Der Beitrag von BARBARA SERLOTH lotet das spannende Verhältnis von Hans Kelsens Rechtspositivismus und der Staatstheorie des Austromarxismus[1] im Sinne Max Adlers aus. Dabei wird fast genau 100 Jahre später die eminente Aktualität der diesbezüglichen Diskussionen im Rahmen der Ersten Republik mehr als deutlich.
I. Einleitung: Vom Austromarxismus
In den ersten zweieinhalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Wien eines der Zentren des wissenschaftlichen Aufbruchs, in der die „Gelehrten-Republik“, wie Otto Neurath[2] den von ihm mitbegründeten Wiener Kreis nannte, eine interdisziplinäre Diskursplattform mit unterschiedlichen, eigenen Kreisen bildete. Einer von diesen wurde von Hans Kelsen geleitet, ein anderer von Otto Bauer. Trotz der losen Konstruktion blieb der Wiener Kreis wesentlich von seinen Gründern Otto Neurath, Hans Hahn und Ernst Mach geprägt. Die Wissenschaftserneuerung war nicht nur, jedoch auch mit Positivismus und Logischem Empirismus verbunden. Otto Bauer hielt fest, dass die jüngeren Austromarxisten von Immanuel Kant und Ernst Mach[3] geprägt wurden. Nicht ganz unbegründet nannte sie der studierte Jurist und Rechtsanwalt Wladimir Iljitsch Lenin „die Herren Doktoren“, womit er das Wesen des Austromarxismus gleichzeitig einfing und ihm doch, aufgrund seiner völlig andersgearteten politischen Ambitionen, nicht gerecht wurde. Der Austromarxismus war eine bunte Bewegung mit unterschiedlichen Positionierungen, wobei das Ringen um die Demokratisierung des Marxismus ein wesentliches Element darstellte.
Hans Kelsen beteiligte sich rege an, aus heutiger Sicht, politikwissenschaftlichen Themen und deren Schnittstellen in die Rechtswissenschaft. Er, der im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen althergebrachten und neu formulierten Zugängen in der Rechtswissenschaft stand, forderte, in einem als hoch politisch zu interpretierenden Diskurs, die Abkehr vom Ethischen im Rechtssystem und die Fokussierung auf ein dem Positivismus verpflichtetes Rechtsverständnis. Seine Reine Rechtslehre ist nicht nur als radikale rechtspositivistische Lehre, sondern auch als eine mutige theoretische Objektivierung der Rechtswissenschaft durch Fokussierung auf ihren ursächlichen Erkenntnisbereich zu verstehen.[4] Matthias Jestaedt bezeichnete die Reine Rechtslehre nicht unbegründet als „juristische Relativitätstheorie“.
II. Von der Reinheit der Rechtslehre und dem Marxismus
Seine Originalität begründete sich nicht nur auf der mutigen Verweigerung gegenüber den traditionellen Zugängen zur Rechtslehre, der rigorosen Minimierung der Rechtswissenschaft auf sich selbst und ihr wissenschaftliches Erkenntnisinteresse, sondern auch durch die Verbindung von bereits längst in der Philosophie vertretenen Positionen, wie der Einfluss des Neukantianismus zeigt. Zudem scheute sich Kelsen nicht vor unpopulären Aussagen, wie dem Umstand, dass das Rechtssystem nicht das politische System beeinflusst, dass es eine Demokratisierung bewirken kann, jedoch bei Weitem nicht muss. Diese Konkretisierung des Möglichen ergab sich aus der Konsequenz seines Rechtsverständnis genauso wie aus seiner Verpflichtung gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis, die nichts ist, wenn sie nicht auf vollumfänglich zu Ende gedachten Antworten hinsichtlich des Erkenntnisinteresses basiert.[5]
Trotz des ausgeprägten Eigensinns der Reinen Rechtslehre verblüfft die ihr entgegengebrachte breite Ablehnung bei gleichzeitig großem Interesse an und Wertschätzung ihr gegenüber. Vor allem verwundert die Distanz liberaler und austromarxistischer Strömungen gegenüber Kelsen und seinem Bestreben der Entmoralisierung des Rechts und der damit verbundenen Demokratisierung der Gesellschaft und Politik. Clemens Jabloner unterstreicht, dass die Rechtsordnung von Kelsen als „System von Rechtsnormen, nicht als Gefüge von sozialen Tatsachen beschrieben“[6] wird. Alleine diese Grundausrichtung musste einen Diskursbedarf gegenüber marxistischen Positionen in sich bergen. Der Rückzug auf das pure Recht bedeutete demnach nicht nur die Entprivilegisierung von ethisch-gesellschafslenkenden Organisationen und Bevölkerungsgruppen, sondern auch die Verweigerung gegenüber allen politischen Ideologien.[7]
