Wie wir europäische Herausforderungen sozialdemokratisch beantworten – VON ANDREAS SCHIEDER

ANDREAS SCHIEDER, Leiter der SPÖ-Delegation im EU-Parlament, diskutiert für die Leser*innen der ZUKUNFT die Post-2024-Prioritäten einer EU, die stärker, demokratischer und sozial gerechter werden muss. In diesem Essay beschreibt der Europaparlamentarier die aktuellen Entwicklungen im Superwahljahr 2024. Anhand progressiver sozialdemokratischer Ideen und Konzepte werden Wege aufgezeigt, dem aktuellen Rechtsruck zu begegnen und Europa sozialer zu gestalten 

I. Einleitung

Im Superwahljahr 2024 wird in mehr als 60 Ländern gewählt. Auch in Europa steht mit der EU-Wahl im Juni 2024 ein richtungsweisender Urnengang an. Und das in einem Kontext multipler Herausforderungen: Der globale Rechtsruck ist deutlich spürbar. Hinzu kommen Teuerung, Inflation, Auswirkungen durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Klimakrise. Herausforderungen, denen nur geeint und europäisch begegnet werden kann. Während konservative Kräfte mit rechten Parteien paktieren und die europäische Einheit und Stabilität gefährden, legen Progressive aller Länder Ideen und Konzepte vor, um die Vision eines sozialen Europas umzusetzen.

Andreas Schieder © Sebastian Philipp

Andreas Schieder © Sebastian Philipp

II. Ein Superwahljahr

Das Jahr 2024 wird oft als Superwahljahr bezeichnet. In mehr als 60 Ländern, darunter Pakistan, Indien, Südafrika, Russland und den USA, finden heuer Wahlen statt. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die demokratischen Standards sind in diesen Ländern sehr unterschiedlich und nicht alle Wahlen werden erwartungsgemäß frei und fair ablaufen. Dennoch hat der Ausgang dieser Wahlen eine Auswirkung auf den globalen politischen Kurs und Europa. Im letzten Jahrzehnt ist die Welt komplizierter und unsicherer geworden. Olaf Scholz, der sozialdemokratische Bundeskanzler Deutschlands, prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Zeitenwende“.

In weniger als drei Monaten, vom 06. bis zum 09. Juni, finden die Europawahlen statt. Ein entscheidender Moment in der europäischen Geschichte und für die 450 Millionen EU-Bürger:innen. Sie ist wahrscheinlich wichtiger als jede andere Europawahl zuvor. Da die Welt immer unsicherer und komplizierter wird, spielt die Bedeutung einer geeinten, starken EU als Raum der Grundrechte, fairer Chancen und Stabilität eine immer größere Rolle. Wird die EU in der Lage sein, geeint und schnell genug auf die aktuellen globalen Herausforderungen zu reagieren? Wird die EU über die dafür nötigen Mittel und Strukturen verfügen?

Da die europäische Integration noch im Gange ist, sind diese Fragen nicht leicht zu beantworten. Die Bedeutung dieser Wahlen geht jedoch weit über übliche Diskussionen um den europäischen Zusammenhalt hinaus. Nationale, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien werden immer stärker und könnten auch bei den Europawahlen mehr Unterstützung und mehr Sitze im Europäischen Parlament erhalten. Dies ist eine Bedrohung für die europäische Integration als solche. Die EU wurde als Gegenentwurf zu Nationalismus und Krieg, als Friedensprojekt gegründet. Wir dürfen nicht zulassen, dass Nationalist*innen dieses Projekt zerstören.

