Ohne Digitalisierung würde heute vermutlich kaum mehr etwas funktionieren. Deshalb sieht die Wirtschaft in zunehmender Digitalisierung ein riesiges Rationalisierungspotenzial, und Staaten wie Estland setzen schon lange auf nationale Digitalisierungsstrategien und sind damit auch erfolgreich. In seinem Beitrag anerkennt JOSEF REDL die vielfältigen Vorteile der Digitalisierung für Wirtschaft und öffentliche Verwaltung, setzt sich aber auch mit deren Kehrseite für bestimmte Bevölkerungsgruppen und für die Gesellschaft insgesamt auseinander.
I. Einleitung
Um wahrscheinliche Einwände gleich vorwegzunehmen: die Digitalisierung ist schon längst Teil unseres Lebens geworden, ist heute aus Beruf und Alltag nicht mehr wegzudenken, Wirtschaft und Verwaltung brauchen und nutzen sie zur Erhöhung der Produktivität, sie bringt – denkt man nur an das Internet und was heute über Handy oder PC alles abgewickelt werden kann – (fast) jedem von uns eine Reihe früher unvorstellbarer Vorteile. Und sie wird durch die künstliche Intelligenz, davon kann ausgegangen werden, noch einmal einen riesigen Schub erhalten. Digitalisierung ist aber auf der anderen Seite auch mit beträchtlichen gesellschaftlichen Implikationen und Herausforderungen verbunden, über die man nicht hinwegsehen kann. Wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten. Digitalisierung ist daher alles andere als ein Randthema – weder wirtschafts- noch gesellschaftspolitisch. Im Gegenteil: Sie ist Tag für Tag praktisch in allen Lebenslagen präsent und reicht in viel mehr Bereiche hinein als hier exemplarisch angerissen werden kann.
II. Soll es ein Recht auf ein analoges Leben geben?
Beschäftigen wir uns erst einmal mit jenen meist älteren Menschen, an denen sie noch immer mehr oder weniger vorbeiläuft und denen nicht nur droht, von ihr an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Sie müssen u. U. auch finanziellen Schaden in Kauf nehmen, weil etliche Services, Vergünstigungen, Rabattaktionen etc. nur mehr digital wie z. B. über Apps zugänglich sind. Ist man heute „aufgeschmissen“, wenn man kein Smartphone und keinen Internetzugang hat und der „Durchschnittsbürger“ sich diese Selbstverständlichkeiten vielleicht auch gar nicht leisten kann? Aber auch wenn man über derlei ohnehin verfügt, sind die Hürden für „Digitalisierungswillige“ manchmal nicht zu unterschätzen. Das weiß man spätestens dann, wenn man mutig genug für den nicht enden wollenden Hindernislauf war, sich für ID Austria registrieren zu lassen.
Nicht zuletzt deshalb hat dieses Thema mit dem Schlagwort „Recht auf ein analoges Leben“ mittlerweile auch in die politische Debatte Eingang gefunden. Ob das, ein Anspruch auf ein analoges Leben, auf längere Sicht der richtige Weg ist, möge allerdings dahingestellt bleiben. Aber einfach darauf zu hoffen, dass wir jetzt in einer Übergangszeit wären und „die Alten“ aufgrund entsprechender Ausbildungsangebote in 10 bis 15 Jahren ohnehin bereits alles aufgeholt haben werden, bleibt bestimmt ein frommer Wunsch. Allein schon deshalb, weil sich das technologische Rad unaufhörlich und mit rasender Geschwindigkeit weiterdrehen wird und Senior*innen dem aktuellen Stand der Dinge vermutlich immer hinterherhoppeln werden. So einfach ist dieses Problem also nicht zu lösen!
