Italien war das erste Land in Europa, in dem der Faschismus an die Macht kam. Eines seiner bekanntesten Opfer war Antonio Gramsci. GERNOT TRAUSMUTH geht einer politisch mehr als wichtigen und aktuellen Frage nach: Welchen Beitrag leistete Gramsci im Widerstand gegen den schwarzen Totalitarismus?
I. Einleitung
Es war im Sommer 1921, als Antonio Gramsci eine erste Bilanz über die Welle der Gewalt zog, die damals seit Monaten in Italien bereits wütete. Innerhalb eines Jahres hatten die „Schwarzhemden“ rund 4000 Menschen auf dem Gewissen, sie wurden erschossen oder zu Tode geprügelt. 20.000 wurden durch Morddrohungen oder mittels regulärer Verfügungen staatlicher Behörden gezwungen ihre Heimat zu verlassen. 300 meist „rote“ Gemeindeverwaltungen, die in freien, demokratischen Wahlen gewählt worden waren, wurden zum Rücktritt gezwungen. Druckereien und Redaktionsstuben der linken Parteien wurden zerstört, unzählige Volkshäuser, Gewerkschafts- und Genossenschaftslokale wurden geplündert und niedergebrannt …
II. Aufstieg des Faschismus
Diese einleitende Aufzählung liefert auch schon die wesentliche Funktion des historischen Faschismus. Er sollte die organisierte Arbeiterinnenbewegung mit den Mitteln der Gewalt zerschlagen, die Arbeiterschaft atomisieren und die Fabrikarbeiterinnen wie auch die Landarbeiterinnen zu reinen Objekten der Ausbeutung degradieren. Der Faschismus entstand als Gegenreaktion auf die Massenstreiks, Fabriks- und Landbesetzungen des Biennio rosso 1919–1920, in denen die italienische Arbeiterschaft ähnlich wie in Österreich und Deutschland wichtige soziale Errungenschaften wie den 8-Stunden-Tag durchzusetzen vermochte und nach Vorbild Sowjetrusslands im Staat an die Tore der Macht klopfte. Symbolhaft dafür steht ein Foto, das den Gramsci-Schüler Giovanni Parodi mit anderen FIAT-Arbeiterinnen am Schreibtisch von Konzernchef Agnelli sitzend zeigt.
Gramsci selbst war Kopf und Stimme der Betriebsbesetzungsbewegung. Seine Zeitung Ordine Nuovo (Neue Ordnung) brachte die Ideen der russischen Arbeiterräte (Sowjets) nach Italien. Bis heute ist der von ihm verfasste Aufruf zum 1. Mai 1919 eine wunderbare Übersetzung der Marxschen Idee, wonach die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein müsse:
„Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.“
Italiens Unternehmerinnen und Großgrundbesitzerinnen konnten diese Bewegung nicht dulden. Getrieben von der Erkenntnis, dass im Rahmen der bürgerlichen Demokratie das Gespenst des Kommunismus nicht mehr zu stoppen war, griffen sie tief in die Tasche und finanzierten die faschistischen Banden. Ehemalige Offiziere und Kriegsveteranen, deklassierte, von wirtschaftlichem Ruin bedrohte Kleinbürgerinnen, Studentinnen und Intellektuelle waren getrieben von der Idee, Italien endlich zu einer „großen Nation“ zu machen. Getrieben von nationalistischen und militaristischen Fantasien wollten sie Rom wieder zum Zentrum eines Imperiums machen. Geführt wurden sie von dem ehemaligen Linkssozialisten Benito Mussolini, der den sozialistischen Internationalismus gegen den Nationalismus eingetauscht hatte.
III. Gramscis politische Prägung
Inmitten der ersten faschistischen Gewaltwelle spaltete sich auf ihrem Parteitag in Livorno die Sozialistische Partei (PSI). Unter dem Druck der revolutionären Massenbewegung 1919/1920 hat sich die Partei scharf nach links entwickelt, doch in der Frage der konkreten Aufgaben herrschte Uneinigkeit. Während eine kleine Minderheit an den Ideen eines sozialreformerischen, parlamentarischen Weges festhielt, war die Mehrheit von den Ideen des Kommunismus überzeugt. Gramsci gehörte eindeutig zu Letzteren. Schon als Student und Jungsozialist hatte er mit der Marx-Rezeption und der daraus fließenden Praxis der italienischen Sozialdemokratie wenig anfangen können. Marx und Engels hatten den „Wissenschaftlichen Sozialismus“ als Philosophie der Praxis entwickeltet, in Italien wurde dieser jedoch im Einklang mit dem an den Universitäten dominierenden Positivismus auf eine Methode der empirischen Sozialforschung reduziert, die den Übergang zum Sozialismus als „historische Notwendigkeit“ verstand, die sich quasi gesetzmäßig durchsetzen würde.