Was steckt hinter dem Aufschwung der rechten Parteien? Rechtspopulistische Bewegungen können nicht nur als politische Randerscheinung erklärt werden. In den letzten Jahren haben sie in mehreren europäischen Ländern einflussreiche Positionen erreicht oder sogar Regierungen gebildet. Verschiedene Beispiele aus Ungarn, Italien, Österreich, Schweden, Polen oder den Niederlanden zeigen den Aufstieg des rechten Flügels. Der Kontext ihres Machtzuwachses und die Gründe bzw. politischen Situationen in den einzelnen Ländern sind sehr unterschiedlich, aber sie haben alle Folgendes gemeinsam: Die Rechte nutzt die Dynamik dieser unsicheren Zeiten. Es gibt aber auch noch andere Gemeinsamkeiten: Zum Beispiel sind immer dann, wenn rechte Parteien in einem Land eine verantwortungsvolle Position einnehmen, die sozialen Sicherungsnetze weniger stabil geworden, das Ausmaß an Korruption hat zugenommen und die bestehenden Verbindungen zu Putin haben sich verstärkt. Jetzt stellt sich die Frage: Ist der Aufstieg des rechten Flügels ein europäisches Phänomen? Nein, wir sehen ähnliche Trends in den USA, Indien und anderen Ländern. Es ist also eine globale Entwicklung, auf die eine starke Sozialdemokratie schnellstens reagieren muss.

III. Wie kann man auf diesen Trend reagieren?

Der Abstand von den politischen Rändern zum programmatischen Ansatz der Europäischen Konservativen (EVP) ist nicht weit – einige Vertreter*innen der demokratischen Mitte-Rechts-Parteien denken, sie könnten eine mögliche Wähler*innenverschiebung zur extremen Rechten aufhalten, indem sie ihre Politik an die extreme Rechte anpassen. Ein dummer und gefährlicher Irrtum. Am Ende wird es nicht funktionieren, denn warum sollte man die Kopie an Stelle des Originals wählen? Umgangssprachlich gesagt, wer geht zum Schmiedl, wenn er gleich zum Schmied gehen kann? Darüber hinaus schwächt dieses Anbiedern der Konservativen auch die EU und ihren Zusammenhalt als solches, und damit ihre Fähigkeit, auf zukünftige Herausforderungen geeint zu reagieren.

Dementgegen stellt progressive Politik Ideen und Konzepte bereit, wie eine positive Reform der EU gestaltet werden kann. Die Welt braucht ein stabiles, starkes und geeintes Europa. Je mehr die Welt erschüttert wird, desto mehr muss die EU der Pol der Stabilität, der Grundrechte und einer lebendigen Demokratie sein. Wir sollten auch nicht vergessen, welchen Beitrag Europa zum globalen Fortschritt durch Innovation, Wissenschaft und moderne Industrie leistet. Was wir brauchen, ist eine EU-Industriepolitik, die darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie zu stärken und eine nachhaltigere, widerstandsfähigere und digitalisierte Wirtschaft zu fördern, die Arbeitsplätze schafft. Durch COVID haben wir gelernt, dass die strategische Autonomie in einigen Bereichen verbessert werden muss.

Aber auch die soziale Gerechtigkeit muss in der globalen Produktion entlang der gesamten Lieferkette gestärkt werden; wir müssen Kinderarbeit und Ausbeutung abschaffen und die Arbeitsbedingungen verbessern, gleichzeitig aber auch unsere hohen europäischen Standards schützen. In einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft braucht es Regeln für Unternehmen, um Menschenrechte und Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten zu schützen. Das vor Kurzem beschlossene EU-Lieferkettengesetz ist ein wichtiger erster Schritt, um europäische Standards global zu verbreiten. Nach langen Verhandlungen, versuchte eine zynische Koalition aus Mitte-Rechts, Liberalen und Rechtsextremen, dieses historische Gesetz im letzten Moment zu verhindern. Zum Glück vergebens und die Progressiven konnten sich durchsetzen. Dies führt aber erneut vor Augen, wie fragil die Mehrheiten für sozial gerechte und nachhaltige Politik in Europa momentan sind.

