Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Der Ukraine-Krieg als Game Changer? – VON GERHARD MARCHL

Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Der Ukraine-Krieg als Game Changer? – VON GERHARD MARCHL

In seinem Beitrag analysiert GERHARD MARCHL zunächst die Stärken und Schwächen in der Reaktion der Europäischen Union auf die Aggression Russlands gegen die Ukraine. Darauf aufbauend befasst er sich mit aktuellen Debatten zur Stellung der EU in der Welt und zeigt die nötigen Schritte auf dem Weg zu einer handlungsfähigeren EU auf.

I. Ukrainekrieg: Die EU beweist Handlungsfähigkeit

Der erste Befund mag manche überraschen: Die Europäische Union (EU) hat stark und geeint auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reagiert. Bereits einen Tag nach dem Überfall am 24. Februar 2022 hat die EU weitere Sanktionen gegen Moskau verhängt. Mittlerweile wurden dreizehn Sanktionspakete beschlossen. Die Strafmaßnahmen betreffen über 1.000 Einzelpersonen, darunter die führenden Politiker*innen, die die Hauptverantwortung für die Aggression tragen, aber auch Soldaten, die Kriegsverbrechen begangen haben. Die betroffenen Personen unterliegen Reiseverboten in die EU und ihre Vermögen wurden eingefroren. Die Wirtschaftssanktionen betreffen den Austausch von Waren und Dienstleistungen, den Zahlungsverkehr, den Straßen- und Luftverkehr und die Einfuhr von Erdöl. Mit den Wirtschaftssanktionen soll Russland nicht nur bestraft, sondern vor allem auch von moderner Technologie abgeschnitten werden, insbesondere im Rüstungsbereich. Weiters wurde die Vergabe von Visa an russische Staatsbürger*innen massiv eingeschränkt. Alles in allem kann von robusten Sanktionen der EU gegen Russland gesprochen werden.

Ebenso eindrucksvoll ist die Unterstützung der EU für die Ukraine. Bisher hat die EU mehr als 80 Milliarden Euro für das vom Krieg geplagte Land bereitgestellt. Dazu zählen rund 48 Milliarden Euro für das wirtschaftliche und soziale Überleben des Landes. Ebenso bemerkenswert ist die militärische Hilfe in der Höhe von bisher 33 Milliarden Euro. Am 1. Februar fasste die EU den Beschluss, im Rahmen der sogenannten „Peace Facility2 weitere 50 Milliarden Euro bereitzustellen. Zu den bisher genannten Geldern kommen weitere 17 Milliarden Euro für die Unterstützung von Geflüchteten und Vertriebenen aus der Ukraine sowie beachtliche humanitäre Hilfeleistungen hinzu – ein Bereich, in dem Österreich eine wichtige Rolle spielt. Insgesamt sind die EU und ihre Mitgliedstaaten die wichtigsten Geldgeber der Ukraine.

Ein starkes Zeichen hat die EU auch gesetzt, indem sie der Ukraine die Beitrittsperspektive eröffnet hat. Bereits im Juni 2022 erhielt die Ukraine den Status einer Beitrittskandidatin, und im Dezember 2023 beschloss der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschef*innen der EU, den Beginn von Beitrittsverhandlungen.

Parallel dazu entschloss sich die EU, die Erweiterung auf dem Westbalkan voranzutreiben, vor allem aus geopolitischen Gründen, um Russland Paroli zu bieten. Selbst mit Bosnien und Herzegowina, das nur wenige Reformen vorweisen kann, sollen laut einem Beschluss des Europäischen Rats vom 12. März 2024 Beitrittsgespräche aufgenommen werden.

II. … aber die Schwächen werden noch deutlicher

In vielen Bereichen also beweist die EU im Zuge des Ukrainekriegs ihre Handlungsfähigkeit. Der Krieg legt jedoch auch schonungslos ihre Schwächen offen:

Erstens haben die EU und der Westen im Allgemeinen noch nicht jene Mittel gefunden, die geeignet wären, Russland von seinem kriegerischen Kurs abzubringen. Weder die diplomatischen Bemühungen noch die militärische Unterstützung für die Ukraine konnten zumindest bisher eine Veränderung in der Haltung Wladimir Putins bewirken. Fairerweise muss gesagt werden, dass dies vor allem Moskau anzulasten ist.

