Der medienkompetente Beitrag von Jens Holze fasst für die Leser*innen der ZUKUNFT die grundlegenden Thesen des kanadischen Medientheoretikers Herbert Marshall McLuhan zusammen, diskutiert dabei die Re-Tribalisierung im Global Village und führt so Problemlagen der aktuellen Demokratietheorie vor Augen.
I. Einleitung
Wenn die 1990er Jahre als der Aufstieg der digitalen Netzmedien mit dem Internet als grundlegender Infrastruktur und dem World Wide Web als dominanter Applikation betrachtet werden können und wenn die 2000er und frühen 2010er Jahre als deren Transformation zu einem Social Web interpretiert werden können, während der einige wenige global agierende Player wie Google, Facebook, Microsoft, Apple oder Amazon ihre Dominanz im Netz haben verfestigen können und mittels ihrer großen Plattformen sich im Alltag von Milliarden von Menschen verewigt haben, dann sind die letzten 10 Jahre womöglich der Zeitraum in dem die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft anhand vieler Phänomene erfahrbar, verstehbar und empirisch erfassbar geworden sind.
Der ungebremste Optimismus aus der Gründerzeit des WWW ist damit auch längst einer bisweilen ungesunden Mischung aus Technologiepessimismus und diffusem Misstrauen gewichen. Die digital-vernetzte Welt aber ist da und sie wird nicht wieder verschwinden. Die ohnehin schon komplexe mediale Umgebung des späten 20. Jahrhunderts, selbst nur eine Station im anhaltenden Prozess der Mediatisierung (vgl. Krotz 2007) transformiert sich in eine digitale Medialität (vgl. Jörissen 2014), also eine Welt, die immer mehr und immer komplexer von Medientechnologien und da eben primär von digitalen Medientechnologien durchzogen ist. Aus der Perspektive einer Strukturalen Medienbildung (vgl. Jörissen und Marotzki 2009), einem pädagogischen Forschungsprojekt, dass sich in den letzten 20 Jahren insbesondere mit dem Einfluss von digitalen Medien auf Konzepte von Lernen und Bildung beschäftigt hat, erfahren wir unsere Umwelt, insofern sie sich nicht unmittelbar auf unsere physische Umgebung beschränkt, über (meist digitale) Medien.
II. Extensions of Man
Unsere fünf menschlichen Sinne sind zeitlich und örtlich stark begrenzt, mittels der die Welt umspannenden elektrischen Netze aber reichen sie in Echtzeit um den gesamten Globus und auch zurück in die Vergangenheit, solange von dieser Fragmente erhalten sind und digitalisiert vorliegen. Sich die Effekte von Medien bewusst zu machen ist Gegenstand diverser wissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere der Medienwissenschaft. Die ersten Bemühungen dazu gehen aber insbesondere zurück auf den kanadischen Literaturwissenschaftler Herbert Marshall McLuhan, der sich – unter anderem durch die Vorarbeiten von Harold Adams Innis inspiriert – gezielt damit beschäftigte, wie Medien (verstanden als Erweiterungen menschlicher Fähigkeiten und Sinne in die Welt) sich auf Gesellschaften und Kulturen aber auch auf das Individuum „auswirken“:
„Because all media, from the phonetic alphabet to the computer, are extensions of man that cause deep and lasting changes in him and transform his environment. Such an extension is an intensification, an amplification of an organ, sense or function, and whenever it takes place, the central nervous system appears to institute a self-protective numbing of the affected area, insulating and anesthetizing it from conscious awareness of what’s happening to it.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 226)
Dazu entwirft er in den Büchern Die mechanische Braut und Die Gutenberg Galaxie zunächst eine Mediengeschichte in vier Zeitaltern, die er primär als Mosaik von Aphorismen und Metaphern verfasst (vgl. McLuhan 1962) und dann 1964 in Understanding Media oder zu Deutsch Die magischen Kanäle einem breiten Publikum zugänglich macht. Folgt man der Argumentation von Jana Mangold (2018) dann handelt es sich bei McLuhan auch gar nicht um eine dedizierte Person als Autor, sondern vielmehr um ein Netzwerk an Ideengeber*innen und Denker*innen, die im Austausch von und mit McLuhan zu dessen Sonden, der mcluhanistischen Form des Gedankenexperiments, beitrugen und deren Ideen letztendlich so eng mit denen McLuhans re-mixed werden, dass eine klare Trennung nur aufwändig möglich zu sein scheint. Dabei kann man einerseits von einer Toronto -School sprechen, da hier viele der relevanten Protagonist*innen zu finden waren, andererseits geht dieses Wissensnetzwerk auch weit über einen einzelnen Standort hinaus. Für diese These spricht auch, dass McLuhan bis auf wenige Ausnahmen seine Bücher immer mit Kollaborationspartnern wie Edmund Carpenter, Quentin Fiore oder gar seinem Sohn Eric verfasst hat. Sein reger Austausch mit hunderten Personen ist auch in zahlreichen Briefen dokumentiert, die posthum veröffentlicht worden sind (vgl. McLuhan et al. 1987).
