DER MARBURGER LINKSKANTIANISMUS VON ELISABETH THERESIA WIDMER

Hermann Cohen © Wikimedia Commons

ELISABETH THERESIA WIDMER skizziert in ihrem Beitrag die politische Philosophie der Marburger Schule Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Kontrast zu den rechtskonservativen Intellektuellen dieser Zeit nahm der an Kant orientierte Marburger Linkskantianismus eine Sonderstellung ein. Als politisch linke und progressive Strömung richtete sich die Denkschule gegen den Trend, den Sozialismus zum Sündenbock zu stilisieren. Widmer gibt Einblicke in interne Diskussionen der Marburger Linkskantianer und zeichnet den Weg der Strömung in den Untergang nach dem Ersten Weltkrieg nach.

I. Einleitung

Wenn wir uns heute an linke Theoretiker*innen aus Deutschland im 19. Jahrhundert erinnern, denken wir in erster Linie an Marx und Engels. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass sich in Deutschland neben den Urvätern der Kapitalismuskritik eine vielfältige Landschaft sozialistischer Literatur entwickelte, die den modernen Sozialismus wesentlich prägte. In diesem Beitrag skizziere ich die politische Philosophie der Marburger Schule, die in der zweiten Hälfte des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Hochblüte erlebte. An Immanuel Kant orientiert, zielte der Marburger Linkskantianismus darauf ab, bürgerliche Gesellschaftsnormen zu kritisieren und für einen ethischen und reformbasierten Sozialismus fruchtbar zu machen. Der „Linkskantianismus“ bezeichnet kein einheitliches Programm. Der Begriff signalisiert, dass sich neben dem Linkshegelianismus und einer politisch-konservativen Berufung auf universale Werte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine politisch linksgerichtete Strömung des Idealismus herausbildete. Die Schriften des Linkskantianismus entstanden in der Zeit zwischen der Ersten und der Zweiten Internationalen (1889–1914) – dem „[g]oldene[n] Zeitalter des Marxismus“ (Kolakowski 1988: 11).

In den reformistischen Ansätzen der Schule sahen manche einen geeigneteren Ansatz, der es vermochte, auf die Probleme der Zeit zu antworten. Im Revisionismus-Streit der 1890er–Jahre lieferten die Schriften der Marburger eine Alternative, die es erlaubte, das marxistisch-orthodoxe Programm der Partei kritisch zu überdenken. Später wurden ihre Ansätze im Zuge des Ersten Weltkrieges und des Imperialismus auf die Probe gestellt. Wie ich herausstellen werde, waren ihre Ansätze jedoch zu sehr vom kulturimperialistischen Duktus der Zeit geprägt, als dass ihre Theorien auch nach dem Ersten Weltkrieg für die Probleme des neuen Jahrhunderts anschlussfähig gemacht werden konnten.

II. Der Marburger Linkskantianismus

Im Kern bestand die Marburger Prägung der „Zurück auf Kant“-Bewegung aus Hermann Cohen (1842–1918) und Paul Natorp (1854–1924). Cohen wuchs als Sohn eines jüdischen Cantors in einer Familie in Schleswig auf und wollte in jungen Jahren Rabbiner werden. Während viele seiner jüdischen Kollegen aufgrund des tief verankerten Antisemitismus im preußischen Staat zum Christentum konvertierten, blieb Cohen dem jüdischen Glauben treu. In den jüdischen Schriften fand er eine fruchtbare Basis, um den Individualismus der kantischen Ethik zu überwinden und für die Grundlagen einer modernen Sozialdemokratie zu nutzen. Auch heute noch stellt seine Kant-Interpretation eine Sonderstellung in der Kant-Forschung dar. Inspiriert vom jüdischen Monotheismus lieferte er bereits 1877, in Kants Begründung der Ethik, eine Auslegung des Sittengesetzes, die darauf abzielte, gesellschaftliche Normen auf ihren ethischen Gehalt hin zu überprüfen (Cohen [1877] 2001: 279–80). In seiner reifen Systemphilosophie, der Ethik des reinen Willens (1904), argumentierte Cohen, dass das von ihm neu ausgelegte Sittengesetz auch das Grundprinzip der Rechtswissenschaften darstelle. Die grundlegendste Aufgabe des Rechtsstaates bestand in Cohens Augen darin, das menschliche Grundrecht, jederzeit auch als Zweck-an-sich und niemals bloß als Mittel behandelt zu werden, zu verteidigen (Cohen [1904] 1981: 255). Auf dieser Grundlage kritisierte Cohen das Familien-, Erb-, und Arbeitsrecht; sie standen Cohen zufolge im begrifflichen Widerspruch zum Sittengesetz und verletzten damit die Würde des Menschen (Cohen [1904] 1981: 606). Natorp beschäftigte sich hingegen mit der pädagogischen Frage, welche lernbaren Praktiken es zu vermitteln gelte, um verantwortungsvolle und sozial orientierte Bürger*innen auszubilden. Er machte drei Grundtugenden fest, auf denen die von ihm angedachte sozialdemokratische Republik zu gründen hatte: Die Tugend des Maßes, der Klugheit und der Vernunft (Natorp 1899). Trotz der unterschiedlichen Themenbereiche, an denen Cohen und Natorp arbeiteten, stimmten sie darin überein, dass der Sozialismus auf ethischen Kriterien gründe.