Zweitens ist die militärische Unterstützung für die Ukraine zwar beachtlich, jedoch offensichtlich unzureichend. Expert*innen wie Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die westliche Unterstützung der Strategie „boiling the frog“ gleicht. Die Ukraine erhält gerade einmal jene Waffen, die sie benötigt, um gegen Russland nicht zu verlieren, aber nicht ausreichend jene Waffen, die sie bräuchte, um den russischen Truppen eine entscheidende Niederlage zuzufügen.

Die späte und unzureichende Hilfe hat nicht nur mit mangelndem Willen, sondern auch mit den unzureichenden Rüstungskapazitäten in der EU zu tun – und damit ist auch schon die dritte Schwäche der Union genannt, die der Krieg aufzeigt. Bis März 2024 wollte die EU der Ukraine eine Million Granaten liefern, bis heute kamen jedoch nur etwas mehr als 500.000 Schuss Munition an. Während also die russische Kriegswirtschaft immer noch auf Hochtouren läuft, kommt die EU mit der Produktion und Lieferung von Waffen nicht nach.

Viertens zeigt der Ukrainekrieg ein weiteres Mal auf, dass die EU keine Militärmacht ist und ihren Mitgliedstaaten nur eingeschränkte Sicherheitsgarantien bietet. Für den Großteil der EU-Staaten ist und bleibt die NATO mit dem Schutzschirm durch die USA die wichtigste Sicherheitsgarantie. Offenkundig wurde dies durch den Antrag Schwedens und Finnlands – zweier bisher neutraler bzw. blockfreier Staaten –, auf Aufnahme in die NATO wenige Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Die fünfte Schwäche, die es auszumachen gilt, ist ebenso wenig neu: Die EU-Staaten tun sich nach wie vor schwer, um nicht zu sagen, sehr schwer damit, in außen- und sicherheitspolitischen Belangen mit einer Stimme zu sprechen. Im Falle der Reaktion auf die Aggression Russlands ist es vor allem Ungarn unter Viktor Orbán, das Beschlüsse verzögert bzw. durch Alleingänge konterkariert. Aber auch Emmanuel Macrons öffentliches Vorpreschen in der Frage von westlichen Truppen in der Ukraine ist ein gutes Beispiel für nationale Alleingänge zum Schaden der EU.

All diese Probleme und Schwächen der EU liegen auf dem Tisch, ebenso hochgesteckte Ziele, um Abhilfe zu schaffen.

Gerhard Marchl © Astrid Knie

III. Eine geopolitische EU mit strategischer Autonomie

Im Herbst 2019 ließ die Europäische Kommission mit Ursula von der Leyen an der Spitze bei ihrem Amtsantritt mit dem Anspruch aufhorchen, eine geopolitische Kommission sein zu wollen. Damit verbunden war und ist das Ziel einer geopolitisch agierenden EU.

Von der Leyens Ansinnen ist – nicht unberechtigt – auch als hohl und überschießend aufgefasst worden. Doch es ist nicht ganz neu: In der EU und ihren Mitgliedstaaten ist man sich seit Langem der Notwendigkeit bewusst, eine größere Rolle in der Welt zu spielen und eigenständiger agieren zu können. Schon in der ersten EU-Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 wurde das Ziel einer handlungsfähigeren EU definiert. Auch in der 2016 verabschiedeten Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik, die den Titel Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa trägt, sind Einheit, Glaubwürdigkeit und Reaktionsfähigkeit wichtige Schlagwörter. Im Strategischen Kompass vom März 2022, also wenige Wochen nach der Aggression Russlands, werden die militärstrategischen Ziele der EU bis 2030 konkretisiert.

