Caroline Fourest und die Generation beleidigt – Universalismus, Feminismus und die Rückkehr der Aufklärung VON MARLIES ETTL


Caroline Fourests Generation beleidigt (2020) analysiert den Wandel linker Diskurse unter dem Druck identitätspolitischer Sensibilitäten. Sie beschreibt, wie sich eine „Kultur der Beleidigung“ an die Stelle des offenen Widerspruchs gesetzt hat – mit Folgen für Feminismus, Meinungsfreiheit und universelle Werte. Ihr Buch ist eine Verteidigung der Aufklärung gegen eine neue Orthodoxie, die Moral mit Wahrheit verwechselt. Fourests Universalismus ist radikal im besten Sinn: Er will Gleichheit ohne kulturelle Relativierung. MARLIES ETTL hat für die Leser*innen der ZUKUNFT rezensiert.

Freiheit beginnt dort, wo das Recht, zu beleidigen,
als Teil der Menschenwürde begriffen wird.
Fourests Buch ist ein Plädoyer
gegen das Verstummen
aus Angst, zu verletzen,
und für das mutige Reden,
das Demokratie erst ermöglicht.

I. Einleitung

Caroline Fourest ist eine der streitbarsten Intellektuellen Frankreichs – Feministin, Journalistin, Publizistin, Mitstreiterin von Charlie Hebdo. Ihr Buch Generation beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei (2020) ist keine Reflexion über Stilfragen, sondern über die Erosion des Denkens durch moralische Empfindlichkeit. Fourest beobachtet eine Verschiebung: Linke Bewegungen, einst von Universalismus und Emanzipation getragen, verlieren sich in Sprachregeln und Identitätsabgrenzungen. Kritik wird mit Aggression verwechselt, Meinungsfreiheit mit Privileg. Sie diagnostiziert eine „Verpolitisierung der Empfindung“, die den demokratischen Diskurs lähmt.

II. Die Argumentation von „Generation beleidigt“

Fourests zentrale These: Wer den Diskurs moralisch überlädt, ersetzt Argumente durch Gefühle. „Man darf alles sagen – solange sich niemand beleidigt fühlt“, lautet ihre ironische Diagnose. Damit kehre das Heilige, das die Aufklärung einst entzauberte, in säkularer Form zurück.

Sie illustriert diese Entwicklung an Beispielen:

  • Universitäten in Großbritannien und den USA, an denen Rednerinnen und Autorinnen wie J. K. Rowlings oder Germaine Greer ausgeladen werden, weil ihre Positionen „triggernd“ wirken könnten.
  • Literatur von Voltaire und Mark Twain, die in Frankreich und Kanada aus den Lehrplänen verschwanden, weil sie als „kolonial“ eingestuft wurde.
  • Aktivistinnen, die sich gegenseitig exkommunizieren, weil sie Begriffe falsch verwenden.

Auch in Österreich zeigt sich das Muster: 2025 strich der Leykam-Verlag den Beitrag von Gertraud Klemm aus der von Mareike Fallwickl und Eva Reisinger herausgegebenen Anthologie „Das Pen!smuseum“ nach Online-Protesten wegen früherer Texte Klemms; der Vorgang löste eine breite Debatte über Meinungsfreiheit und moralischen Druck im Literaturbetrieb aus. 

Diese Mechanismen, so Fourest, zerstören das Fundament des Dialogs. Sie schaffen eine „Tyrannei der Beleidigung“, in der nicht mehr Argumente zählen, sondern Empfindlichkeiten.

Ihr Feminismus hält dagegen: Er will Frauen nicht in geschützten Räumen isolieren, sondern ihnen den öffentlichen Raum zurückgeben. „Freiheit“, schreibt sie, „ist kein Safe Space.“ Wer den Feminismus in Opferkategorien fixiert, verliere die Fähigkeit zur Veränderung.

GENERATION BELEIDIGT VON CAROLINE FOUREST
Berlin: Edition Tiamat
144 Seiten| € 18.00 (Taschenbuch)
ISBN-13: ‎ ‎ 978-3-89320-266-9
Erscheinungstermin: 2020

III. Die streitbare Caroline Fourest

Fourest ist keine Theoretikerin, sondern eine Publizistin mit kämpferischer Rhetorik – bekannt durch ihre Kolumnen für Charlie Hebdo, ihr Enthüllungsbuch Frère Tariq (2004) über den islamischen Gelehrten Tariq Ramadan und ihr feministisches Magazin ProChoix, das seit 1999 religiösen Fundamentalismus in all seinen Formen kritisiert.