Hermann Cohen © Wikimedia Commons
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Anders verhält es sich, wenn der Marburger Linkskantianismus breiter gefasst wird. Einige waren der Meinung, dass kantische Elemente mit dem Marx’schen Programm ergänzt, korrigiert oder erweitert werden müssten. Hierzu zählen auch die Ansätze der frühen Neukantianer Friedrich Albert Lange (1828–1875) und Rudolf Stammler (1856–1938). Weil sich Lange, der vom geistreichen Kant-Verständnis Cohens tief beeindruckt war, darum bemühte, dem jungen Cohen eine Professur an seiner Universität in Marburg zu verschaffen, wird er manchmal auch als „Vater der Marburger Schule“ bezeichnet (Sieg 1994). Die Philosophie von Lange war noch stark im Sensualismus des 19. Jahrhunderts verankert. Damit unterschied sich seine Kant-Interpretation vom Kern der Schule, die ihre Philosophien im „reinen Denken“ begründet wissen wollten. Auch die politische Philosophie Langes orientierte sich stark an naturalistischen Denkern wie Charles Darwin, Adam Smith und Thomas R. Malthus. Dennoch waren es die kantischen Elemente seines reformbasierten und antirevolutionären Sozialismus, die von den Epigonen wertgeschätzt wurden. Auch Stammlers Ansatz unterschied sich in wesentlichen Aspekten vom engen Begriff des Marburger Linkskantianismus (Stammler 1902; 1906). Eine ethische Untermauerung der Rechtswissenschaften, wie sie Cohen anstrebte, lehnte er ab. Dennoch stützte er sich auf die von Kant inspirierte Erkenntnistheorie Cohens, um seinen Begriff des transzendentalen Naturrechts mit dem – damals weit verbreiteten – Rechtspositivismus in Verbindung zu bringen. Der wohl bekannteste Rechtstheoretiker, der sich an Stammler orientierte, war der Verfasser der österreichischen Verfassung: Hans Kelsen (1881–1973).

Bis auf Lange, der 1862 mit Engels in Kontakt stand und ihn gemeinsam mit Marx um die Mitarbeit für seine sozialdemokratische Zeitung Der Bote vom Niederrhein bat, trugen die Marburger Linkskantianer ihre Diskussionen hauptsächlich intern aus (Eckert 1969: 74). Als sich Natorp 1893 im Zuge von Demonstrationen rechtsgerichteter Burschenschaften dazu entschloss, in den politischen Diskurs einzugreifen, wurde er vom preußischen Bildungsministerium zurechtgewiesen (Holzhey 1986: 236). Zu stark war der akademische Bereich unter der Kontrolle der antisozialistischen Regierung, als dass ein linksgerichteter politischer Aktivismus in der Funktion als Universitätsgelehrter möglich gewesen wäre.

Nicht zuletzt deswegen waren es die freiberuflichen Philosophen und Lehrer Franz Staudinger (1849–1921) und Karl Vorländer (1860–1928), die sich für eine Verbreitung der Marburger Lehren einsetzten. Neben Eduard Bernstein (1850–1932), der mit dem Slogan „Zurück auf Lange“ den Revisionismus in der SPD einzuleiten versuchte (Retter 2007: 103), übernahmen auch Austromarxisten wie Max Adler (1873–1937) einige ihrer reformistischen Ideen. Die „orthodoxen“ Marxisten, wie Karl Kautsky (1854–1938), Franz Mehring (1846–1919) und Nikolai Berdjajew (1874–1948), sahen in den von Kant inspirierten Ansätzen der Marburger hingegen einen weichen Linksliberalismus, der an den eigentlichen Grundproblemen vorbeiging.