III. Veränderungserschöpfung und ihre Folgen
Aber gibt es Schattenseiten der Digitalisierung auch für junge Erwachsene und für Menschen in der Mitte des Lebens? Und ob! Denn zur je nach Job (welcher ist überhaupt noch frei von Digitalisierung?) vielleicht noch moderaten bis hin zur praktisch beruflichen Volldigitalisierung kommt in diesem Fall noch die Vielfalt dessen, was heute im Privatleben alles darauf wartet, digital abgewickelt zu werden. Weil man sich dadurch Wege erspart oder – siehe oben – es oft auch keine analogen Alternativen mehr gibt, Notwendiges auf herkömmliche Weise zu erledigen. Von Onlinebanking und FinanzOnline angefangen bis zu vielen anderen digitalen „Amtswegen“ wie z. B. der in Krisenzeiten besonders häufig vorgekommenen Beantragung von Förderungen jeder Art. Und natürlich ist das nicht immer ganz so easy, wie es dargestellt wird. Geht es doch Behörden wie auch Unternehmen auch darum, ihren Bürger*innen und Kund*innen schmackhaft zu machen, dass sie ihre Dienstleistungen und Services jetzt – überspitzt formuliert – gefälligst einmal selbst in die Hand nehmen sollen. „Do it yourself“ also statt, wie früher gewohnt, Teil des normalen Kundendienstes einer Organisation. Erläutert werden muss das nicht weiter, weil jeder bestimmt sein eigenes Lied dazu singen kann.
Einen vorläufigen Höhepunkt hat diese Entwicklung – Eltern mit vielleicht auch mehreren schulpflichtigen Kindern mögen sich ziemlich ungern daran erinnern – in Pandemiezeiten erreicht, als sie gezwungen waren, sich neben dem Homeoffice auch noch mit dem digitalen Schulunterricht ihrer Sprösslinge zu befassen. Die Folge davon war nicht selten das, was Soziologen heute Veränderungserschöpfung nennen. Der digitale Stress wird einfach zu viel, Entspannung ist nicht mehr möglich und gesundheitliche Folgen, von Schlafstörungen bis zu Depression, Burnout etc. drohen. Kann also sein, dass in dieser Altersgruppe die Gesundheit, stressbedingt und weil man bei ständiger Überforderung kaum noch zur Ruhe kommen kann, am stärksten auf dem Spiel steht!
IV. Digitalisierung ab dem Kleinkindalter: eine Gefahr für Gehirnentwicklung und Augengesundheit
Aber noch gefährlicher könnten die Langzeitfolgen der Digitalisierung allerdings bei unseren Jüngsten, den Kindern und Jugendlichen, sein. Einfach deshalb, weil sie im Gegensatz zu früheren Generationen schon von Kindesbeinen an jede Menge Zeit vor Bildschirmen verbringen. Sind bereits mit drei Jahren mit Handys herumspielende Kinder heute noch eine Ausnahme? Ich denke nein. Mit Folgen für die Gehirnentwicklung, mit dem Auftreten von Defiziten, was Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit betrifft, bis zu möglicherweise dramatischen Auswirkungen (die Kurzsichtigkeit nimmt, Augenärzte bestätigen das, besorgniserregend zu!) auf deren Augengesundheit. Zumindest solange, bis die Sprachein- und -ausgabe in der Digitalisierung noch keine größere Rolle spielen. Wobei es für die negativen Auswirkungen zu langer Bildschirmzeiten auf die Augen eine ganz einfache Grundregel gibt, nämlich: je kleiner der Bildschirm, desto weniger Augenbeweglichkeit und daher umso schädlicher.