III. Vom elektrischen zum digitalen Zeitalter
McLuhan war folglich wohl eher ein Broker in einem weitverzweigten Wissensnetzwerk lange vor dem Internet und damit selbst Symptom seiner Welt der elektrischen Medien. Denn laut McLuhans Mediengeschichte wird das vierte und aktuelle Zeitalter mit dem Aufkommen der elektrischen Medien begründet, also Telefon, Telegrafie, Fernsehen und Radio. Diesen attestiert er nicht nur die sprunghafte Beschleunigung dank Kommunikation in Lichtgeschwindigkeit. Er geht von einer grundlegenden Transformation der visuellen Buchkultur aus, die insbesondere in westlichen Gesellschaften des Gutenberg-Zeitalters vorherrsche.
Dominant beschäftigt er sich dabei mit den Alltagsmedien der 1950er und 1960er Jahre, aber auch die aufkommende Computertechnologie hat er bereits im Blick. In seinem Playboy-Interview des Jahres 1969 orakelt er beispielsweise:
„The computer thus holds out the promise of a technologically engendered state of universal understanding and unity, a state of absorption in the Logos that could knit mankind into one family and create a perpetuity of harmony and peace. … Psychic communal integration, made possible at last by the electronic media, could create the universality of consciousness foreseen by Dante when he predicted that men would continue as no more than broken fragments until they were unified into an inclusive consciousness. In a Christian sense, this is merely a new interpretation of the mystical body of Christ; and Christ, after all, is the ultimate extension of man.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 253)
Dieses universelle Bewusstsein des zeichenorientierten Menschen, hängt an der Technologie des universalen Zeichens, dem binären Zeichensystem, welches jedes Alphabet, jedes Wort, jedes Bild und jeden Ton als Reihe von Nullen und Einsen, von Strom-An und Strom-Aus, darstellen kann. Gleichzeitig wird laut McLuhan durch neue Medien auch immer Altes wiedergewonnen. Für das elektronische Zeitalter, das wie es aktuell scheint auch als das digitale Zeitalter gelten kann, prophezeit er die Abkehr vom visuellen Raum und die Rückkehr zum akustischen Raum, der ohne Zentrum und Begrenzungen auskommt, wobei damit nicht nur der Tausch des Ohrs gegen das Auge (McLuhan 1962: 31f) rückgängig gemacht werde, sondern ein fundamentales Ungleichgewicht der Sinne insgesamt, bei denen das Sehen alles andere überragt. Diese Dominanz des Visuellen kann in ein sinnliches Äquilibrium überführt werden, bei dem alle Sinne wieder teilhaben (McLuhan und Zingrone 2005: 229f).
IV. Re-Tribalisierung im Global Village
McLuhan assoziiert dies mit dem Begriff der Re-Tribalisierung, einer Rückkehr zur Sinneswelt der Stammeskulturen, bei denen eben das besagte Gleichgewicht der Sinne noch ausgeprägt war, bevor erst das geschriebene und dann das gedruckte Wort die Macht übernahmen und damit andere Vergemeinschaftungsformen wie Imperien und Nationalstaaten ermöglichten. Durch die elektronischen Medien entstehe aber wieder das, was McLuhan als Globales Dorf (im Orig. Global Village) beschreibt (vgl. McLuhan 1962: 31, McLuhan 1992: 113):
„The effect of extending the central nervous system is not to create a world-wide city of ever-expanding dimensions but rather a global village of ever-contracting size. “The urb it orbs,” Joyce noted. […] The speed of information movement in the global village means that every human action or event involves everybody in the village in the consequences of every event. The new human settlement in terms of the contracted global village has to take into account the new factor of total involvement of each of us in the lives and actions of all. In the age of electricity and automation, the globe becomes a community of continuous learning, a single campus in which everybody, irrespective of age, is involved in learning a living.“ (McLuhan 1970: 40f)
In der Tat sind in den letzten Jahrzehnten einige von diesen Prophezeiungen eingetroffen. So hat sich der Globus zweifellos durch Prozesse der Globalisierung und der Digitalisierung merklich verkleinert, auch wenn dies zweifellos alles andere als ein schmerzfreier Prozess ist. Die aktuellen Entwicklungen zeigen allerdings auch auf, dass dabei nicht unbedingt nur ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl entstanden ist, sondern das gleichzeitig oder vielleicht sogar in stärkerem Maße ein Prozess der Fragmentierung eingesetzt hat, der dazu führt, dass vermeintliche gesellschaftliche Gemeinsamkeiten auf den Prüfstand kommen und hinterfragt werden. Die Fragen nach dem „richtigen“ Wirtschaftssystem, dem „richtigen“ politischen System, nach Gleichberechtigung der Geschlechter in einer wachsenden Geschlechterpluralität, nach der Rolle von Religion, nach den Errungenschaften der Aufklärung, der Wissenschaft und letztendlich die moderne Frage nach der Wahrheit, alle diese Themen sind aktuell wieder in teils erbittert geführten Debatten präsent und stellen den vermeintlichen politischen oder gesellschaftlichen Konsens (so es ihn jemals gab) in Frage.