Dies erklärt auch Gramscis Begeisterung für den hegelianischen Philosophen Benedetto Croce und dessen Konzept eines „ethischen Prinzips“, das den Menschen dazu befähigt, den Gang der Geschichte zu beeinflussen. Gramsci gehörte zu jener Generation von Sozialist*innen, die am Ende des Ersten Weltkriegs mit großem Enthusiasmus auf die Nachrichten vom Sieg der Russischen Revolution reagierten. Lenin und die Bolschewiki hatten aus seiner Sicht eine „Revolution gegen ‚Das Kapital‘“ gemacht. Seinem Verständnis nach habe Marx eine voll entwickelte kapitalistische Produktionsweise als Voraussetzung für eine sozialistische Revolution gesehen. In Russland, einem stark agrarisch geprägten, über weite Strecken de facto semi-feudalen Land, waren diese Bedingungen nicht gegeben. Gramsci unterstützte im Gegensatz zu großen Teilen der sozialdemokratischen Parteieliten in Westeuropa die Oktoberrevolution. Die Bolschewiki hätten Fakten geschaffen, die stärker waren als die Ideologie. Sie wären die Vollstrecker der Ideen des deutschen und italienischen Idealismus. Später wurden diese Thesen hergezogen, um Gramscis Fähigkeit zu eigenständigem Denken zu belegen. In Wahrheit liefert er hier eher einen Beweis dafür, dass er die Ideen von Marx und Engels in seinen Jugendjahren noch nicht umfassend studiert hatte.
IV. Spaltung der Arbeiterinnenbewegung
Als die italienische Arbeiterinnenbewegung in Livorno 1921 an einer Weggabelung stand, gab es für Gramsci angesichts seiner Parteinahme für die Russische Revolution und seiner Erfahrungen mit der verheerenden Rolle der alten sozialreformerischen Partei- und Gewerkschaftsführer im Biennio Rosso nur einen gangbaren Weg. Er sah die Notwendigkeit sich an der Gründung der neuen Kommunistischen Partei von Italien (PCd’I) zu beteiligen. Rund ein Drittel der Mitglieder der Sozialistischen Partei wechselten ins kommunistische Lager. Gramsci hatte lange auf eine politische Erneuerung des PSI gehofft, die sich quasi automatisch durch die Ausweitung der militanten Arbeiterinnenproteste einstellen würde. Diese Rechnung ging letztlich nicht auf. Diese relativ passiv-abwartende Haltung hat dazu geführt, dass Gramsci und die Ordine Nuovo-Gruppe anfangs in der KP eher eine Randerscheinung blieben. Die eigentliche Parteiführung war fest in der Hand von Amadeo Bordiga, der eine extrem linksradikale, sektiererische Linie verfolgte. Dazu gehörte eine prinzipielle Ablehnung, sich an parlamentarischen Wahlen zu beteiligen, sowie eine entschiedene Weigerung, mit der Sozialistischen Partei eine Einheitsfront oder auch nur gemeinsame Aktionen für bestimmte Ziele zu bilden. Sogar die Teilnahme an den antifaschistischen Milizen, den Arditi del Popolo, in denen Arbeiterinnen unterschiedlichster Weltanschauung Seite an Seite kämpften, wurde abgelehnt. Die Kommunistische Internationale unter Lenin kritisierte diesen Kurs vehement und versuchte durch geduldiges Erklären und Überzeugungsarbeit eine Korrektur dieser Politik zu erwirken. Gramsci war selbst angesichts der drohenden faschistischen Gefahr lange Zeit nicht bereit, mit dem Linksradikalismus Bordigas zu brechen.