Nach den Anschlägen von 2015 hielt sie an einer Position fest, die sie zugleich verehrte und isolierte: Kritik an Religion sei kein Angriff auf Gläubige, sondern Ausdruck der Freiheit, die Religion zu prüfen. Ihre Schriften, darunter Eloge du blasphème (2015), zeigen, dass Säkularismus nicht antireligiös ist, sondern emanzipatorisch.

Fourest wurde dafür heftig attackiert – teils von der extremen Rechten, die sie wegen ihres Antirassismus ablehnt, teils von der Linken, die ihr „Islamophobie“ vorwirft. Ihr eigentliches Anliegen, den Islamismus – nicht den Islam – zu kritisieren, ging dabei fast verloren.

Sie bleibt dabei: Gleichheit der Geschlechter und Meinungsfreiheit dürfen nicht dem Respekt vor religiösen Empfindlichkeiten geopfert werden. Ihre Haltung findet in Österreich Resonanz, wo wir Frauen von Terre des Femmes Österreich einen ähnlichen Feminismus vertreten: universalistisch, säkular, konsequent gegen patriarchale Gewalt – ob sie religiös, kulturell oder sozial legitimiert wird.

Caroline Fourest à Paris © Wikimedia Commons

V. Feministische Debatte: Universalismus versus Identität

Fourest attackiert eine Entwicklung innerhalb des Feminismus, die sie als „Abkehr vom Universalismus“ beschreibt. In einer Passage des Buches heißt es sinngemäß: „Manche Feministinnen verteidigen nicht mehr Frauenrechte, sondern Identitäten“. Sie beobachtet, wie ein Teil der Bewegung beginnt, religiöse Symbole, etwa das Kopftuch, als Zeichen der Selbstbestimmung zu feiern. Für Fourest ist das ein Verrat an der Emanzipation: Feminismus könne nicht zugleich Unterdrückung und Befreiung legitimieren.

Auch die Debatten um #MeToo dienen ihr als Prüfstein. Fourest unterstützt den Aufbruch, warnt aber vor moralischer Überspannung. „Wer jedes ungeschickte Verhalten zur Gewalt erklärt, schwächt die Bedeutung des Wortes Gewalt selbst“. Der Feminismus, so ihre Mahnung, verliere seine analytische Schärfe, wenn er zum moralischen Code verkomme.

Ihr Ziel ist ein Feminismus, der nicht moralisiert, sondern emanzipiert. Der keine Schonräume schafft, sondern Freiheit verteidigt. Der Unterschied zwischen Fourest und vielen jüngeren Aktivistinnen liegt im Grundbegriff der Gleichheit: Für sie ist er universal – nicht verhandelbar, nicht kulturell bedingt.

VI. Antisemitismus, Nahost und selektive Solidarität

In Generation beleidigt verweist Fourest auf die Tendenz linker Bewegungen, ihre Solidarität nach Identität zu sortieren. Sie kritisiert die blinden Flecken, die entstehen, wenn Antisemitismus in progressiven Milieus relativiert wird.

Für Fourest ist das keine Randfrage, sondern ein Prüfstein des Humanismus. Wer Opfer hierarchisiert, verlässt das Feld der Aufklärung. In ihren Kommentaren zum Nahostkonflikt fordert sie einen Feminismus, der sich nicht an Nationalflaggen, Religionen oder „Lagerlogiken“ orientiert, sondern an Menschenrechten.

VII. Identitätspolitik und Demokratiekrise

2025 wirkt Fourests Diagnose wie eine Warnung an eine westliche Öffentlichkeit, die zwischen Empörung und Erschöpfung schwankt. Die moralische Aufladung des Diskurses hat politische Vernunft verdrängt.

Fourest sieht in der heutigen Identitätspolitik etwas wie eine neue säkulare Religion: mit festen Überzeugungen, Tabus und der Tendenz, Abweichende auszugrenzen. Kritik wird leicht als Angriff verstanden, Ironie als Verrat. Dadurch, so warnt sie, geht dem politischen und feministischen Diskurs die Offenheit für echten Widerspruch verloren.

Sie fordert eine „Rückkehr zur Aufklärung“, die Freiheit und Gleichheit als gemeinsame Basis verteidigt – auch gegen jene, die im Namen des Fortschritts Denkverbote errichten.

VIII. Schluss

Generation beleidigt ist keine kulturpessimistische Klage, sondern ein Weckruf. Fourest ruft – nicht nur uns Feministinnen – dazu auf, sich nicht von moralischen Moden treiben zu lassen, sondern an der universellen Idee der Gleichheit festzuhalten.