Wie die Welt der Kinder heute aussieht, wissen wir und können sich auch jene vorstellen, die selbst keine Kinder haben. Dennoch lohnt es sich, sich vor Augen zu führen, wie eindrücklich dies der renommierte japanische Augenarzt Dr. Kazuhiro Nakawaga in seinem Buch Augen Yoga (2017) beschreibt:
„Heutzutage spielen die Kinder kaum noch in der freien Natur, sondern größtenteils im Haus und wenn sie doch einmal nach draußen gehen, in einen Park beispielsweise, spielen sie da ihre gewohnten Videospiele weiter. Damit sind sie die meiste Zeit beschäftigt, und natürlich kommt es dann auch nicht mehr häufig zu Gesprächen mit ihren Eltern. Und selbst wenn solche Gespräche stattfinden, sind sie innerlich doch anderswo. Da mögen die schönsten Blumen im Garten wachsen, verwilderte Katzen durch die Gassen streunen oder der Vollmond am Himmel stehen, die Kinder nehmen so etwas gar nicht mehr wahr, so sehr lassen sie sich von ihren Spielen vereinnahmen. Den Rest der Welt blenden sie einfach aus. Wenn ein Kind nur noch die über einen Bildschirm huschende virtuelle Welt im Sinn hat, wird seine Persönlichkeit zwangsläufig verbildet, und die Sehkraft – das äußere und innere Sehvermögen – kann sich nicht weiterentwickeln. Wenn wir das vermeiden möchten, müssen wir unsere Kinder wieder für die echte Natur jenseits ihrer Bildschirme begeistern, wir müssen ihnen mitreißende Ausblicke bieten, die sie zum Staunen bringen, und ihnen die Welt der unendlichen Möglichkeiten erschließen.“
Und wenn die Kinder nach Kindergarten oder Schule dann wieder mit ihren Eltern zusammen sind, treffen sie auf Erwachsene, die sieben, acht Stunden vor dem Computer gesessen sind, um dann zu Hause mit dem Smartphone und dem Surfen im Internet weiterzumachen. Das mag zwar etwas überspitzt formuliert sein, für Nakawaga sind das aber die besten Brutbedingungen für computerbedingte Kurzsichtigkeit und andere gravierende Beeinträchtigungen des Sehvermögens, die im Vormarsch sind.
Anstatt dieses Thema hier im Detail noch weiter ausführen zu können, hier nur einige weitere prägnante Aussagen dieses japanischen Arztes:
- Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es in Japan praktisch niemanden mehr gibt, der tatsächlich gut sieht.
- Computerbedingte Kurzsichtigkeit ist ein deutliches Warnzeichen. Sie müssen dafür sorgen, dass alle Einschränkungen der Blutzufuhr zu den Augen beseitigt werden, um der Gefahr der Erblindung vorzubeugen.
- Bei Leuten mit eingeschränktem Sehvermögen findet man erstaunlich häufig Nackensteifigkeit und verspannte Schultern vor.
- Solche Verspannungen können sich den Nacken und Hals hinauf fortsetzen und die Durchblutung des Gehirns und der Augen behindern. Deshalb besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Nacken- und Schultersteifigkeit einerseits und unserem Sehvermögen andererseits.
- Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kann dadurch die Blutversorgung des Gehirns bis zu drei Viertel der normalen Blutmenge verringert werden, was einen Niedergang der Gehirnleistung in allen Bereichen nach sich zieht.
- Und last but not least: Die LED-Hintergrundbeleuchtung der Bildschirme mit einem hohen Anteil an blauem, also kurzwelligem Licht, belastet die Augen stärker als das natürliche Licht der Sonne. Neuere Untersuchungen bestätigen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem bläulichen LED-Licht und der gefürchteten Makuladegeneration.
Zurück zu den Kindern: Was kann man schon in der Kindheit tun, um Spätfolgen einer permanenten Augenüberlastung so gering wie möglich zu halten? Von Expert*innen wird beispielsweise nicht nur eine Limitierung der täglichen Zeit am Handy empfohlen, sondern auch, dass die Kids – zu hören gewesen in Ö1 – mindestens 2 bis 3 Stunden täglich im Freien verbringen sollten. Damit wäre schon viel getan, und das auch in immer mehr Ländern durchgesetzte Verbot der Handynutzung in Schulen geht grundsätzlich in die gleiche richtige Richtung. Wo der empfohlene Aufenthalt im Freien häufig der Fall ist wie z. B. in Australien, ist die Augengesundheit deutlich besser als etwa in China. Was Österreich betrifft, muss man sich fragen, warum solche für das spätere Sehvermögen extrem wichtige Fragen in der heimischen Gesundheits- und Bildungspolitik praktisch kaum vorkommen. Und warum es dazu nicht einmal einen entsprechend lauten Aufschrei der sonst auch nicht immer leisen Österreichischen Ärztekammer gibt, bleibt auch rätselhaft.
