„Wir erleben die Ko-Evolution
Werthner et al. (2019) Wiener Manifest für Digitalen Humanismus
von Technologie und Mensch. […]
Die bisherigen Grenzen
zwischen dem Persönlichen und Professionellen,
dem Privaten und Öffentlichen
sowie zwischen Mensch und Maschine
verschwimmen.“
Mit diesen Worten beschreibt das 2019 geschriebene Wiener Manifest für Digitalen Humanismus das Verhältnis zwischen Mensch(en) und Maschine(n). Sechs Jahre später scheint die Verschmelzung von Mensch und Maschine ein noch viel größeres Problem darzustellen. Neue Technologien entwickeln sich mit rasanter Geschwindigkeit und werden dabei nicht nur immer undurchsichtiger, sondern auch fester Bestandteil des alltäglichen Lebens – ohne, dass wir uns dessen bewusst sind. KI-basierte Chatbots sollen seit Neuestem in ihren Antworten eigenständiges und „menschliches“ Denken simulieren. Andere Berichte zeigen, dass Nutzer*innen längst Chatbots wie ChatGPT als Therapeut*innen verwenden oder in anderen Formen intime Verbindungen eingehen. Was bleibt da noch für uns Menschen? Was macht uns in dieser neuen Welt menschlich?
Im Rahmen dieser ersten von zwei Sonderausgaben der ZUKUNFT zum Thema Digitaler Humanismus, die in Kooperation mit der FH des BFI Wien entstanden sind, beleuchtet ein inter- und multidisziplinäres Autor*innenteam die Rolle des Menschen im Zeitalter der künstlichen Intelligenz. Obwohl sich die Texte auf verschiedene Kontexte – die derzeitige Arbeit, Medien oder Rechtslage – fokussieren, sind sie sich doch in einem eins: der Mensch muss im Zentrum der Technologieentwicklung bleiben. In einer Zeit rasanter digitaler Entwicklung erinnert uns die Philosophie des Digitalen Humanismus daran, dass Technik dem Wohl des Menschen dienen sollte – nicht umgekehrt. Der Digitale Humanismus fordert eine ethische und menschenzentrierte Gestaltung digitaler Innovationen. In einer zunehmend vernetzten Welt ist er somit ein notwendiger Kompass, um sicherzustellen, dass Technologie nicht zur Entmenschlichung führt, sondern unser gemeinsames Wohl fördert.
Ganz in diesem Sinne fokussiert Pia-Zoe Hahne angesichts der digitalen Arbeitswelten auf die unsichtbaren Tätigkeiten, die das Funktionieren von KI erst möglich machen. Sie thematisiert die Problematik der unsichtbaren Arbeit, die durch den Einsatz von KI und der damit verbundenen Technologie entsteht. Denn unsichtbare Arbeit – historisch geprägt durch unbezahlte Tätigkeiten wie Hausarbeit und Care-Arbeit – hat sich im digitalen Zeitalter auf die unsichtbare, oft nicht anerkannte Arbeit in der KI-Entwicklung ausgeweitet. Diese Arbeit – sei es das Kategorisieren von Daten oder das Überprüfen von Inhalten – wird von prekären Arbeitskräften in und außerhalb des globalen Südens verrichtet, häufig unter ausbeuterischen Bedingungen. Hahne beleuchtet deshalb die Entmenschlichung von Arbeitskräften, die nicht nur durch den Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung, sondern auch durch die unsichtbare Präsenz von menschlicher Arbeit in der KI entsteht. Deshalb fordert Hahne mit ihrem Eröffnungsbeitrag einen Digitalen Humanismus, der nicht nur die Risiken des Arbeitsplatzverlustes berücksichtigt, sondern auch die Sichtbarkeit und Anerkennung der arbeitenden Menschen in der KI-Entwicklung.
Parallel dazu hebt Jana Koch in ihrem Artikel die enge Verbindung zwischen den Konzepten des Digitalen Humanismus und der Medienkompetenz hervor. Koch zeigt auf, wie beide Ansätze gemeinsame Ziele verfolgen: die Förderung von Demokratie, kritischem Denken und Grundlagenbildung sowie die Wahrung von Freiheit und Privatheit im digitalen Zeitalter. Sie argumentiert, dass ein kompetenter Umgang mit digitalen Medien und Technologien für die Teilnahme an demokratischen Prozessen unerlässlich ist. Der Digitale Humanismus, vertreten durch das Wiener Manifest, fordert eine ethische und demokratische Gestaltung digitaler Technologien, während Medienkompetenz, gemäß dem klassischen Modell des Medienpädagogen Dieter Baacke, den kritischen und reflektierten Umgang mit Medien betont. Beide Konzepte streben danach, das individuelle Verständnis und den verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Inhalten und Technologien zu stärken. Koch fordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Entwicklung verbindlicher gesetzlicher Strukturen, um die Förderung von Medienkompetenz und den Digitalen Humanismusvoranzutreiben.