III. Der Marburger Linkskantianismus im philosophischen und historischen Kontext

In den Jahren 1878/79 fand eine „idealistische Wende“ in der deutschsprachigen Philosophie statt (Köhnke 1986: 404; Sieg 2013: 19–57). Grund dafür waren die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I. Die konservative, pro-preußische Presse und Otto von Bismarck (1815–1898) nahmen die Attentatsversuche zum Anlass, um die kritische Haltung gegenüber der sozialdemokratischen Partei im Volk zu stärken. Nachdem von Bismarck erfolglos nach dem ersten Anschlag versucht hatte, mit dem Sozialistengesetz die Aktivitäten der Partei zu verbieten, verfasste der konservative Antisemit und Reichshistoriker Heinrich von Treitschke (1834–1896) am 1. Juni 1878 die Streitschrift Der Socialismus und der Meuchelmord. Von Treitschke argumentierte in dieser Schrift, dass jegliches kulturelle Verderben auf die materialistische Untermauerung des Sozialismus zurückzuführen sei. Den Materialismus machte er verantwortlich für den Verfall der Religion und der Sitten. Den rechtsbürgerlichen Idealismus stellte er dem Materialismus gegenüber:

„Was von berechtigten Gedanken in den Lehren dieser Sekte liegen mag ist ihr gemein mit anderen Parteien; was ihr eigen angehört und ihr Wesen ausmacht, ist das Evangelium der sinnlichenGier, des Hasses und Neides, die Verhöhnung alles Heiligen.“ (Treitschke 1878: 4)

Die Attentate, so heißt es weiter, seien sozialistisch motiviert gewesen; die Partei bezeichnete er als eine „Schule des Verbrechens“ (1878: 5–7). Obwohl die Faktenlage zeigte, dass zwischen der SPD und den Attentätern keine Verbindung bestand (Sieg 2013), prägte Treitschke damit ein Narrativ, das von einigen Intellektuellen der Zeit aufgegriffen wurde.

Der Philosoph Jürgen Bona Meyer (1829–1897) verfasste noch in demselben Jahr eine Schrift, worin er sich gegen die sozialistische Auffassung des Eigentums richtete. Bereits bei Fichte finde sich die „gefährliche Lehre […], nach welcher Jeder, der kein Eigenthum hat, das natürliche Recht haben soll, sich an dem Eigenthum eines jeden Anderen zu vergreifen“ (Köhnke 1986: 412). Auch der Physiker Hermann von Helmholtz (1821–1894), spielte auf den Sozialismus an, als er in einer Rede den Tagen nachsann, die noch nicht von einer „zynische[n] Verachtung aller idealen Güter des Menschengeschlechts“ geprägt waren (von Helmholtz [1878] 1903: 213ff). Auch bei Wilhelm Windelband (1848–1915) zeichnet sich 1882 eine Wende zur universalen Ethik ab (Windelband 1924a: 29). Um dem linken Relativismus Einhalt zu gebieten, widmete er sich ein Jahr später den ethischen Grundlagen der Philosophie (Windelband 1924b: 161ff).

Im Kontrast zu den rechtskonservativen Intellektuellen dieser Zeit nahm der Marburger Linkskantianismus eine Sonderstellung ein. Als politisch linke und progressive Strömung richtete sich die Denkschule gegen den Trend, den Sozialismus zum Sündenbock zu stilisieren. Während sich einige ihrer Kollegen auf Kant beriefen, um sich gegen den materialistisch untermauerten Sozialismus zu wenden, argumentierten die Marburger Linkskantianer, dass die kantischen Grundlagen – angepasst an die neue Zeit – unweigerlich zu einer affirmativen Haltung des humanistisch ausgerichteten Sozialismus führen müsse.

