In ihrem Beitrag zeichnet EVELYN REGNER, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und SPÖ-Europaabgeordnete, nach, was sich in den letzten Jahren auf europäischer Ebene dank starker Sozialdemokratie und Gewerkschaft zugunsten von Frauen, Mädchen und somit der Gesellschaft als Ganzes getan hat.
I. Einleitung: Zeitenwende
Vor knapp fünf Jahren fanden die letzten Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Heuer – 2024 – stehen wir wieder in einem Wahljahr. Doch seit der letzten Konstituierung hat sich Einiges getan. 2019 lebten wir in einem anderen Europa – in einer anderen Welt – als 2024. Damals war Großbritannien noch Mitglied in der EU, Coronaviren eigentlich nur Virolog*innen bekannt und ein großflächiger Angriffskrieg an der EU-Grenze in weiter Ferne, geradezu denkunmöglich in der Bevölkerung. Mehrere Kriege, anhaltende Pandemie und Teuerung haben unser Leben mittlerweile stark verändert und zusätzlich ordnen der Klimawandel und die Digitalisierung unsere Gesellschaft neu. Doch wer in Anbetracht dieser Herausforderungen glaubt, irgendwer oder irgendein Land könnte sich dieser Zeitenwende – wie Olaf Scholz sie treffend nennt – allein stellen oder sie gar aufhalten, hat diese unübersehbaren Zeichen der Zeit nicht verstanden. Für mich ist ganz klar: Nur ein gemeinsames Europa kann die Antwort auf diese Herausforderungen sein.
II. Die Krisen und Europa
Krisen sind also quasi die neue Normalität. Veränderung damit ebenso. Und in Letzterem liegt unsere Chance, denn es braucht auch Veränderung, damit Verteilungsgerechtigkeit, damit Gleichstellung und Demokratie gestärkt werden. Aktuell sehen wir massive Desinformationskampagnen vor allem aus Russland, um die Wahlen zu beeinflussen und die europäische Gesellschaft zu spalten. Zuletzt die Bauernproteste, die durch Falschinformationen gegen „die EU“ massiv befeuert werden – natürlich auch mit Auswirkungen auf die kommenden EU-Wahlen.
Es ist uns allen klar, dass die politische Kooperation von 27 Mitgliedstaaten, von 450 Millionen Europäer*innen, nicht immer einfach ist. Aber damit diese vielen verschiedenen Meinungen, Geschichten, Ideen und Blickwinkel auch tagtäglich beitragen können, dafür gibt es das EU-Parlament. Es ist die einzige wirklich direkt demokratisch gewählte Vertretung der Bürger*innen. Wir setzen uns für ein bezahlbares Leben, einen sozial gerechten Klimaschutz, klare Regeln für digitale Megakonzerne und auch eine feministische EU ein. Nicht alle von allen Parteien, aber immer mehr und immer erfolgreicher. Und in den letzten Jahren ist uns unglaublich viel gelungen!
III. Frauenpolitik und Lohnschere
Wir haben vor allem in der Frauenpolitik so viel gleichzeitig erreicht, wie noch nie zuvor auf europäischer Ebene. Einerseits im Bereich der finanziellen Unabhängigkeit und Teilhabe, andererseits in den ganz grundsätzlichen Fragen des Alltags. Verteilungsgerechtigkeit ist auch hier mehr als ein Schlagwort und zwar nicht nur aus sozialer Perspektive, sondern ganz plakativ gesagt, wenn es um’s Geld geht. Frauen verdienen mehr, denn die Realität sind knapp 20 % Lohnschere und knapp 40 % Pensionslücke in Österreich. Die Pandemie hat uns mal wieder gezeigt, was Frauen jeden Tag leisten – oft unbezahlt und ungesehen. Das wollen und müssen wir ändern. Auch deswegen gibt es jetzt europäische Mindestlöhne und eine Stärkung der Kollektivverträge durch die EU. 60 % der Mindestlohnbezieher*innen in der EU sind Frauen. Diese Anpassung der Mindestlöhne an Durchschnittswerte pro Mitgliedsland kann bereits 5 % der Lohnschere schließen. Aber natürlich braucht es noch mehr Maßnahmen, daher haben wir auch ein Lohntransparenzgesetz durchgesetzt – endlich. Damit soll bis 2030 die Lohnschere in ganz Europa Geschichte sein. Verpflichtende Maßnahmen, harte Strafen, Beweislastumkehr zugunsten der Beschäftigten, Datenerfassung und noch vieles mehr. Für Österreich besonders wichtig: Es darf keine Verbote mehr geben, z. B. mit Kolleg*innen über das eigene Gehalt zu reden. Und jede*r hat jedes Jahr ein Recht darauf, die Durchschnittslöhne im eigenen Job zu erfahren. Alles ungemein wichtig, damit diese schreiende Ungerechtigkeit endlich ein Ende hat.