Ihr Denken findet hierzulande Resonanz bei den Aktivistinnen von Terre des Femmes Österreich, die für Selbstbestimmung und Menschenrechte eintreten, ohne sich ideologisch vereinnahmen zu lassen. Beide Positionen verbinden Mut zur Kritik mit Respekt vor der Vernunft.

Fourests Buch ist damit nicht nur ein Essay über Sprache, sondern ein Manifest für Zivilcourage und einen radikalen Laizismus. Es macht deutlich, dass Feminismus keine bequeme Haltung ist, sondern eine Praxis der Freiheit. Und dass Freiheit – auch 2025 – nur dort besteht, wo gesprochen, gestritten und widersprochen werden darf. Es geht mithin ganz im Sinne der Französischen Revolution um Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit.

LOB DES LAIZISMUS VON CAROLINE FOUREST
Berlin: Edition Tiamat
296 Seiten| € 14,54 (Taschenbuch, gebraucht)
ISBN-13: ‎ ‎ 978-3893202881
Erscheinungstermin: 04. April 2022

Literatur

  • Abdel-Samad, Hamed (2015): Der islamische Faschismus. Eine Analyse, München: Droemer.
  • Ali, Ayaan Hirsi (2015): Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss, München: Albrecht Knaus.
  • Ateş, Seyran (2007): Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können, München: Ullstein Buchverlage.
  • Charlie Hebdo: Redaktionsarchiv 2015–2023, online unter: https://guides.library.harvard.edu/charliearchive (letzter Zugriff: 10.10.2025).
  • Fourest, Caroline (2015) : Eloge du blasphème, Paris: Le Livre de Poche.
  • Fourest, Caroline (2020): Generation beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei, Berlin: Edition Tiamat, vgl. online unter: https://edition-tiamat.de/books/generation-beleidigt (letzter Zugriff: 10.10.2025)
  • Fourest, Caroline (2022): Lob des Laizismus, Berlin: Edition Tiamat.
  • Petri, Noam/Petri, Dan/Petri, Ron (2025): Warum Juden mit der politischen Linken brechen sollten – Verteidigung der Zivilisation statt linker Hegemonie, in: Cicero online, online unter: https://www.cicero.de/innenpolitik/7-oktober-2023-juden-linke (letzter Zugriff: 10.10.2025)
  • Rushdie, Salman (2012): Joseph Anton. Die Autobiografie, München: Bertelsmann.
  • Terre des Femmes: offizielle österreichische Website online unter: www.terredesfemmes.at (letzter Zugriff: 10.10.2025).
  • Schneider, Vanessa (2024): Caroline Fourest: « Evitons d’abuser de #metoo pour régler des comptes, dégager des gens », in : Le Monde Online “, https://tinyurl.com/mtk5wz75 (letzter Zugriff: 10.10.2025).
  • Scholz, Nina (2019): Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert, Wien: Molden.
  • Zu Gertraud Klemm siehe u. a.: 
  • Simon, Anne-Catherine (2025):): Aufruhr in Österreichs Literaturszene: Leykam ‚cancelt‘ feministische Autorin Gertraud Klemm, in: Die Presse (07.06.2025), online unter: https://www.diepresse.com/19772132/aufruhr-in-oesterreichs-literaturszene-leykam-cancelt-feministische-autorin-gertraud-klemm (letzter Zugriff: 10.10.2025).
  • Lehner Angela (2025): Es darf nicht nur einen Feminismus geben!; in: DIE ZEIT Österreich (08.06.2025): https://www.zeit.de/kultur/2025-06/gertraud-klemm-feminismus-trans-personen-leykam-verlag-debatte (letzter Zugriff: 10.10.2025).

MARLIES ETTL

ist Autorin und freiberufliche feministische Publizistin und Beraterin mit Schwerpunkt sozialdemokratische Theorie und gesellschaftliche Debatten.

In Generation beleidigt warnt Caroline Fourest vor einer Bewegung, die Kritik mit Angriff verwechselt und Empfindlicßhkeit zur Waffe macht – eine Analyse, die 2025 aktueller ist denn je. Sie polarisiert, weil sie als Journalistin auftritt, nicht nur als Wissenschafterin. Ihre Stimme ist kämpferisch, direkt und überzeugt vom Wert von Vernunft, Universalismus und freier Rede. Rezensentin Marlies Ettl, Gründungsmitglied von Terre des Femmes Österreich, teilt diesen Anspruch auf einen Feminismus, der sich nicht von Empfindlichkeiten einschüchtern lässt.