Doch damit nahmen sie auch eine Sonderstellung zum historischen Marxismus ein. Marx zufolge lieferten die Ideen keine geeignete Grundlage, um die Problematiken des Kapitalismus aufzuzeigen. Stattdessen war er der Meinung, dass wir die materiellen, das heißt die ökonomischen Bedingungen der Geschichte, studieren sollten. Die Geschichte der Produktionsverhältnisse, so Marx, würde uns in materialisierter Weise gegenübertreten und unsere Lebensweisen und -formen wesentlich bestimmen. Die Geschichte erfolgt bei Marx aber nicht willkürlich; durch Widersprüche bzw. Klassenkämpfe bestimmt, ist sie dialektisch zu denken:

„Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klasse.“ (Marx [1848] 2017: 31)

Lange, Cohen, Stammler und Natorp zufolge war der historische Materialismus hingegen von dem Mangel gekennzeichnet, die subjektiven Erfahrungsgrundsätze des Bewusstseins nicht reflektiert zu haben.

In Bezug auf die Wissenschaftstheorie kritisierten sie, dass es den historischen Materialisten aufgrund der dialektischen Auffassung der Geschichte nicht gelang, sich von spekulativen Elementen zu befreien. Am deutlichsten formulierte Lange diese Kritik in der Arbeiterfrage. Indem Marx davon ausgehe, dass alle geschichtlichen Ereignisse auf den ökonomisch bedingten Klassenkampf zurückzuführen seien, so meint Lange, verfälsche er die Geschichte (Lange 1870: 226). Cohen kritisierte hingegen, dass durch die geschichtliche Betrachtung bei Hegel und Marx die ethische Grundlage abgelehnt und der Geschichte untergeordnet würde.

Bis auf Natorps späte Schriften lehnten sie auch die gesetzmäßige Auffassung der Geschichte ab. Damit einher ging auch eine Ablehnung der Revolution als notwendige Folge aus den ökonomischen Bedingungen. Obwohl Lange der Revolution in jungen Jahren noch positiver gegenüberstand, argumentierte er später, dass die Revolution geradezu das humanistische Potenzial der Sozialdemokratie zerstöre. Weil langfristige und stabile Veränderungen nur durch kleine Schritte zu erzielen seien, sprachen sich die Marburger gegen einen revolutionären Umsturz der Produktionsverhältnisse aus (Lange 1870; Cohen 1981). Sie bevorzugten Maßnahmen wie Reformen sowie die Gründung von Genossenschaften und Gewerkschaften.

Ein weiterer Unterschied zu Marx, der seine religionskritische Haltung bekanntlich durch die Aussage, die Religion sei „Opium für das Volk“ (Marx 1982: 171), metaphorisch zum Ausdruck brachte, bestand in ihrer durchwegs positiven Haltung gegenüber der Religion. Zwar lehnte Lange bereits sehr früh eine metaphysische oder erkenntniskritische Rechtfertigung Gottes ab; dennoch sah er in der christlichen Sittenlehre eine brauchbare Erfindung, die es vermochte, die Massen zum ethischen Handeln zu bewegen. In den Augen Langes hatte das Christentum im Kampf gegen den vom Egoismus genährten Kapitalismus eine erstrebenswerte moralpsychologische Wirkung (Lange 2015: 931). Cohen zufolge stand ein aufgeklärtes Judentum im direkten Zusammenhang mit dem Sozialismus. Weil sowohl der jüdische Glaube als auch der Sozialismus in der Sozialethik ihre Begründung fanden, teilte die Ethik des Judentums einige Aspekte mit der Sozialdemokratie.

Hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen, geschichtsphilosophischen und religiösen Grundlagen kritisierten die Marburger Linkskantianer, dass der historische Materialismus auf grundlegend falschen Prämissen aufbaue. Die angeblich spekulativen Elemente des Marxismus ersetzten sie mit einer kantischen Grundlage, die eine klare Trennung zwischen den empirischen Fakten und den idealen Aspekten einforderte.

IV. Der Untergang des Marburger Linkskantianismus

Vor und während des Ersten Weltkrieges ist eine thematische Veränderung bei Cohen und Natorp zu erkennen, die auch mit dem Untergang des Marburger Linkskantianismus verbunden ist. Auch 1916, als die Kriegsbegeisterung der Vorkriegszeit bereits abgeklungen war, vertrat Natorp noch weiterhin die Meinung, dass allein Deutschland im Namen der Vernunft handele, während er die anderen Großmächte beschuldigte, von imperialistischen Ideologien verblendet zu sein.