Europa mag im globalen Wettstreit um die leistungsfähigsten KI-Modelle ins Hintertreffen geraten sein, doch wir haben eine andere, möglicherweise wichtigere Chance: den Fokus auf eine ethische, menschenzentrierte Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI). Laut Martin Giesswein kann Europa seine Stärke in der verantwortungsvollen Anwendung und Regulierung von KI auch gegenüber globalen Playern wie den USA und China ausspielen, etwa in der Medizin, Bildung oder beim Klimaschutz. Der erst vor kurzer Zeit in Kraft getretene europäische AI Act bietet dafür den entscheidenden juristischen, normativen und moralischen Rahmen. Mit klaren ethischen Maßstäben und Risikomanagement-Regeln fördert er Innovationen, schützt Grundrechte und sorgt für Vertrauen. Auch er setzt auf einen Digitalen Humanismus, der Technologie in den Dienst des Menschen stellt und dabei auch klare Regeln für gänzlich deregulierte Märkte formuliert. Europa – und damit auch Österreich – haben die Möglichkeit, den Kurs im KI-Wettbewerb neu zu definieren und Künstliche Intelligenz zu einer positiven Kraft für die Gesellschaft zu machen. Dies gerade dann, wenn der Digitale Humanismus nicht nur Theorie bleibt, sondern auf allen Ebenen in der politischen, sozialen und ökonomischen Praxis verankert wird.
Auch die Verbandsklagen-Richtlinie (VK-RL) bringt ein zivilprozessuales Instrument nach Europa, das Verbraucherschutzorganisationen ermöglicht, gegen Datenschutzverstöße von Tech-Konzernen vorzugehen. Sie erlaubt es, Schadenersatzklagen für Gruppen von Betroffenen zu erheben, ähnlich der US-amerikanischen „class action“. Der Artikel von Karl Wörle beleuchtet deshalb die Umsetzung der VK-RL in Österreich und die Vorteile für den Datenschutz u. a. im Vergleich zur Lage in den USA. Denn durch die Einführung kollektiver Klagen können Verbraucher*innen – auch hierzulande – verstärkt gegen Verstöße vorgehen, während ganz im Sinne des Digitalen Humanismus auch die Grenzen von Unternehmen und digitalen Maschinen aufgezeigt werden. Denn die VK-RL verpflichtet österreichische Behörden, die Durchsetzung von Datenschutzansprüchen zu verbessern. Kollektive Schadenersatzklagen und Unterlassungsansprüche durch Verbraucherschutzorganisationen bieten einen effektiveren Weg, Datenschutzverstöße zu bekämpfen und zu verhindern. Doch es bleibt Raum für Verbesserungen, etwa durch einen Opt-out-Mechanismus, der eine breitere Teilnahme der Geschädigten ermöglicht. Die neue Regelung ist ein bedeutender Schritt in Richtung einer gerechten digitalen Zukunft, die nachdrücklich im Sinne des Digitalen Humanismus ausgerichtet werden muss.
Zur Konsensfindung als gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit ist die bürgerliche Öffentlichkeit als freier Diskursraum unverzichtbar, wie Jürgen Habermas im Laufe seines langen Lebens immer wieder deutlich gemacht hat. Deshalb rekapituliert Niko Alm die Entstehung der bürgerlichen – und später proletarischen – Öffentlichkeit, die sich mühsam und jahrhundertelang gegen den Widerstand von Aristokratie und religiöser Realitätsverzerrung durchsetzen musste. Alm betont, dass die demokratische – oder deliberative – Demokratie sich auch im 20. Jahrhundert gegen alle Totalitarismen behaupten konnte und deshalb trotz aller Gefährdungen zum Grundbestand unserer Demokratien und Republiken zählen muss. Gerade deshalb sollte eingehend beschrieben werden, wie mit der Individualisierung und Singularisierung der Wahrnehmung von Realität durch soziale Netzwerke und Mediengewalt diese Öffentlichkeit im Rahmen des Neoliberalismus zu erodieren beginnt. Denn durch die Informationsflut und die schiere Menge an fabricated non-fiction – vorwiegend durch AI-tools erzeugte Inhalte, die Wirklichkeit simulieren – droht mit der Öffentlichkeit nun auch die Demokratie zu kollabieren. Gerade deshalb ist der Digitale Humanismus immer auch mit der Verteidigung der liberalen und sozialen Demokratie verbunden.
Zusammenfassend wollen wir gerade im Umfeld der Sozialdemokratie festhalten, dass der Digitale Humanismus einen Ansatz darstellt, der den Menschen und seine Lebensqualität in den Mittelpunkt der technologischen Entwicklung stellt. KI darf vor allem nicht dazu führen, dass menschliche Arbeit entwertet und unsichtbar gemacht wird. Der Mensch muss auch in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt sichtbar bleiben. Die Forderung nach einem menschenzentrierten Ansatz in der KI-Entwicklung, der nicht nur sichtbare, sondern auch unsichtbare Arbeitskräfte in den Blick nimmt, ist auch im Sinne einer sozialen Demokratie eine klare Ansage gegen die Entmenschlichung, die durch die gegenwärtige Digitalisierung der Arbeitswelt vorangetrieben wird. Gerade die Sozialdemokratie hat mithin einen politischen Auftrag, der mit den Modellen und Konzepten des Digitalen Humanismusidentisch ist.