Erst als er vor dem schwarzen Terror selbst flüchten musste und längere Zeit in Sowjetrussland verbrachte, konnte er von der Idee einer Einheitsfront mit den Sozialist*innen überzeugt werden. Mit Unterstützung der Kommunistischen Internationale kehrte er nach einem Aufenthalt in Wien nach Italien zurück und wurde 1924 an die Spitze der PCd’I gehievt, obwohl er keine demokratische Mehrheit hinter sich hatte. Nur dank bürokratischer Manöver gelang es ihm, seine Führungsrolle zu verteidigen.
V. Antifaschismus
Der Kampf gegen den Faschismus stand nun ganz oben auf der Prioritätenliste. Doch Gramscis Politik zeichnete sich in dieser Phase durch einen erratischen Zick-Zack-Kurs aus: Einmal positionierte er die KP in einem Bündnis mit allen anderen demokratischen (auch bürgerlichen) Parteien und unterstützte deren Appell an den König, er möge den Faschismus per Notstandsgesetzgebung stoppen; dann setzte er wieder auf den Aufbau von eigenen kommunistischen Gewerkschaftsstrukturen in Konkurrenz zu den traditionell sozialistisch ausgerichteten Verbänden der Fabrik- und Landarbeiter*innen. Die ganze Verwirrung gipfelte in der hybriden Losung nach einer „Republikanischen Versammlung gestützt auf Arbeiter- und Bauernkomitees“, wo also eine Art bürgerliches (Gegen-)Parlament neben Institutionen einer Rätedemokratie existieren sollten. Diese Position erinnert stark an die Vorstellungen des Austromarxisten Max Adler von der Beziehung zwischen Parlament und Rätebewegung in der Frühphase der Ersten Republik.
Im Zuge der politischen Krise nach dem Mord an dem sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch Mussolinis Schergen konsolidiert der Faschismus seine totalitäre Macht. Alle Reste einer bürgerlichen Demokratie werden beseitigt, jede politische Opposition wird brutal verfolgt. 1926 wird auch Gramsci verhaftet und in der Folge zu einer langjährigen Kerkerstrafe verurteilt. Angesichts seines ohnedies prekären Gesundheitszustandes kam dieses Urteil de facto einem Todesurteil gleich. Der Staatsanwalt begründete das Urteil mit den Worten: „Wir müssen für zwanzig Jahre verhindern, dass dieses Hirn funktioniert.“
Doch auch unter den erschwerten Bedingungen des Kerkers arbeitete das Hirn weiter. Das Ergebnis seiner intellektuellen Arbeit im Gefängnis sind unzählige Übersetzungen, wissenschaftliche Studien und Notizen zu Fragen marxistischer Theorie. Geschrieben unter den Bedingungen der faschistischen Zensur verschlüsselte Gramsci viele Aussagen und lassen gerade die politisch-theoretischen Texte aus dieser Zeit viel Spielraum für Interpretation offen.
VI. Hegemonie
Herzstück dieser als „Gefängnishefte“ bekannten Arbeiten ist Gramscis Auseinandersetzung mit der sogenannten Hegemonietheorie, die bis heute in der Linken breit rezipiert wird. Gramscis Überlegungen kreisen dabei um die Frage, welche Rolle die Arbeiterklasse und speziell die Kommunistische Partei im antifaschistischen Widerstand zu erfüllen habe. Er knüpft dabei an Debatten aus der frühen russischen Sozialdemokratie ab den 1880er-Jahren an. Dort wurde der Hegemoniebegriff dazu herangezogen, um das Verhältnis zwischen Arbeiter*innenbewegung und Bauernschaft im Kampf gegen die zaristische Autokratie zu bestimmen. Am weitesten entwickelt hatte Lenin diese Strategiedebatte. Er war zur Einsicht gekommen, dass das russische Bürgertum aufgrund seiner engen Verbindungen zum Großgrundbesitz und zum Regime nicht fähig sein würde, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution (Durchsetzung von Bürgerrechten und demokratischen Verhältnissen, Landreform, nationale Frage) zu lösen, und sich daher die Arbeiterklasse in einem Bündnis mit der Bauernschaft an die Spitze der Nation stellen müsse. Ähnlich sah dies Gramsci in Hinblick auf eine kommende antifaschistische Revolution in Italien.