IV. Ausblick: Wie wir eine starke, sozial gerechte EU schaffen

Wenn wir eine starke EU wollen, müssen wir unsere sozialen Sicherungsnetze enger knüpfen, egal ob es um den europäischen Mindestlohn, die Kindergarantie oder eine Regelung gegen die moderne Ausbeutung von Plattformarbeitenden geht. Wir wollen nicht die entfesselte Globalisierung, sondern wir brauchen faire Bedingungen für alle. Die Digitalisierung bringt viele Vorteile für unsere Gesellschaft, aber auch neue Risiken. So war die EU die erste, die Initiativen ergriffen hat, um einen Rechtsrahmen für den digitalen Wilden Westen zu schaffen und Hassreden zu bekämpfen. Selbiges gilt für ein Regelwerk für Künstliche Intelligenz: Auch hier setzen wir als Europäische Union weltweit erste Standards.

Und apropos Industriepolitik: Wir brauchen mehr Forschung, mehr soziale Gerechtigkeit und die Modernisierung unserer technischen Infrastruktur – für all das brauchen wir europäische Programme zur Finanzierung. Weiter geht’s mit der europäischen Finanzpolitik: Sie muss flexibler werden, um notwendige Investitionen und ein schnelles Reagieren in Krisensituationen zu ermöglichen. Das neoliberale Paradigma der Austerität hat seine negativen Auswirkungen auf die Resilienz unserer Gesellschaften gezeigt.

V. Conclusio

Und nun kommen wir zur wahrscheinlich größten Herausforderung unserer Zeit: Die Klimakrise ist real und hat bereits Einzug in unser Leben gehalten. Es liegt in der Verantwortung der Politik, dies zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren, ohne jemanden dabei zurückzulassen. Es gibt diejenigen, die uns sagen, dass wir unser Leben individuell radikal ändern müssen, und diejenigen, die die Existenz des Klimawandels gänzlich leugnen. Ein moderner sozialdemokratischer Ansatz liegt genau in der Mitte – er erkennt die negativen Auswirkungen des Klimawandels an und arbeitet an Antworten, aber auf eine sozial gerechte Weise. Wir sehen die Herausforderungen, die mit der Anpassung einhergehen: Es braucht einen nachhaltigen sozial gerechten Wandel am Arbeitsmarkt in Form von neuen „grünen“ Arbeitsplätzen. Die Bekämpfung der Klimakrise darf nicht am Rücken der arbeitenden Bevölkerung stattfinden. Die europäische Wirtschaft kann nur durch Nachhaltigkeit gestärkt werden. Wir müssen uns der sozialen Auswirkungen und der gerechten Verteilung innerhalb unserer Wirtschaft bewusst sein. Ein funktionierender grüner Wandel braucht ein rotes, sozialdemokratisches Herz.

Die Umstände sind nicht einfach, die Herausforderungen sind nicht einfach und unsere Konzepte sind es auch nicht; aber unser Ziel ist einfach und gerecht: Ein gutes Leben für alle. Der Kampf, der vor uns liegt, ist nicht einfach – aber unsere Demokratie kann nur verteidigt werden, wenn wir aus ihr eine soziale Demokratie machen.

ANDREAS SCHIEDER

geb. 1969 in Wien, ist österreichischer Volkswirt und SPÖ-Politiker. Ab 2006 war er Nationalratsabgeordneter, zwischen 2008 und 2013 zuerst Staatssekretär im Bundeskanzleramt, dann im Finanzministerium. Ab Oktober 2013 SPÖ-Klubobmann, von November 2017 bis Oktober 2018 gf. SPÖ-Klubobmann. Seit 2019 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments und Leiter der SPÖ-Delegation im EU-Parlament. In der österreichischen Außenpolitik hat er viel Erfahrung für seine Arbeit in Brüssel mitgenommen. Er war auch bereits im österreichischen Parlament Obmann des Außenpolitischen Ausschusses. Von 2007 bis 2008 war er internationaler Sekretär der SPÖ.