V. War’s das damit dann? Sicher nicht!
Um zu einem Abschluss zu kommen: Natürlich wirkt sich die Digitalisierung auch noch auf viele andere wichtige Bereiche aus wie z. B. auf den künftigen Arbeitsmarkt, was ein Kapital für sich wäre und daher hier ausgespart werden soll. Sowie z. B. auf die Frage, was mit unseren Daten passiert, die im Zuge der Digitalisierung im Sinne von Big Data von den großen Technologieplayern dieser Welt auf elegante Weise abgesaugt und kommerziell verwertet werden. Selbst wenn dieser Umstand die Mehrheit der Bevölkerung scheinbar kalt lässt, würde es dann endgültig Schluss mit lustig sein, sollten diese Daten eines Tages in die Hände von autoritären Systemen wie China gelangen, das mit seinem Sozialkreditsystem seine Bürger*innen bekanntlich bereits großflächig überwacht. Man braucht also gar nicht in die Geschichte zu schauen, um zu sehen, was eines Tages alles möglich sein und auch unsere Demokratie gefährden könnte …
VI. Fazit
Digitalisierung ist ein wichtiges Thema für die Wirtschaft, für die Bürger*innen und für die Konsument*innen. Aber sie ist auch weitaus mehr, weil man ihre Schattenseiten nicht länger ausblenden kann. Mögen sich die politischen Entscheidungsträger*innen diesen in Hinkunft stärker widmen als bisher, weil es sonst zu stillen, aber unabsehbaren gesellschaftlichen Verwerfungen kommen kann. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft zu interdisziplinärem Denken, sowohl deren Vor- als auch deren Nachteile in den Blick zu nehmen und bei der Digitalisierung nicht nur auf deren wirtschaftlichen Nutzen zu starren. Sondern sie in einem größeren Rahmen zu sehen, um unerwünschten Entwicklungen vorzubeugen bzw. – sind sie bereits eingetreten – effizient gegensteuern zu können.
PS: Und aus aktuellem Anlass abschließend noch einige Anmerkungen aus der Sicht der Marktforschung. Einige Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit der Digitalisierung lassen sich mit vor einigen Wochen erschienenen und sehr aussagefähigen Daten des Linzer Market Institutes untermauern. Umfrageergebnisse aus 1997 wurden dabei mit aktuellen aus 2024 verglichen. So befindet sich die Angst der Österreicher*innen vor Gefahren aus dem Internet bereits auf dem hohen Niveau von 56 % – hier gibt es keine Vergleichsdaten aus 1997. Oder, anderes Thema: die Angst vor psychischen Krankheiten und Depressionen ist von 1997 bis 2024 von 28 % auf beachtliche 51 % gestiegen. Dafür gibt es natürlich mehr „Überforderungsgründe“ als die Digitalisierung allein. Ebenso wie für die Angst um die Zukunft der Kinder, die – sehr bedenklich – im selben Zeitraum von 67 % auf hohe 86 % gestiegen und damit mittlerweile zur größten Sorge der Österreicher*innen aufgestiegen ist!
JOSEF REDL
ist Betriebswirt und war beruflich in verschiedenen Funktionen in der österreichischen Finanzwirtschaft und danach lange Zeit ehrenamtlich tätig. Journalistisch – er ist auch Mitglied des Klubs der Wirtschaftspublizisten – ist es ihm ein Anliegen, komplexe und oft auch kontroversiell diskutierte Problemfelder interdisziplinär und in Gesamtzusammenhängen zu betrachten, um so vielleicht auch zu neuen Lösungsansätzen beizutragen.