Innerhalb der sozialdemokratischen Partei, die kurz vor dem Krieg einige Wählerstimmen lukrierte, hielt sich die Kriegsbegeisterung in Grenzen. Einige erkannten, dass der Imperialismus eine kapitalistische Ausbeutung fremder Kulturen war. Ein Krieg zur Erweiterung der Macht war ihrer Meinung nach nicht legitimiert. 1914 gab die Partei an, ausschließlich einem Verteidigungskrieg zuzustimmen, was sie am 30. Juni auch tat (Nipperdey 2013: 692). Noch im selben Jahr zeigte sich aber, dass sich die Kriegsstrategie nicht auf Verteidigung beschränkte. Weil der radikalere Flügel der sozialdemokratischen Partei die imperialistische Kriegsführung nicht unterstützte, kam es zu einer Spaltung innerhalb der Partei. Mit Karl Liebknecht an der Spitze löste sich die neu gegründete USDP von der Sozialdemokratie und wandte sich thematisch dem internationalen Klassenkampf zu. Die Sozialdemokratie entwickelte sich hingegen zu einer „nationalen Reformpartei“, die die aktive Haltung Deutschlands im Kriege weiterhin unterstützte (Nipperday 2013: 784). Diese realpolitische Spaltung spiegelte sich auch im intellektuellen Diskurs – allen voran bei Natorp – wider.

Überzeugt von der Legitimität der Stellung Deutschlands meinte Natorp: „Deutschland“ habe sich zu einem „Weltvolk“ entwickelt, weil es eingesehen habe, dass „über allen“ ein „Höheres“ walte: „heiße es Gott, heiße es Geist, die Vernunft der Weltentwicklung, oder wie immer. Das hat uns auf unseren Posten gestellt, den müssen wir kämpfend behaupten, oder fallen“ (Natorp 1918: 2). Nur das „deutsche Volk“ kämpfe für Freiheit und Vernunft; vorerst noch in nationalen Kategorien, aber in weiterer Folge auch über die nationalen Grenzen hinweg.

Um die These zu untermauern, dass Deutschland Vorreiter in der kulturellen Entwicklung sei, führte Natorp einen kulturellen Vergleich an. Sein Wissen über die indische Philosophie hielt sich zwar in Grenzen, dennoch meinte er – basierend auf einem übersetzten Werk von Tagore – urteilen zu können, dass die „orientalische Gedankenwelt“, noch in einer Phase stecke, die mit dem „abendländischen Mittelalter“ zu vergleichen sei (Natorp 1918: 40). Zwar habe das indische Denken bereits einen Begriff vom Absoluten; dieser stecke aber noch im mythischen und vorkritischen Stadium der Vernunft. Wie im abendländischen Mittelalter werde das Absolute im indischen Denken nämlich noch sinnlich aufgefasst: „alles Leben, alle Seele“ atme „zuletzt einen Atem“ (Natorp 1918: 41). Damit urteilt Natorp, dass „der Jahrtausende alte Riß der Weltanschauung zwischen Ost und West“ zwar existiere, aber nicht „unüberbrückbar“ sei – eine Ansicht, die der englische, imperialistische Volksgeist nicht teile (Natorp 1918: 48).

Bis ins Zeitalter der Moderne behandelt Natorp in seiner historischen Abhandlung das abendländische Denken als ein einheitliches; in der Moderne angekommen, nimmt er nun die Gegenüberstellung Deutschland-England auf. Allgemein zeichne sich die Moderne durch einen „immer stärker“ werdenden „Drang der Befreiung“ aus (Natorp 1918: 101). Die Nationalitäten lässt Natorp zwar unerwähnt; zwischen den Zeilen wird aber deutlich, dass England im Kampf um den fortschrittlichsten Geist durch William Shakespeare (1564–1616) vertreten wird, während er Deutschland mit Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) ins Rennen schickt. Damit argumentiert Natorp, dass es England verabsäumt habe, den letzten Schritt der Aufklärung – den Einstieg in den kritischen Idealismus – zu durchlaufen.

Zwar argumentiert er, dass Shakespeare der Renaissance voraus war, weil im Denken Shakespeares das „geschichtliche Bewusstsein“ aber fehle, meint Natorp, dass auch dieser letzten Endes im mittelalterlichen Denken verhaftet blieb (Natorp 1918: 105–106). Goethe hingegen erhält bei ihm eine unangefochtene, vorrangige Position. Wenn Natorp schreibt, dass „jedes Volk in sich“ sein „Verwüster“ sei, so mag es auf den ersten Blick so scheinen, als sei doch noch ein Funke der Selbstkritik in seiner Abhandlung zu finden (Natorp 1918: 125). Doch auch hiervon nimmt er Deutschland aus. Verwüstet sei die „friedliche Arbeit, die uns lieb, unser Heim, in dem uns wohl war, alles, was wir pflanzten und hegten“ durch das „unselige Baconsche ‚Königreich des Menschen‘“; den Naturalismus der Briten macht er für die problematische „Naturbeherrschung“ verantwortlich (Natorp 1918: 125–126).