Spätestens seit 2016 wird in EU-Dokumenten die Notwendigkeit der „strategischen Autonomie“ der Union hervorgestrichen. Darunter wird im Wesentlichen die Fähigkeit verstanden, „selbst außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten, oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen.“[1] Es geht darum, dass die EU in der Lage sein soll, unabhängig von den anderen Weltmächten wie den USA oder China zu agieren. Diese Autonomie betrifft vor allem das außenpolitische Handeln, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, insbesondere die Konfliktprävention und Konfliktbewältigung sowie die Rüstungstechnologie und -industrie. Wird die strategische Autonomie weiter gefasst, kommen auch ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Eigenständigkeit sowie die Fähigkeit, wirtschaftliche Standards zu setzen und sich unabhängig mit wichtigen Rohstoffen, Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, ins Spiel.

Im Zuge der Präsidentschaft Donald Trumps bekam der Anspruch der strategischen Autonomie eine größere Bedeutung, da Trump die NATO sowie die Bündnistreue der USA gegenüber Europa mehr oder weniger offen in Frage stellte. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist von der Leyens Ansage 2019 zu verstehen.

IV. Conclusio: Welche Schritte braucht es?

Um das Ziel einer geeinten und handlungsfähigen EU, die über strategische Autonomie verfügt, zu erreichen, muss an vielen Stellschrauben gedreht werden.

Zum einen gilt es, die unterschiedlichen Interessen und Egoismen gerade der großen EU-Mitgliedstaaten, die für ein Europa sorgen, das mit vielen widerstreitenden Stimmen spricht, zu kanalisieren und zu überwinden. Will die EU künftig eine (noch) stärkere Rolle in der Welt spielen, müssen ihre Mitgliedstaaten über ihren Schatten springen und bereit sein, ihre Alleingänge zurückzustellen und auch in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik stärker zu kooperieren und bei Bedarf Souveränität abzugeben.

Hier kommt – zweitens – das in Fragen der sogenannten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geltende Einstimmigkeitsprinzip ins Spiel. Es hat gewisse Vorteile, gerade für neutrale Staaten wie Österreich, die dadurch nicht überstimmt werden können. Allerdings bringt der Zwang zur Einstimmigkeit auch mit sich, dass einzelne Staaten, denen es – wie derzeit vor allem Ungarn – an gutem Willen fehlt, Beschlüsse hinauszögern oder gar verhindern können.

Drittens braucht es auch den klaren Willen der EU, sich in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik zu emanzipieren und Abhängigkeiten zu reduzieren. Nur dann kann sie jene Rolle spielen, die ihr zusteht und die nicht nur von ihr selbst, sondern in einem gewissen Ausmaß von anderen globalen Playern erwartet wird. Das heißt aber auch, dass sie bereit ist, Verantwortung auch dort zu übernehmen, wo sie sich bisher weggeduckt hat; Einfluss – im positiven Sinne – dort auszuüben, wo die EU bisher anderen die Führung überlassen hat; und die eigenen Interessen und Werte – oft nicht deckungsgleich – zu vertreten. 

Viertens muss Europa bereit sein, zu investieren – zunächst in die Diplomatie und den Frieden, sowohl mit Geld als auch Know-how. Es darf nicht mehr sein, dass wichtige UN-Organisationen und Hilfsprojekte unterdotiert sind und dass Konflikte wie beispielsweise derzeit im Sudan zu wenig Beachtung finden und es an Vermittlungsbemühungen fehlt.

Die EU muss aber auch in ihre Verteidigungsfähigkeiten investieren, denn auch und gerade in diesem Bereich ist der Weg zur strategischen Autonomie noch weit. Ohne US-Technologie und -Waffen sind die EU bzw. die europäischen Staaten kaum in der Lage, militärische Operationen ab einer gewissen Tragweite eigenständig durchzuführen. Es dürfte nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte brauchen, um hier Abhilfe zu schaffen. Nur ein Europa, das sich selbst verteidigen kann, wird wirklich ernst genommen werden.

