern immer noch bedenklich ist. Dieser Umstand findet mehrfachen Niederschlag in dem bemerkenswerten Gespräch, das Petra Paterno im Namen der ZUKUNFT mit der Regisseurin Helgard Haug, dem Dramaturgen Andreas Karlaganis sowie dem Brecht-Archivar Erdmut Wizisla geführt hat. Denn in den letzten zehn Jahren gab es tatsächlich keine Brecht-Neuinszenierung am Wiener Burgtheater, wobei es im deutschsprachigen Raum durchaus wegweisende Inszenierungen gab, wie etwa Martin Wuttke in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui am Berliner Ensemble gezeigt hat. Die Lage wird sich auch rechtlich ab dem 01. Jänner 2027 lockern, da Brechts Werk dann gemeinfrei wird. Alle Gesprächsteilnehmer*innen scheinen sich dabei darin einig zu sein, dass Brecht vor allem mit der nachdrücklichen Aufforderung zum eigenständigen Denken verbunden bleibt. Es zeigt sich also auch im Blick auf die aktuelle Aufführungspraxis und Theaterlandschaft, dass Brecht uns in allen Wortbedeutungen und nach wie vor ästhetisch und eben immer auch politisch zu denken gibt …
Ganz in diesem Sinne dankt die Redaktion der ZUKUNFT Brigitte Maria Mayer herzlichst dafür, dass sie uns für diese Ausgabe vom Cover weg Bilder aus ihrem beeindruckenden Gesamtwerk zur Verfügung gestellt hat. Ihre Arbeiten sind auf mehreren Ebenen mit der Dramatik Bertolt Brechts und Heiner Müllers verknüpft, da auch Mayers Arbeiten durch visuelle Verfremdungen die Betrachter*innen zur Reflexion und zum Nachdenken anregen sollen. Dabei sind es u. a. Mythologien und biblische Motive, welche die Künstlerin in theatralische oder filmische Szene setzt, um etwa ausgehend von der Johannesapokalypse intensive ästhetische Zeitdiagnosen zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wird das Leiden Christi aktualisiert und säkularisiert, indem die gegenwärtige Abwesenheit von Werten wie Gerechtigkeit und Gemeinschaft zum visuellen Thema wird. Dass unsere herausragende Künstlerin auch bereit war, ihr Schaffen und dabei vor allem ihre Film- und Theaterinszenierungen und deren kultursoziologischen Hintergründe im Rahmen eines Interviews mit Hemma Marlene Prainsack zu erläutern, rundet unsere Schwerpunktausgabe zu Bertolt Brecht auch in Erinnerung an einen seiner wichtigsten Nachfolger, nämlich Heiner Müller, in intensiver künstlerischer Weise ab.
Insgesamt wollen wir mit dieser Ausgabe eine offene Diskussion zum Gesamtwerk Bertolt Brechts ebenso anstoßen wie eine Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Politik, von Ästhetik und Antifaschismus. Denn gerade die Sozialdemokratie kann von einem Titanen der deutschsprachigen Literaturgeschichte lernen, wie die eigene politische Haltung auch in schwierigen Zeiten sozial und demokratisch durchgehalten werden könnte. Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern …
„/ […] Bei den Erdbeben, die kommen werden,
werde ich hoffentlich
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen
Aus den schwarzen Wäldern
in meiner Mutter in früher Zeit.“
Bertolt Brecht (1927): Vom armen B. B.
Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße
Alessandro Barberi, Christian Zolles und Hemma Marlene Prainsack
ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at)
und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at).
Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler,
Medienpädagoge und Privatdozent.
Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung
und der Sektion Wildganshof (Landstraße) aktiv.
Weitere Infos und Texte online unter:
medienbildung.univie.ac.at.
CHRISTIAN ZOLLES
ist Kulturhistoriker, Philologe und Hochschuldozent. Er lebt und arbeitet in Konstanz und Wien.
Weitere Infos online unter:
www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/.
HEMMA MARLENE PRAINSACK
ist Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin.
Seit 2020 schreibt sie aus Überzeugung für die ZUKUNFT.