Und dabei werden nicht nur Meinungen und Einschätzungen in Frage gestellt, sondern immer mehr die ihnen zugrundeliegenden Fakten. Institutionen und Systeme, die bislang eben diese Fakten verbreitet haben, bekommen Konkurrenz von Institutionen und Systemen für alternative Fakten, die nicht objektiven Kriterien von Wahrheit genügen müssen, sondern vielmehr dem Gefühl einer kritischen Masse entsprechen. Wir erleben damit eine beispiellose Fragmentierung von Gesellschaften entlang aller denkbarer Grenzen: Ökonomisch zwischen arm und reich, politisch zwischen links und rechts, kulturell, ideologisch, religiös, technologisch und so weiter. Was ist geschehen? Lag McLuhan falsch?
In seinem letzten Buch Laws of Media versuchten Marshall und sein Sohn Eric die gesammelten Erkenntnisse zu den Effekten von Medien systematisch zu ordnen und erschufen damit die sogenannten Medientetrade. Demnach bringt jedes Medium Effekte in vier Dimensionen in die Umgebung ein, in der es entsteht: Jedes Medium hat eine verstärkende (enhance), veraltende (obsolesce), zurückgewinnende (retrieve) und eine umkehrende (reverse oder flip) Dimension (McLuhan und McLuhan 1988: 129). Ich will insbesondere die letzte Dimension der Umkehrung in den Blick nehmen. Hierzu schreiben sie: „When pushed to the limits of its potential (another complementary action), the new form will tend to reverse what had been its original characteristics“ (McLuhan und McLuhan 1988: 99).
Meine These sei daher, dass die kontinuierliche Verbreitung des Internets und seiner Dienste über die letzten Jahre als der bislang letzte Schritt in der Evolution elektronischer Medien die Menschheit so nah zu einander gebracht hat, dass sich diese Funktion nun beginnt in das Gegenteil zu verkehren: sie fragmentiert oder sie ermöglicht die Fragmentierung des gemeinsamen Bewusstseins. Viele aktuelle Beobachter*innen greifen dieses Phänomen in unterschiedlichen Perspektiven auf, unter anderem Felix Stalder in seiner Kultur der Digitalität oder Andreas Reckwitz in seiner Gesellschaft der Singularitäten. Meist werden digitale Medien aber lediglich als Symptom (spät-)moderner Transformationsprozesse untersucht, nicht aber als deren Voraussetzung.