Dies führt zum fünften, einem weiteren wichtigen Punkt: Eine starke Rolle der EU in der Welt ist nur dann ein Mehrwert für alle, wenn sie eine positive Agenda verfolgt. Dazu gehören ein unermüdlicher Einsatz für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, ohne als Lehrmeisterin aufzutreten; ein Bekenntnis zu gerechtem Frieden und zur friedlichen Beilegung von Konflikten; absoluter Vorrang für Diplomatie und Multilateralismus und für die Stärkung der dafür unabdingbaren Organisation wie den Vereinten Nationen und der OSZE; und schließlich auch die Bereitschaft, nötigenfalls mit militärischen Mitteln in Konflikte einzugreifen oder Konflikte beizulegen, wenn nur damit Frieden und das Ende von Gewaltherrschaft erreicht werden können.

In einer Welt, in der – und das hat der 24. Februar 2022 im negativen Sinne eindrucksvoll bewiesen – nicht alle Mächte guten Willens sind, braucht es beides: ein EUropa, das sich für Frieden, Gerechtigkeit, diplomatische Lösungen und Demokratie einsetzt, und eines, das im äußersten Fall bereit und fähig ist, diese Werte und Ziele auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen. 

Literatur und Links

Europäische Kommission: EU-Sanktionen gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine, online unter: https://eu-solidarity-ukraine.ec.europa.eu/eu-sanctions-against-russia-following-invasion-ukraine_de (letzter Zugriff: 04.04.2024).

Kiel Institute for the World Economy: Ukraine Support Tracker. A Database of Military, Financial and Humanitarian Aid to Ukraine, online unter: https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/ (letzter Zugriff: 04.04.2024).

Europäische Sicherheitsstrategie von 2003: European Security Strategy – A secure Europe in a better world, Brüssel 2009, online unter: https://www.consilium.europa.eu/en/documents-publications/publications/european-security-strategy-secure-europe-better-world/ (letzter Zugriff: 04.04.2024).

Europäische Außen- und Sicherheitsstrategie von 2016: Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union’s Foreign And Security Policy, Brüssel 2016, online unter: https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/eugs_review_web_0.pdf (letzter Zugriff: 04.04.2024).

EU Strategic Compass (2022): A Strategic Compass for Security and Defence. For a European Union that protects its citizens, values and interests and contributes to international peace and security, Brüssel 2022, online unter: https://www.eeas.europa.eu/eeas/strategic-compass-security-and-defence-0_en (letzter Zugriff: 04.04.2024).

Lippert, Barbara/Ondarza, Nicolai von/Perthes, Volker (Hg.): Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte, SWP-Studie 2019/S 02, 01.02.2019, online unter: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019S02/ (letzter Zugriff: 04.04.2024).

GERHARD MARCHL

ist Experte für europäische Politik am Karl-Renner-Institut, der politischen Akademie der SPÖ. Seine Schwerpunkte liegen auf den Entwicklungen am Westbalkan, in Mittel- und Osteuropa sowie der Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Editorial

Ein entscheidender Bereich der europäischen Entscheidungen ist auch die Außen- und Sicherheitspolitik, die Gerhard Marchl (Renner Institut) zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Er bezieht sich zunächst auf die Stärken und Schwächen in der Reaktion der Europäischen Union auf die Aggression Russlands gegen die Ukraine. Darauf aufbauend befasst er sich mit aktuellen Debatten zur Stellung der EU in der Welt und zeigt die nötigen Schritte auf dem Weg zu einer handlungsfähigeren EU auf, die auch mit dem Konzept eines geopolitischen Europa mit strategischer Autonomie zusammenfällt. Denn in einer Welt, in der – und das hat z. B. der 24. Februar 2022 im negativen Sinne eindrucksvoll bewiesen – nicht alle Mächte guten Willens sind, braucht es beides: ein EUropa, das sich für Frieden, Gerechtigkeit, diplomatische Lösungen und Demokratie einsetzt, und eines, das im äußersten Fall bereit und fähig ist, diese Werte und Ziele auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen.


[1] Lippert, Barbara/von Ondarza, Nicolai/Perthes, Volker (Hg.): Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte, SWP-Studie 2019/S 02, 01.02.2019, 2, online unter: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019S02/ (letzter Zugriff: 04.04.2024).