„Gerade über solche extremen Erlebnisse
ist ja erstaunlich wenig zu sagen.
Menschliches Sprechen
ist für anderes erfunden und gemeint.“
Ruth Klüger (1992): Weiter leben. Eine Jugend
Der Siebte Oktober Dreiundzwanzig stellt das größte Pogrom am Judentum seit der Shoah dar. In ungeahnter, gänzlich unmenschlicher Brutalität hat die u. a. vom Iran finanzierte und von Katar aus befohlene Terrororganisation Hamas in ihrem seit Jahrzehnten bekundeten eliminatorischen Antisemitismus 1139 Menschen ermordet, 5400 weitere verletzt und 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Noch immer warten Angehörige auf die Befreiung ihrer Verwandten: geliebte (Groß-)Väter, (Groß-)Mütter, Schwestern, Brüder, Freund*innen … Des Weiteren verübten die islami(stisch)en Terroristen am Supernova-Festival und damit auch in 21 Kibuzzen gnadenlose Massaker an der Zivilbevölkerung und scheuten sich nicht, ihre Taten noch während ihrer systematischen Mordaktionen auf verschiedenen Medienkanälen global zu veröffentlichen. Der Zivilisationsbruch vom Siebten Oktober ist nicht zuletzt deshalb breit dokumentiert: Den israelischen Behörden – und damit der globalen Öffentlichkeit – liegen mehr als 200.000 (Bild-)Dokumente und 2000 Zeug*innenaussagen vor, die jede Infragestellung des Genozids Lügen strafen.
In Erinnerung an die kaum fassbare Brutalität des „radikal Bösen“, das auch unsere juristischen, ethischen und demokratische Grundlagen zerstören sollte, hat sich die Redaktion der ZUKUNFT angesichts des Pogroms nur kurze Zeit nach dem Massaker entschlossen, eine eigene Ausgabe zu gestalten, um ein Jahr danach der Opfer und der nach wie vor nicht befreiten Geiseln zu gedenken. Dabei treten wir in tiefer Solidarität mit den Angehörigen und Überlebenden auch mit allem Nachdruck einer im Westen deutlich gewordenen „negationistischen“ Tendenz entgegen, die – parallel zur und genau wie bei der Leugnung der Shoah – nunmehr dazu übergegangen ist, auch den Siebten Oktober als historisches Ereignis zu bezweifeln und in Frage zu stellen. Deshalb ist es uns ein so dringendes Anliegen, gegen jede Form von Judenhass aufzutreten, um im Sinne der Fakten und der rationalen Argumentation eine klare und deutliche Position einzunehmen: Nie wieder ist jetzt!
Was sich im Rahmen des letzten Jahres in Israel getan hat, fasst in unserem einleitenden Beitrag Orna Shani in einem berührenden Bericht zusammen, der die dramatischen Ereignisse des Siebten Oktober aus mehreren (subjektiven) Perspektiven beleuchtet. Sie beschreibt die persönlichen Erlebnisse während des Angriffs, der die israelische Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte und bis heute eine traumatisierende Schockwirkung hinterlassen hat, aber auch zu uneingeschränkter Solidarität der Israelis führte. Zur Erklärung analysiert Shani den seit Jahrzehnten existierenden radikalen und eliminatorischen Antisemitismus der Hamas, der sich auch auf eine breite Unterstützung der „palästinensischen“ Bevölkerung stützen kann und verweist dabei auf die medialen Propagandastrategien aus „Pallywood“, die auch im Westen keineswegs wirkungslos sind. Deshalb kritisiert unsere Autorin die internationalen Reaktionen auf den Konflikt – insbesondere in den USA und Europa – wo zahlreiche Demonstrationen zur Unterstützung der „palästinensischen Sache“ stattfanden. Sie stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die westlichen Demokratien eine moralische Doppelzüngigkeit zeigen, indem sie Antisemitismus und Hass tolerieren.
