Spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer häufen sich Stimmen, die am Ende der Geschichte Marx und dem Marxismus ihre Legitimität absprechen wollen. Sei es, dass ihre „Große Erzählung“ in Frage gestellt, dass ihre ökonomische Kompetenz als veraltet begriffen oder sei es auch, dass ihr grundlegend totalitärer Charakter behauptet wird. Dementgegen kann im Blick auf die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie nachdrücklich betont werden, dass die Erfolge der Sozialistischen Partei durchgängig auf das eminente theoretische und praktische Niveau des Austromarxismus zurückgeführt werden können.
Deshalb stellt die Aktualisierung marxistischer Theoriebestände eine drängende Aufgabe progressiver Politik dar. Angesichts solcher Konstellationen hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, dem Thema Post/Marxismus eine eigene Ausgabe zu widmen, um eine Diskussion zur Aktualität von Marx und dem Marxismus zu eröffnen. Sind wir wirklich schon im Post/Marxismus angekommen oder insistieren Marx und der Marxismus gerade hinsichtlich der krisengebeutelten Finanzmärkte und dem horrenden Auseinanderdriften von Kapital und Arbeit? Eines scheint dabei gewiss zu sein: Marx gespenstert und kann nicht totgeschlagen werden …
Ganz in diesem Sinne unternimmt Daniel Lehner den Versuch, aus einer poststrukturalistisch informierten Position heraus Licht in die medialen Debatten um eine sogenannte „linke Identitätspolitik“ zu bringen. Denn seit geraumer Zeit schwappt ein konservativer Diskurs in sozialdemokratische Milieus, wo man nun auch manch minoritäre politische Praxis als Ursache für den Niedergang auszumachen glaubt. Obwohl im Unklaren bleibt, was mit dieser sogenannten „Identitätspolitik“ überhaupt gemeint sei, ist das Unbehagen gegenüber einzelnen Spielarten liberaler Politisierung teils berechtigt. Trotzdem bietet die paternalistische Anrufung einer „sozialen Frage“ keinen Ausweg aus identitätspolitischen Sackgassen. Gleichheit und ein marxistischer Klassenbegriff helfen diese kulturalistischen Zirkelschlüsse aufzubrechen, wobei nicht abgestritten wird, dass politische Praxis immer mit Ideologie und Identitäten verwoben bleibt.
„Die Linke braucht eine neue Erzählung“ – dieser Gedanke beschäftigt viele Progressive in Österreich und weltweit bei dem Versuch, eine neue Alternative zu den herrschenden bürgerlichen Parteien aufzubauen. Was steckt aber hinter dem Konzept eines „neuen Narrativs“? Und welche praktischen Konsequenzen hat es auf die Frage von Staat und Revolution? Yola Kipcak erklärt in diesem Zusammenhang, warum Wortspiele kein Ersatz für den Klassenkampf sind und stellt dabei das postmarxistische Konzept der „linken Erzählung“ und seine Folgen für die Praxis dem Marxismus gegenüber. Nach einer kurzen Darstellung der philosophischen Grundlage des Konzepts liegt der Fokus von Kipcak auf der Staatstheorie und damit verbundenen Fragen der Demokratie und des Parlamentarismus. Dabei wird argumentiert, dass das „linke Narrativ“ als Deckmantel für eine Politik der Passivität dient und in entscheidenden Momenten Hemmnis statt Hilfsmittel für klassenkämpferische Politik ist.
Julia Brandstätter bettet dann in ihrem Beitrag den Post-Marxismus in seinen historischen Entstehungskontext ein und versteht ihn als Replik auf theoretische Annahmen der „Moderne“, insbesondere des Marxismus. Mit Karl Marx und Friedrich Engels antwortet sie auf die drei häufigsten gegen die materialistische Geschichtsauffassung angeführten Argumente des Post-Marxismus: Erstens der „ökonomische Reduktionismus“, zweitens der „Klassenreduktionismus“ und drittens die „Teleologie“. Dabei betont die Autorin, dass sich Linksintellektuelle mit dem Siegeszug des westlichen Modells bürgerlich-parlamentarischer Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg in die abstrakten Nebelhöhen des Postmarxismus flüchteten, der ihnen als einzig mögliche Antwort auf das historische Scheitern des „realen Sozialismus“ erschien. Der Beitrag entkräftet mithin antimarxistische Argumente und plädiert für eine gewissenhafte Auslegung des marxschen Œuvres.
Elisabeth Theresia Widmer skizziert daran anschließend und mit Sorgfalt die politische Philosophie der Marburger Schule Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Denn im Kontrast zu den rechtskonservativen Intellektuellen dieser Zeit nahm der an Kant orientierte Marburger Linkskantianismus eine Sonderstellung ein. Als politisch progressive Strömung richtete sich diese Denkschule gegen den Trend, Marxismus und Sozialismus zum Sündenbock zu stilisieren. Widmer bietet Aufschlüsse in interne Diskussionen der Marburger Linkskantianer und zeichnet den Weg der Strömung in den Untergang nach dem Ersten Weltkrieg nach. Dabei liefert sie erkenntnisreiche Einblicke in die internen Diskussionen der „Marburger“, situiert die gesamte Denkrichtung im philosophischen und historischen Kontext der Zeit und führt ihr Scheitern nach dem Ersten Weltkrieg auf den kulturellen Chauvinismus zurück, der ihr Denken begleitete. Die Rekonstruktion dieser Schule des Neukantianismus ist auch deshalb für Sozialdemokrat*innen von großem Interesse, weil gerade der Austromarxismus als Kantianismus begriffen werden muss.
