museum in progressKaspar Mühlemann Hartl

Die Bildstrecke der vorliegenden Feudalismus-Ausgabe der Zukunft wird vom MUSEUM IN PROGRESS beigesteuert und damit dem reaktionären Schwerpunktthema eine progressive, zukunftsweisende Ausrichtung entgegengehalten. Der Geschäftsführer KASPAR MÜHLEMANN HARTL stellt das Museum vor, das in der Öffentlichkeit etwa für die künstlerische Überblendung des politisch schwerbelasteten Eisernen Vorhangs in der Wiener Staatsoper bekannt ist.

I. Anfänge und Ausrichtung

Die Frage nach der Zukunft des Museums stand am Anfang von museum in progress. 1990 gründeten Kathrin Messner und Josef Ortner († 2009) in Wien den gemeinnützigen Kunstverein, der von Beginn an auf neuartige Präsentationsformen für zeitgenössische Kunst fokussierte.[1] Mit ihrer Vision einer Initiative, die außergewöhnliche Kunstprojekte in öffentlichen und medialen Räumen realisiert, öffneten und sprengten sie den White Cube. Von Anfang an war museum in progress global ausgerichtet, band internationale Künstler*innen und Kurator*innen ein und etablierte sich dank seiner innovativen Projekte und seines weitreichenden Netzwerks rasch als relevante Kunstplattform.

Das Ziel ist bis heute unverändert: neue Ausstellungsformen für zeitgenössische Kunst zu entwickeln und möglichst viele Menschen mit hochqualitativer Kunst zu erreichen. Ohne eigenes Ausstellungsgebäude agiert museum in progress an der Schnittstelle von Kunst und Alltag, jenseits traditioneller Formate. Freiräume werden temporär zu Aktionsräumen für künstlerische Interventionen – in Zeitungen und Magazinen, auf Plakatflächen, Gebäudefassaden, Baugerüsten und Flaggenmasten ebenso wie an Infoscreens und öffentlichen Screens, in Bahnhöfen, U-Bahn-Stationen und Konzertsälen, im Fernsehen, im Internet oder sogar an Bord von Flugzeugen. Auf diese Weise entstehen „Museen auf Zeit“ in medialen und urbanen Räumen. Seit 2022 präsentiert museum in progress in seinem Online-Museum „digital mip“ (www.mip.at/digital-mip) einen virtuellen Ausstellungsraum für zeitgenössische digitale Kunst.

II. Ein unkonventionelles Museum

museum in progress ist seit 2023 auch offiziell als „Museum“ registriert und trägt das Österreichische Museumsgütesiegel für herausragende Museumsarbeit. Damit wird bestätigt, dass museum in progressdie ICOM-Definition von Museen und sämtliche Kernaufgaben traditioneller Museen auf höchstem Niveau erfüllt – wenn auch häufig mit unkonventionellen Zugangsweisen. museum in progress versteht sich als kreatives Labor und Experimentierfeld, das beständig neue Formen des Ausstellens erprobt. Öffentliche, mediale und virtuelle Räume werden dabei zu temporären Museumsräumen, die ungewohnte Perspektiven eröffnen. Massimiliano Gioni kommentierte dazu:

„Von museum in progress hatte ich gelernt, dass Museen zuallererst Software und nicht Hardware sind, und dieser Gedanke ist heute zeitgemäßer und wirksamer denn je.“

Als „System der Welterschließung“ (Cathrin Pichler) ist die Kunst in der Lage, zum Nachdenken anzuregen, gesellschaftliche Missstände zu beleuchten sowie neue Perspektiven auf die Wirklichkeit zu geben. Die Überzeugung, dass Kunst unabhängig ihrer Form oder Inhalte immer politisch ist, da sie das Denken und den Blick der Menschen verändert, prägt das Selbstverständnis der Projekte von museum in progress als gesellschaftspolitische Handlung. Schließlich ist der menschliche Kopf bekanntlich deshalb rund, „damit das Denken die Richtung wechseln kann“ (Francis Picabia). Dabei legt museum in progressgroßen Wert darauf, frei von politischer Einflussnahme zu agieren, wodurch der Raum für mutige Projekte geschützt wird.

Veränderung ist ein zentrales Element dieses Konzepts und spiegelt sich bereits im Namen „in progress“ wider. Ohne Veränderung wäre die zeitgenössische Kunst, wie wir sie heute kennen, undenkbar, gelten doch Innovation und Originalität als zentrale Qualitätsmerkmale. Für Museen als institutionelle Träger der Kunst liegt es daher nahe, wandelbare Ausstellungsformen zu entwickeln – ein Ansatz, den museum in progress konsequent verfolgt. Das Museum hat seine Strukturen flexibel gestaltet, um Werke möglichst optimal zu präsentieren und Schritt zu halten mit der sich ständig verändernden zeitgenössischen Kunstpraxis. museum in progress ist „eine ewige Baustelle“ (Chiara Parisi), ein immaterielles Museum, das kontinuierlich neue Formen des Ausstellens erprobt. Auch im Kontext der Diskussion über die Zukunft von Museen nimmt es eine Vorreiterrolle ein. Seit seiner Gründung beschäftigt sich museum in progress mit dieser Fragestellung und präsentiert seine Visionen für das Museum der Zukunft im Rahmen seiner Kunstprojekte, die somit auch als Feldversuche verstanden werden können und im besten Falle modellhaft einen Beitrag zum Museumsdiskurs leisten. Chris Dercon bemerkte dazu 2021:

„Heute, wo sich viele ein ‚Post-Covid-Museum‘ vorzustellen versuchen, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass sich museum in progress dieses ‚andere‘ Museum schon vor langer Zeit ausgedacht hat.“

III. Temporäre Kunsterlebnisse als demokratisierender Wert

museum in progress verfolgt hohe Qualitätsansprüche und strebt bleibende Werke und Werte an – paradoxerweise im Rahmen temporärer Projekte. Seine ephemeren, kontextabhängigen Kunstprojekte behaupten sich im Überangebot visueller Reize des öffentlichen Raums und schaffen dadurch intensive, unmittelbare Kunsterlebnisse. Auch Menschen ohne Vorkenntnisse werden von dieser Unmittelbarkeit erfasst. Auf diese Weise wird der Zugang zur Kunst demokratisiert, ohne auf Populärkultur zu setzen.