Wider einen gänzlich fehlgeleiteten Antiimperialismus, der in den USA den „großen“ und in Israel den „kleinen Satan“ sehen will, legt Stephan Grigat dann mit seinem Beitrag eine eingehende Analyse des iranischen „Imperiums“ vor und betont, dass Frieden, eine Entspannung der Situation und eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Nahen Osten nur zu erreichen sind, wenn die Feinde des Friedens bekämpft werden – und das sind die Hamas, die Hisbollah, die proiranischen Milizen in Irak, Syrien und Jemen sowie das iranische Regime. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, dass der tieferliegende Grund für den sog. „Nahostkonflikt“ gerade im eliminatorischen Antisemitismus der arabischen Staaten, vor allem aber des schiitischen Iran liegt. Denn seit Khomenei stehen die Ajatollahs in Kontinuität zum Nationalsozialismus und arbeiten permanent an der gänzlichen Auslöschung Israels und damit der Vernichtung der Juden. Deshalb fordert Grigat eine 180-Grad-Wende in der europäischen Iran- und Nahost-Politik, die dringend geboten ist, um – durchaus auch im demokratischen Eigeninteresse – Israel bei der Bekämpfung der Hisbollah und der Strippenzieher in Teheran in jeglicher Hinsicht zu unterstützen und im gegenwärtigen Verteidigungskrieg eben nicht einsam und allein zu lassen.
Ganz in diesem Sinne präsentiert auch Barbara Serloth genau ein Jahr nach dem bestialischen Pogrom vom Siebten Oktober eine eingehende Analyse aktueller Formen des Antisemitismus im Blick auf den sog. „Nahost-Konflikt“. Sie bespricht dabei ebenfalls die eminente Gefahr des islami(sti)-schen Terrorismus für unsere wehrhafte westliche Demokratie. In diesem Kontext geht unsere Autorin auf zahlreiche historische und gegenwärtige Publikationen zu Israel und Palästina – von Hannah Arendt über Jean Améry bis hin zu Natan Sznaider – ein, um deutlich zu machen, dass sich die diesbezüglichen Diskussionen bemerkenswerterweise wiederholen. Sie verweist deshalb auf die Jahrtausene alte Kontinuität antijudaistischer und später antisemitischer Legenden und zeigt so z. B., dass angesichts der Diskussionen zum „Heimatrecht“ nur äußerst selten an die systematischen Vertreibungen von Juden aus arabischen Staaten erinnert wird, die auf die Staatsgründung Israels folgten. So muss betont werden, dass UNWRA und UNO an der (antiisraelischen und antisemitischen) Tradierung des Problems beteiligt sind und auch dadurch das Existenzrecht Israels auf globaler Ebene permanent in Frage gestellt wird. Dennoch plädiert Serloth – bei aller politischen Aussichtslosigkeit – auf dem Weg zum ewigen Frieden für eine Zwei-Staatenlösung und ein selbstständiges Palästina.
Den allgemeinen Rahmen der aktuellen Debatten im Blick auf „Orient“ und „Okzident“ nimmt dann Arash Guitoo zum Ausgangspunkt seiner Argumentation, die in Erinnerung an den Siebten Oktober herausarbeitet, wie die Romantisierung des „Orients“ und verschiedene Formen des Kulturrelativismus daran beteiligt sind, die Gefahr des Islamismus für „westliche“ Ideale wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte herunterzuspielen. Dabei kritisiert auch er – u. a. im Blick auf Judith Butlers entgleiste Behauptung, die Hamas habe am Siebten Oktober „bewaffneten Widerstand“ geleistet – die mehr als bedenkliche westliche Toleranz gegenüber reaktionärsten antidemokratischen Kräften. Deshalb rekapituliert Guitoo auch die Holzwege von großen Teilen einer Linken, die sich seit den 1960er-Jahren in einer fundamental(istisch)en Kritik an der westlichen Moderne sammelte wie heute in den Universitäten und auf den Straßen unserer Metropolen. Dabei distanziert er eine unreflektierte Idealisierung der Burka ebenso wie die permanente Kritik an „Islamophobie“, wenn vielmehr eine Kritik am „verfallenen Haus des Islam“ (Ruud Koopmans) nottut. Es ist eben mehr als bedenklich, wenn Menschen, die ihre traumatischen Erlebnisse mit dem Islam schildern, in westlichen linken Kreisen als Verräter ihrer eigenen Kultur betrachtet werden.
Festzuhalten bleibt auf allgemeinster Ebene, dass der Siebte Oktober – als gnaden- und mitleidsloser Terroranschlag der Hamas – durchgängig mit dem eliminatorischen und apokalyptischen „Erlösungsantisemitismus“ (Saul Friedländer) verbunden ist, der schon die Auslöschung und Vernichtung des europäischen Judentums durch den Nationalsozialismus in singulärer Art kennzeichnete. Deshalb wollen wir im Rahmen unserer Ausgabe auch auf den derzeitigen Stand der Antisemitismusforschung verweisen: Marie-Theres Stampf hat sich für die Leserinnen und Leser der ZUKUNFT die Mühe gemacht, den Band Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung (2023) zu besprechen, den Stephan Grigat herausgegeben hat. In diesem Sammelband schreiben hoch kompetente Autorinnen und Autoren – wie Ingo Elbe, Marlene Gallner oder Samuel Salzborn –, welche die Verhältnisse von Christentum und Islam, von Antizionismus und Postkolonialismus, von Verschwörung und Narzissmus, aber auch von Bildung und Praxis im Sinne der Antisemitismuskritik eingehend analysieren. Der Band steht als PDF-Datei online kostenfrei zur Verfügung.