V. Konklusion

Nicht zuletzt aufgrund dieser kultur-chauvinistischen Haltung gerieten die Marburger in der Geschichte linker Theorien in Vergessenheit. Cohen, der 1918 gestorben war, konnte nichts mehr dazu beitragen, die Fehler zu korrigieren und eine – für die Zeit geeignete – Theorie auszuarbeiten. Natorp versuchte zwar, mit dem Werk Sozial-Idealismus (1920) mit den Fehlern aufzuräumen, die sie in der Kriegszeit begangen hatten, doch auch dieser Versuch scheiterte.

Wenn später, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, linke Theoretiker wie Max Horkheimer (1895–1973) und Ernst Bloch (1885–1997) den Marburger Neukantianismus kritisieren, dann ist es vor allem diese unkritische Einstellung gegenüber dem kulturellen Chauvinismus, den sie hierbei in den Blick nehmen. In einer Rede aus dem Jahre 1954 kritisierte Bloch nicht zu Unrecht, die Neukantianer hätten zu einer „Pervertierung Kants“ beigetragen, die dazu geführt habe, dass die „bürgerlich-revolutionären Auftriebe und Elemente“ ausgelöscht wurden (Bloch [1954] 1967: 351). Eine ebenso radikale Ablehnung der Schule lässt sich in Horkheimers Bestandsaufnahme der Sozialphilosophie im Jahre 1931 vermerken. Horkheimer kritisiert, dass – neben vielen anderen – auch von Cohen ein „Geltungs- und Sollensbereich“ verteidigt wurde, der zu einer problematischen übersinnlichen Begründung der Sozialphilosophie führte, die an der Realität vorbeiging (Horkheimer [1931] 2009: 26).

Trotz der fruchtbaren Zugänge zu Kant, die der Marburger Linkskantianismus erarbeitete, blieb die Schule damit als eine in Erinnerung, die dem kultur-imperialistischen Chauvinismus dieser Zeit verschrieben war.

Literatur

Bloch, Ernst (1974): „Zweierlei Kant-Gedenkjahre“, in: Kopper, Joachim/Malter, Rudolf (Hg.): Immanuel Kant zu Ehren, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Cohen, Hermann (1981 [1904]): Die Ethik des reinen Willens, hg. v. Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich mit einer Einleitung von Steven S. Schwarzschild, 5. Aufl., Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms (=Werke Bd. 7).

Cohen, Hermann (2001 [1876]): Kants Begründung der Ethik, hg. v. Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich mit einer Einleitung von Peter Müller und Peter A. Schmid, 3. Aufl., Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms (= Werke Bd. 2).

Eckert, Georg (1968): Friedrich Albert Lange. Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875, Duisburg: Walter Braun.

Von Helmholtz, Hermann (1959): „Die Tatsachen in der Wahrnehmung“, Rede, gehalten zur Stiftungsfeier in der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 3. August 1878, in: Ders. (Hg.): Die Tatsachen in der Wahrnehmung; Zählen und Messen erkenntnistheoretisch betrachtet, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 9–74.

Holzhey, Helmut (1986): Cohen und Natorp. Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Band 2, Basel/Stuttgart: Schwabe&Co.

Horkheimer, Max (2009): Gesammelte Schriften, Band 3: Schriften 1931–1936, hg. v. Alfred Schmid, Frankfurt am Main: Fischer.

Kolakowski, Leszek (1988): Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall. Übersetzung aus dem Polnischen von Friedrich Griese, 3. Aufl., München: Piper.

Köhnke, Klaus C. (1986): Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lange, Friedrich A. (1870): Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. 2. veränderte Aufl., Winterthur: von Beuler-Hausheer&Co.

Lange, Friedrich A. (2015 [1866]): Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2. veränderte Aufl., Berlin: Contumax Gmbh.

Marx, Karl/Engels, Friedrich (2017 [1848]): Das Kommunistische Manifest, Luxemburg: 1st Page Classics.