Im Bereich Zeitungs- und Magazinkunst hat museum in progress weit über eintausend Werke realisiert. Die Bandbreite reicht von kleinformatigen Inserts bis zu mehrseitigen Arbeiten, von einmaligen Beiträgen bis zu Gruppenausstellungen und seriellen Schaltungen über mehrere Jahre hinweg. Manche Projekte umfassen bis zu neunundneunzig Einzelwerke und bis zu achtzehn Medienpartner. Mit seinen Ausstellungen in Zeitungen und Magazinen knüpft museum in progress an Projekte in Massenmedien an, die in den 1960er-Jahren ihren Anfang nahmen. Wichtige Vorreiter waren beispielsweise Dan Graham mit „Figurative“ im Modemagazin Harper’s Bazaar (1965) oder Allen Kaprow mit seinen „Falschen Fotos“ in der Wochenzeitung Die Zeit (1981). Es ließen sich noch zahlreiche weitere Kunstprojekte in Printmedien anführen, allerdings nimmt museum in progress in diesem Bereich aufgrund der großen Anzahl, Vielfältigkeit und der hohen Qualität der realisierten Werke eine weltweit singuläre Position ein. Keine andere Institution realisierte in ähnlichem Umfang vergleichbare Werkgruppen.

Die Arbeiten werden jeweils spezifisch für den Medienraum konzipiert und sind nicht Reproduktionen, sondern eigenständige Multiples in der Auflage des jeweiligen Mediums. Jede Zeitung oder jedes Magazinheft wird so zu einem Original. Das gilt ebenfalls für die Kunst-Plakate, die museum in progressvon 1991 bis 2001 jährlich für jeweils zwei Monate an rund dreitausend Plakatflächen in Wien realisierte und ab 1997 in über zwanzig europäische Städte ausweitete. Institutionen wie das Museum of Modern Art in New York, das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, die Frac Bretagne oder das mumok in Wien haben große Bestände der Multiples von museum in progress in ihre Sammlungen aufgenommen.

IV. Am Puls der Zeit

Rainer Fuchs resümierte 2020:

museum in progress hat seit seiner Gründung die österreichische Kunstlandschaft nicht nur gehörig umgekrempelt und international weit nach vorne gebracht, sondern auch deren selbstgerechte Identität völlig irritiert. Dass ein Museum nichts mit einer mehr oder weniger brauchbaren Architektur zu tun haben muss, dass die Öffentlichkeit ein ortloser, sozialer und medialer Raum sein kann und dass daher auch Kunst und ihre Wahrnehmung nichts ein für allemal Bestimmbares sind – all das hat uns museum in progress gelehrt.“

In 35 Jahren haben rund 700 Künstler*innen Werke von großer inhaltlicher und formaler Bandbreite für museum in progress geschaffen. Sie befassen sich mit Themen wie Identität und Geschlechterrollen, Arbeit und Religion, Medien und Diskurs, Individualismus und Menschengruppen, Beziehungen und Körperlichkeit, Rassismus und Migration, Krieg und Gewalt, Erinnerungskultur und Politik, Netzwerke und Kartographie, Urbanismus und Verkehr, Umwelt und Tierreich, Robotik und Populärkultur oder Kunst und Inszenierung. Die Aktualität vieler Arbeiten in Bezug auf gesellschaftliche Fragen zeugt von der Zeitlosigkeit der Kunstwerke und ihrer Offenheit für multiple Lesarten. Bis heute hat das Konzept von museum in progress nichts an Relevanz verloren. Aufgrund der programmatischen Wandelbarkeit ist es in der Lage, seine Projekte am Puls der Zeit zu realisieren. Dabei wird durch außergewöhnliche Ausstellungsformen eine Interaktion mit zeitgenössischer Kunst ermöglicht, die beim Publikum einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.

KASPAR MÜHLEMANN HARTL 

studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien und ist seit 2012 Geschäftsführer des museum in progress. Als solcher ist er verantwortlich für die künstlerische Ausrichtung des Museums, hat zahlreiche Projekte kuratiert und Kunstkataloge herausgegeben. Weitere Infos online unter: www.mip.at.


[1] Die Ausführungen zu museum in progress in vorliegendem Artikel basieren weitgehend auf folgenden Texten des Autors: Mühlemann Hartl, Kaspar (2021): Editorial, in: Mühlemann Hartl, Herrmann (Hg.): museum in progress, 2021, S. 2; Mühlemann Hartl, Kaspar (2023): museum in progress und seine projektbezogene Sammlungspraxis, in: Museumsbund Österreich (Hg.): neues museum. die österreichische museumszeitschrift, Ausg. 23/3, Juni 2023, S. 34f.; Mühlemann Hartl, Kaspar (2024): museum in progress, in: Museumsbund Österreich (Hg.), neues museum. die österreichische museumszeitschrift, Ausg. 24/1–2, März 2024, S. 70f.