Vojin Saša Vukadinović spricht dann am Ende unserer Ausgabe in seinem kursorischen Streifzug durch die Entwicklungen seit dem Pogrom und die zugehörigen Tendenzen innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften von einem „Jahr der Schande“. Nicht nur, dass sich Tausende Akademikerinnen und Akademiker in diversen Stellungnahmen und auf dem Campus aufseiten des studentischen Mobs gestellt haben – weitaus mehr Kolleginnen und Kollegen dürften sich wider besseren Wissens um den Antisemitismus dieser Kreise zum Schweigen entschieden haben, anstatt Position zu beziehen. Seither wird ein business as usual gepflegt, welches den Massenmord vom Siebten Oktober bestenfalls wie ein politisches Ereignis unter vielen behandelt, um sich dem universitären Tagesgeschäft zu widmen – und so selbst einen Beitrag zur Stabilisierung des antizionistischen Konsens zu leisten, der dort waltet.
Es geschieht selten, dass angesichts eines dermaßen sensiblen Themas auch die Bildstrecke der ZUKUNFT sich mit ihrem thematischen Inhalt so innerlich verbindet. Denn vom Cover weg hat die israelische Künstlerin Zoya Cherkassky uns erlaubt, ihre so traurigen Gemälde aus der Serie October 7, 2023 abzudrucken. Dass in den Israel Defense Forces (IDF) Frauen weinen, weil Unschuldige massakriert wurden, ist dabei nur ein zutiefst berührender Moment von vielen, die wir mit dem antisemitischen Pogrom vom Siebten Oktober in Erinnerung behalten werden. Cherkassky hat diese aufwühlenden und schockierenden Bilder in Österreich bereits Anfang 2024 präsentiert. Barbara Serloth stellt deshalb unsere Ausgabe abschließend unsere Künstlerin vor und verweist darauf, dass diese Bildstrecke uns auch an Pablo Picassos Guernica und Giottos Massaker der Unschuldigen erinnern darf.
Des Weiteren möchten wir unsere Leserinnen und Leser darauf hinweisen, dass die Herausgeberin und die Herausgeber dieser Ausgabe der ZUKUNFT für eine Schwerpunktausgabe der MEDIENIMPULSE zu Antisemitismus verantwortlich zeichnen, die – mit großer Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) – am 21. September 2024 in Erinnerung an die Singularität der Shoah und die Einzigartigkeit des Siebten Oktobers online gegangen ist. Unter www.medienimpulse.at finden sich demgemäß verschiedene Beiträge von Expertinnen und Experten, die eine weiterführende Diskussion zum Antisemitismus am Siebten Oktober möglich machen.
Die Herausgeberin und die Herausgeber legen mithin im Namen der Redaktion eine Ausgabe vor, die uns ein Jahr nach dem Siebten Oktober Dreiundzwanzig im Sinne elementarer Mitmenschlichkeit und Solidarität die Möglichkeit geben soll, der Sprachlosigkeit zu entkommen. Eine angemessene Erinnerung, Diskussion und Aufarbeitung des antisemitischen Massenmordes muss den tatsächlichen Ereignissen entsprechen und darf sich dabei keiner Form von Revisionismus oder Negationismus beugen. Deshalb werden wir Zeugnis ablegen … und miteinander sprechen. Am Yisrael Chai! Schalom!
Es senden trauernde aber freundschaftliche Grüße
Alessandro Barberi, Barbara Serloth und Vojin Saša Vukadinovic
ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.
BARBARA SERLOTH
ist Politikwissenschaftlerin und Senior Parliamentary Advisor im österreichischen Parlament. Sie forscht und publiziert in den Bereichen Parlamentarismus, Demokratietheorie und Antisemitismus.
VOJIN SAŠA VUKADINOVIC
ist Historiker und promovierte an der Freien Universität Berlin mit einer Studie zur politischen Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er hat zum Linksterrorismus, zur Geschichte der Neuen Frauenbewegung, zu migrationspolitischen Belangen und jüngst zum Siebten Oktober Dreiundzwanzig publiziert.