V. Die magischen Kanäle und das Ende einer Demokratie?
In Die Magischen Kanäle hebt McLuhan dutzende Male auf die elektronischen Medien als implosive Kraft ab, also eine Explosion, die nicht Fragmente nach außen verteilt, sondern aufgrund hohen Außendrucks nach innen. Eine mögliche Interpretation wäre: Die Menschheit kann sich auf dem runden Planeten nicht länger vor sich selbst verstecken, weil selbst die Katastrophen auf der gegenüberliegenden Seite aufgrund der engen auch digital getriebenen Vernetzung spürbare globale Konsequenzen haben, denen wir nicht entrinnen können. Besonders greifbar scheint dies mit Blick auf die Klimakrise zu sein, zu der alle Menschen in unterschiedlichen Graden beitragen und von der letztendlich alle betroffen sind oder sein werden. McLuhan stellt einen dynamischen Prozess in Aussicht, der alles erfasse. Die Veränderung, so schreibt er immer wieder, sei die einzige Konstante im elektronischen Zeitalter (z. B. McLuhan et al. 1987: 253). Als er im Playboy-Interview gefragt wird, „ob“ die etablierte Demokratie das Globale Dorf überleben werde können, antwortet McLuhan unmissverständlich:
„No, it will not. The day of political democracy as we know it today is finished. Let me stress again that individual freedom itself will not be submerged in the new tribal society, but it will certainly assume different and more complex dimensions. The ballot box, for example, is the product of literate Western culture – a hot box in a cool world – and thus obsolescent. The tribal will is consensually expressed through the simultaneous interplay of all members of a community that is deeply interrelated and involved, and would thus consider the casting of a ‘private’ ballot in a shrouded polling booth a ludicrous anachronism. The TV networks’ computers, by ‘projecting’ a victor in a Presidential race while the polls are still open, have already rendered the traditional electoral process obsolescent.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 252)
Beinahe lassen sich die aktuellen Wahlen in den USA als Echo eben dieser Einschätzung wahrnehmen. McLuhan ruft hier zunächst nur das Ende der Form der Demokratie seiner Zeit aus, und man kann kaum widersprechen, dass auch demokratische Systeme und Institutionen sich seit 1969 spürbar verändert haben. Er ruft aus meiner Sicht aber nicht das Ende der Werte einer deliberativen Demokratie aus. Er verweist vielmehr darauf, dass elektronische und damit auch digitale Medien ganz andere Beteiligungsmöglichkeiten an öffentlichen Diskursen erschließen werden. Und er weist auch darauf hin, dass das, was wir unter dem Begriff deliberative Demokratie verstehen, sich verändern muss und dann gegebenenfalls ein anderes Label tragen wird. Ein anderes Verständnis von Privatheit oder Individualität, das hier impliziert wird, eine Tendenz zu globalem Bewusstsein, eine Rückkehr zu tribalen Formen, die Unmittelbarkeit eines Globalen Dorfes, dies wird auch politische Systeme zu Veränderungen zwingen, wenn sie nicht selbst Gefahr laufen wollen, obsolet zu werden.
VI. Conclusio
Einige Ausläufer sehen wir womöglich schon. Nur als Beispiel: demokratiefeindliche Kräfte in demokratisch gewählten Parlamenten, das ist mittlerweile eine Realität geworden, die viele sich nicht hätten träumen lassen. Öffentliche Diskurse gibt es weiter, aber nicht die eine Öffentlichkeit mit dem einen konsensualen Set an Fakten. Dadurch entstehen Teilöffentlichkeiten und fragmentierte Diskursräume, die immer weniger miteinander verbunden sind. Das ist nicht eine Konsequenz der Technologien selbst, sondern der Service-Umgebungen, die diese herstellen und die für uns vielfach „unsichtbar“ erscheinen:
„So ‚the medium is the message‘ is not a simple remark, and I’ve always hesitated to explain it. It really means a hidden environment of services created by an innovation, and the hidden environment of services is the thing that changes people. It is the environment that changes people, not the technology.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 241)
Und hier lässt sich auch die Brücke zu Fragen von Bildung spannen: Wenn uns die Umgebungen, die digitale Medien aufspannen, aktuell noch größtenteils unsichtbar bleiben und wir nur langsam anhand ihrer Effekte ihrer Konsequenzen gewahr werden, dann besteht die Gefahr, dass unser derzeitiger Umgang damit in breiter Ignoranz fußt. Wir sollten also Vorsicht walten lassen bei den laufenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, um nicht Opfer unserer eigenen Medienwelt (und eben nicht der sie herstellenden Technologien) zu werden.
Literatur
Jörissen, Benjamin (2014): Digitale Medialität, in: Handbuch pädagogische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas, Wiesbaden: Springer VS, 503–513.
Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried (2009): Medienbildung – Eine Einführung: Theorie – Methoden – Analysen, Stuttgart: UTB.
Krotz, Friedrich (2007): Mediatisierung – Fallstudien zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden: Springer VS.
Mangold, Jana (2018): McLuhans Tricksterrede: Archäologie einer Medientheorie, Berlin: de Gruyter.
McLuhan, Corrine et al. (1987): Letters of Marshall McLuhan, New York: Oxford University Press.
McLuhan, Eric/Zingrone, Frank (2005): Essential McLuhan, London: Taylor & Francis.
McLuhan, Herbert M. (1962): The Gutenberg galaxy – the making of typographic man, London: Routledge & Paul.
McLuhan, Herbert M. (1992): Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf: Econ.
McLuhan, Herbert M./McLuhan, Eric (1988): Laws of Media, Toronto: University of Toronto Press.
McLuhan, Herbert M. (1970): Counterblast, London: Rapp & Whiting Ltd.
JENS HOLZE ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Pädagogik und Medienbildung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.