Darüber hinaus freut es die Herausgeber*innen und die Redaktion zwei Beiträge präsentieren zu können, die über unser Schwerpunktthema hinausgehen. Unsere Leser*innen wissen bereits, dass wir immer wieder auf die ZEITGESPRÄCHE mit Gerhard Schmid verweisen, die bereits im Juni 2020 von der SPÖ-Bundesbildungsorganisation in Zusammenarbeit mit der SPÖ-Bundesgeschäftsstelle, dem Karl-Renner-Institut, dem Roten Rathausklub und der Wiener Bildungsakademie als neues Kommunikationsformat gestartet wurden. Auch in dieser Ausgabe hat Gerlinde Dobusch eines dieser ZEITGESPRÄCHE mit größter Sorgfalt redigiert und aufbereitet. Wir können deshalb ein Interview mit Johannes Huber präsentieren, das die Grenze von Glauben und Wissen, von Theologie und Naturwissenschaft auslotet. Huber war nicht nur Sekretär von Kardinal König, sondern ist auch ein weithin anerkannter Arzt und Endokrinologe dessen Thesen zu den „Bauplänen der Schöpfung“ – so einer seiner Buchtitel – breit diskutiert wurden. Damit steht freilich auch das Verhältnis von Sozialdemokratie und Religion zur Diskussion.
Den Abschluss unserer Ausgabe bildet dann eine bemerkenswerte Rezension, die Wolfgang Neugebauer, langjähriger Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), für unsere Leser*innen verfasst hat und die ebenfalls auf die Medizingeschichte verweist. Denn mit der Besprechung von Herwig Czechs Hans Asperger und der Nationalsozialismus. Geschichte einer Verstrickung (Psychosozial 2024) wird nicht nur der aktuelle Stand der Forschungen zur NS-Medizin zusammengefasst. Vielmehr wird deutlich, in welch erschreckendem Maße Mediziner wie Hans Asperger, die ihre NS-Involvierung nach 1945 lange zu vertuschen suchten, eine eminente und mehr als verstörende Rolle bei der Tötung von Kindern „Am Spiegelgrund“ spielten und also keineswegs entlastet werden können. Es entspricht deshalb dem antifaschistischen Auftrag der ZUKUNFT nicht mehr vom „Asperger-Syndrom“ zu sprechen …
Wie unsere Leser*innen sicher schon sehen konnten, haben zwei Herausgeber dieser Ausgabe, Alexander Schmölz und Alessandro Barberi, sich angesichts des Digitalen Humanismus entschlossen, die gesamte Bildstrecke dieser Ausgabe mit der KI von ChatGPT zu erstellen. Dabei haben wir die Prompts unabhängig voneinander eingegeben, wobei die digitalen Bilder von Alexander Schmölz zur Gänmze auf der Eingabe unserer einzelnen Beiträge beruhen. Erneut wird so an der Grenze von Mensch(en) und Maschine(n) deutlich, dass die theoretischen und ästhetischen Entscheidungen von Menschen selbst angesichts von generativer KI eine eminente Rolle spielen. Dies gilt nicht nur für die Eingabe, sondern auch für die Datensätze, die zur Produktion solcher Kunstwerke vorliegen müssen, damit ChatGPT überhaupt digital „arbeiten“ und Daten verbinden kann.
Am Ende dieser – und in Vorbereitung einer weiteren – Sonderausgabe wollen wir als erweiterte Redaktion der ZUKUNFT der FH des BFI Wien und der Arbeiterkammer Wien herzlich danken, die durch ihre Unterstützung die Stiftungsprofessur zum Thema Digitaler Humanismus an der FH des BFI Wien und somit inhaltlich auch diese Ausgabe möglich gemacht haben.
Es senden den Leser*innen der ZUKUNFT im Namen einer durchwegs humanistischen und d. h. menschlichen Redaktion herzliche und freundschaftliche Grüße
Pia-Zoe Hahne, Alexander Schmölz und Alessandro Barberi
PIA-ZOE HAHNE
ist Researcherin für Digitalen Humanismus an der Fachhochschule des BFI Wien und Doktorandin an der philosophischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Arbeit fokussiert auf Technikphilosophie, KI-Ethik und das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Akteur*innen und künstlicher Intelligenz. Sie hält einen MSc in Cultures of Arts, Science and Technology von der Universität Maastricht. Kontakt: pia.hahne@fh-vie.ac.at.
ALEXANDER SCHMÖLZ
hat die Stiftungsprofessur für Digitalen Humanismus an der FH des BFI Wien inne. Als versierter Medienpädagoge und Bildungswissenschaftler ist er geschäftsführender Leiter des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung und Researcher-in-Residence bei fit4internet. Darüber hinaus ist er als Editor-in-chief des Journals Digital Culture & Education (DCE) aktiv.
ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der ZEITSCHRIFT FÜR HOCHSCHULENTWICKLUNG (www.zfhe.at) sowie der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.