IV. Gleichstellung
Eine neue Studie der Weltbank (World Bank 2023) hat erstmals weitere Faktoren bei der Frage der Gleichstellung erfasst, unter anderem das Thema Kinderbetreuung. Und – kaum überraschend für uns Frauen – die Gleichstellung ist sogar noch weniger vorangeschritten als bisher angenommen. Kein einziges Land hat es geschafft, mehr als 40 % der erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um echte Gleichstellung zu erreichen. Würden Institutionen zum Beispiel im Care-Bereich ausgebaut, um die Lücke zu schließen, würde das BIP weltweit um 20 % steigen – und damit doppelt so viel, wie wenn wir weitermachen wie bisher. Und noch dazu durch grüne sowie soziale Jobs – vor allem auch für Frauen (sofern sich an der Verteilung zwischen Sektoren nichts ändert). Gründe sind neben den Kinderbetreuungsproblemen, unfaire Rechtsvorschriften und Gewalt.
V. Gewalt gegen Frauen
Gewalt gegen Frauen und Mädchen – online sowie offline – hat in den letzten Jahren nicht nur Österreich mit seinem Femizidproblem stark beschäftigt, sondern auch uns in Europa. Wir wollten einen Mindeststandard etablieren – und zwar einen verpflichtenden. Jede ermordete Frau ist eine zu viel. Die Prävention, inklusive Männerarbeit, Polizeischulungen und Datenerfassung, sind ein Aspekt neben dem Kern: der Definition von Straftatbeständen und Mindeststrafen. Ein großer Skandal dabei: Konservative, Liberale und Rechte haben verhindert, dass VerGEWALTigungen ebenso eine europaweite Straftat sind. Also wir sehen: viel erreicht für uns Frauen, aber dennoch auch weiterhin viel zu tun.
Evelyn Regner im Europäischen Parlament © EP / CCR
VI. Conclusio
Die Antwort darauf kann nur gut durchdachte Politik auf Augenhöhe sein. Wir müssen sicherstellen, dass auch trotz solcher Rückschläge der Blick auf all die erreichten Fortschritte – und ich habe sie selbst für den Bereich der Frauenpolitik nur grob angeschnitten – nicht übersehen werden. Es kommt unglaublich viel Gutes aus Europa, weil wir alle, die wir die Europäische Union sind, das schaffen. Und daher möchte ich auch die Leser*innen der ZUKUNFT an dieser Stelle einladen, sich aktiv zu beteiligen. Die EU sind wir alle und sie ist, was wir daraus machen. Wir entscheiden am 09. Juni 2024 über den Kurs der nächsten fünf Jahre und ich wünsche mir, dass wir ein starkes Signal an die ganze Welt senden. Ich werde weiterhin tagtäglich daran arbeiten, meinen Beitrag zu leisten. Und mit Ihrer Unterstützung bei der Wahl und mit Ihren Ideen darüber hinaus, bin ich mir sicher, dass wir dieses einzigartige Demokratie- und Friedensprojekt noch besser machen können … auf dem Weg in eine nachhaltige und vor allem solidarische, soziale und feministische Zukunft für uns alle.
EVELYN REGNER
ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und seit 2009 SPÖ-Europaabgeordnete. Die studierte Juristin arbeitet als Gewerkschafterin insbesondere für die Beschäftigten in ganz Europa und damit Österreich. Sie hat in den letzten Jahren einen Schwerpunkt auf Verteilungsgerechtigkeit, inklusive Steuerpolitik, und Frauenrechte gelegt. In diesen Bereichen konnte sie mit ihrem Team einige europäische Gesetze erwirken, verhandeln und ausschlaggebend gestalten (z. B. Lohntransparenz, Konzernsteuerbemessungsgrundlage etc.).
Literatur
Weltbank (2023): Women, Business and the Law 2023, online unter https://hdl.handle.net/10986/39462 (letzter Zugriff: 01.04.2024)