Dieses Zusammenfallen von Kantianismus und Marxismus inspiriert auch den Beitrag von Alessandro Barberi, wenn der Versuch unternommen wird, angesichts der fehlenden sozialdemokratischen Außenpolitik eine progressive Programmatik herauszuarbeiten. Denn die Verwerfung(en) von Austrokantianismus und Austromarxismus im Rahmen der letzten 30 Jahre liegen eindeutig parallel zum (ideologischen und politischen) Niedergang der Sozialdemokratie, die heute nur mehr auf ihre historischen Erfolge zurückblicken kann. Der Beitrag fordert daher einen progressiven Rückgriff auf die herausragenden Bestände des Austromarxismus, um der historischen Mission der Sozialdemokratie auch im Rahmen einer international(istisch)en Außenpolitik gerecht zu werden. Die österreichische Sozialdemokratie hatte und hätte nach dem hier Diskutierten also ein fortschrittliches und deutlich linkes mission statement … Back to the roots! Back to the future!
Wenn die bisherigen Beiträge theoretische Belange des Post/Marxismus diskutieren, dann liegt mit dem Beitrag von Peter Pawlicki eine durchaus marxistisch relevante Analyse gegenwärtiger Produktionsbedingungen vor. Denn angesichts der zunehmenden Digitalisierung – etwa in unseren Bildungsinstitutionen – beschäftigt sich der Autor mit den Hintergründen des Gerätekaufs und den vielfältigen Aspekten der derzeitigen und zukünftig gewünschten Arbeitsbedingungen in der Fertigung digitaler Endgeräte. Gerade aus marxistischer Sicht ist deshalb eine Auseinandersetzung mit den Produktionsbedingungen der Digitalisierung unumgänglich. Dies betrifft nicht zuletzt die „Geräteinitiative“ als Teil des 8-Punkte-Plans für die Digitalisierung der österreichischen Schulen durch das BMBWF. Hier eröffnen sich für Bildungsinstitutionen, die sich dem UNESCO-Weltzukunftsvertrag Agenda 2030 verpflichten, vielfältige Aspekte, auf die der Beitrag aufmerksam machen möchte.
Die Redaktion der ZUKUNFT hat – wie unsere Leser*innen sicherlich im letzten Jahr bemerkt haben – ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Politik und Literatur gelegt. In diesem Sinne möchten wir schon im Editorial darauf verweisen, dass der stellvertretende Chefredakteur Thomas Ballhausen im Blick auf das Thema Post/Marxismus in diesem Heft einen seiner literarischen Texte präsentiert. So schließt Der Krieg der Eigennamen ganz vorsätzlich an Poststrukturalismus und Postmarxismus an und liefert Einblicke in ein Prosaprojekt, das mit großer Aktualität Literatur und Theorie zusammenbringt.
Auch freut es die Redaktion der ZUKUNFT sehr, dass sie mit BenchMarking – Colours of Love im Rahmen der aktuellen Bildstrecke ein bemerkenswertes Projekt vorstellen kann: Was machen Farben mit uns – und wie können wir in der Auseinandersetzung damit lernen und uns sowie unsere Umgebung verändern? Die Initiative BenchMarking, die auf eine Idee des Landtagsabgeordneten Marcus Schober und des Schauspielers Harald Krassnitzer zurückgeht, gestaltet unter der künstlerischen Leitung von Karl Kilian gemeinsam mit Wiener*innen, Künstler*innen und allen Interessierten den öffentlichen Raum in Wien und bemalt Parkbänke in ästhetisch und politisch anspruchsvoller Weise. Unser Online-Redakteur Bernd Herger, der Projektleiter der Initiative, hat dazu auch einen kurzen Beitrag verfasst, der uns zum traurigen Abschluss unserer Ausgabe führt …
Denn zum Ende hin bleibt uns die erschütternde Nachricht vom viel zu frühen Ableben Caspar Einems, der sich unter vielem anderen als langjähriger Chefredakteur der ZUKUNFT mehr als verdient gemacht hat. Der Nachruf von Emil Goldberg erinnert an die vielfältigen Tätigkeiten eines Mentors und Freundes der ZUKUNFT, dessen Ideen, Anregungen und Argumente uns allen fehlen werden. Deshalb widmen wir diese Ausgabe seinem Andenken und vermissen auch im Blick auf den Post/Marxismus seine Expertise und vor allem seine Menschlichkeit …
Es grüßen im Namen der Redaktion
Alessandro Barberi und Julia Brandstätter
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
JULIA BRANDSTÄTTER ist Mitarbeiterin in der Dauerausstellung Das Rote Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof und forscht im Rahmen ihres Dissertationsprojekts an der Schnittstelle von Widerstand, Exil und Wissenschaftsgeschichte.