Diese Frage war aus seiner Sicht umso bedeutender, da er die neuerliche taktische Wende seiner Partei für fatal hielt. 1929 setzte sich in den Kommunistischen Parteien die „Sozialfaschismustheorie“ durch, wonach die Sozialdemokratie als Zwilling des Faschismus bezeichnet wurde. Die daraus fließende Taktik war eine Rückkehr in die alten linksradikalen Muster. Ein gemeinsamer Widerstand gegen den Faschismus war dadurch ausgeschlossen. In Deutschland sollte die dadurch resultierende Spaltung der Arbeiter*innenbewegung ganz wesentlich der Machtergreifung des Nationalsozialismus in die Hände spielen. Gramsci, der ursprünglich den Kurs der Stalin-Fraktion in der Sowjetunion weitgehend unterstützt hatte, kritisierte offen diese ultralinke Wende und wurde daraufhin von der eigenen Partei fallengelassen. Er wurde im Gefängnis isoliert, war nicht mehr in die parteiinternen Debatten eingebunden und es wurden auch keine Versuche mehr unternommen, ihn freizubekommen.
Gramsci betonte die Notwendigkeit demokratischer Forderungen im Kampf gegen den Faschismus. Er ging davon aus, dass nach Jahren der Verfolgung die Kommunistische Partei zu schwach sein würde, um direkt eine Diktatur des Proletariats zu errichten und Italien nach dem Sturz des Mussolini-Regimes eine bürgerlich-demokratische Phase durchmachen würde. Diese Analyse gipfelte in der Losung nach einer „Verfassungsgebenden Versammlung“, in deren Rahmen die Arbeiterklasse die anderen unterdrückten Teile der Nation rund um sich scharen und eine „Hegemonie“ für eine Perspektive zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus entwickeln müsse.
VII. Rechtfertigungsideologie
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade diejenigen an der Spitze der Kommunistischen Partei, die mit Gramsci aufgrund dieser Ideen gebrochen hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg seine Texte zur Hegemonietheorie heranzogen, um damit ihre neuerliche Kurskorrektur zu legitimieren. Die Kommunistische Partei hatte auf Befehl Moskaus eine revolutionäre Perspektive aufgegeben und beschränkte sich in der letztlich siegreichen Resistenza, dem massenhaften Widerstand gegen Mussolini und Hitler, auf die Wiederherstellung einer parlamentarischen Demokratie. Gramscis Texte wurden nun aus dem Kontext gerissen und in das eigene Schema eingepasst.
Entscheidender Ansatzpunkt dazu waren Gramscis Ausführungen über die Hegemonie im Sinne der bürgerlichen Herrschaft im Westen. Er stellte die Hypothese auf, dass anders als in Russland in Westeuropa das Bürgertum nicht rein über den staatlichen Zwangs- und Repressionsapparat herrscht, sondern vielmehr über eine Vielzahl von Institutionen (Schule, Universität, Massenmedien, Gewerkschaften usw.) eine politisch-kulturelle Hegemonie ausübe. Dies führe dazu, dass auch die subalternen Klassen die herrschende Ordnung akzeptieren würden. Gramsci wurde nach dem Krieg zusehends so ausgelegt, als hätte er mit der Idee einer sozialistischen Revolution nach dem Vorbild der Bolschewiki gebrochen und die Notwendigkeit des Aufbaus einer kulturellen Gegenhegemonie erkannt. Damit rechtfertigte die Kommunistische Partei ihre Politik der schrittweisen Eroberung von Stellungen in der bürgerlichen Demokratie durch linke Kommunalpolitik, parlamentarische Arbeit, Kultur- und Bildungstätigkeit und die Herstellung von Bündnissen in der „Zivilgesellschaft“.
VIII. Schluss
Gramscis Ansätze einer Hegemonietheorie wurden in den kommenden Jahrzehnten nicht nur von der KP Italiens, sondern auch von der akademischen Linken generell immer mehr zur theoretischen Rechtfertigung einer reformistischen Praxis herangezogen. Seinen tatsächlichen Absichten werden diese Interpretationen in keiner Weise gerecht. Gramsci selbst prägte einst den Spruch, dass nur die Wahrheit revolutionär ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk, die auch seine Fehler nicht ausblendet, würde dem großen Intellektuellen der italienischen Arbeiter*innenbewegung, der posthum über die Jahrzehnte auch internationale Bedeutung erlangte, wohl am ehesten gerecht.
GERNOT TRAUSMUTH arbeitet im Kindergartenbereich, übersetzt und schreibt Bücher und ist in der SPÖ Donaufeld aktiv.
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