Kelsens Sympathie gegenüber sozialdemokratischen Werten wird nicht nur in seinen Werken deutlich, vor allem jenen Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit[8], sondern auch durch die Vielzahl an Publikationen, in denen er sich mit dem Marxismus kritisch auseinandersetzte. Es braucht nicht extra betont zu werden, dass er dabei nicht umhinkonnte, ebenso zynisch wie geistreich, die Denkfehler in den kritisierten Abhandlungen auf der Basis seiner eigenen Interpretation aufzuzeigen. Allen voran ist seine demokratisch-parlamentarische Grundausrichtung und die Bedeutung des Freiheitsbegriffs für ihn mitzulesen. Letzteres liest sich in seiner Kritik am Kommunistischen Manifest deutlich heraus. Kritisiert wird von ihm nicht nur die fehlende klare Definition, was nun unter Staat im Marxismus zu verstehen sei,[9] sondern auch die Festlegung auf die revolutionäre Machterwerbung[10], die verbunden wird mit einer zeitlich nicht näher eingeschränkten Übergangszeit. Innerhalb der Überbrückung hin zum Ideal wurde angepeilt, der Bourgeoisie peu à peu das Kapital zu entreißen. Kelsen weist auf die Problematik hin, dass damit die Proletarier*innen zwar die politische Herrschaft innehaben, jedoch weiterhin ökonomisch ausgebeutet blieben. Diesen Vorwurf vertieft er mit der Zitierung der Auflösung der Klassenunterschiede „im Laufe der Entwicklung“ und des Bestehens auf die Selbstentwicklung der Staatsmaschine aufgrund der neuen ökonomischen Rahmenbedingungen.[11] Durch die Verknüpfung mit Friedrich Engels II. Vorrede zum Kommunistischen Manifest, betont er die Notwendigkeit der Unterscheidung der „ökonomischen Befreiung von der Eroberung der politischen Macht“[12]. Letztlich bedeutet dies:
„Die Konstruktion des proletarischen Klassenstaates zeigt das Bild einer politischen Herrschaft, die nicht die wirtschaftliche Ausbeutung der beherrschten durch die herrschende Klasse, sondern im Gegenteil die dauernde Verhinderung dieser Ausbeutung bezweckt.“[13]
Dieser Schluss ist eine harte Kritik, die sich nicht unbedingt aus dem Zitierten ergibt. Kelsen ist jedoch darin Recht zu geben, dass nicht nur die Unklarheiten, sondern auch die Einforderung der evolutionären ökonomischen und politischen Prozesse in der Phase nach der Machtgewinnung bei gleichzeitiger Einforderung revolutionärer Prozesse in der Phase der Machtgewinnung anzukreiden sind. Die Gesellschaft muss in diesem Stadium als Masse von herrschenden Beherrschten angesehen werden, was Kelsen kurz in dem Satz zusammenfasst: „Eine Klassenherrschaft ohne wirtschaftliche Ausbeutung ist ein Unding“[14]. Wir sind fast geneigt zu behaupten, dass Kelsen und die Austromarxisten keine Freunde werden konnten, wenn nicht trotz allem der hohe Grad an Sympathie und gegenseitiger Wertschätzung mit einigen Austromarxisten nachlesbar wären.
III. Kelsens politische Positionen und der Staat
Um die Unmöglichkeit der Annäherung zu verdeutlichen, stellen wir in aller Kürze die zentralen Eckpunkte der Kelsenschen politischen Positionen dar. Kelsen geht von einer pluralistischen Gesellschaft aus, die sich aus ihren Subsystemen ergibt. Diese sind „in ihrer Eigengesetzlichkeit nur als spezifische Wertesysteme (zu) begreifen“[15]. Den Staat interpretiert er als normative Zwangsordnung. Emotionale Schlupflöcher werden genauso wie Verheißungen verunmöglicht. Die kritischen Stellungnahmen vonseiten der Austromarxisten gegenüber Kelsen sind ebenso anregend, wie jene von Kelsen. Max Adler antwortet zum Beispiel auf Kelsens rein rechtswissenschaftliche Staatsauffassung mit dem Hinweis:
„Wenn ich vom Staat nur weiß, dass er eine Zwangsorganisation ist, so ist mir damit über das Wesen des Staates, in dem wir leben, (…), gar nichts gesagt. Erst die soziologische Betrachtung erschließt uns Funktion und Bedeutung dieser Zwangsordnung.“[16]
Dieser Einwand ist sowohl legitim, als auch nicht. Aus der Sicht des Austromarxismus ist Kelsens Staatsauffassung eine eingeschränkte, da er weder historische, noch soziologische Ambitionen aufweist. Kelsen verweist seinerseits in verschiedenen Abhandlungen, dass auch soziologische oder sozialpsychologische Versuche, den Staat zu erklären, vom rechtswissenschaftlich vorbereiteten Terrain und seiner Existenz ausgehen.[17]
Will man Kelsen verstehen, sind seine rechtswissenschaftlichen Aussagen zwar ideologielos zu lesen, allerdings von der Seite eines grundsätzlichen Demokraten. In diesem Zusammenhang ist nicht zu verleugnen, dass die parlamentarische Demokratie, anders als andere politischen Systeme den Staat als Zwangseinheit, dessen Normsystem auf dem Output der parlamentarischen Verhandlungen basiert, aufbaut. Der normbezogene Staat, kann ohne Volkskörper, Gott, Blut und Boden oder Zukunftsversprechen auskommen, muss es aber nicht. Die Bewertung und Erklärung der Herrschaftsverhältnisse ist, wie immer wir es drehen und wenden, aber Teil der politischen Kultur und politikwissenschaftlich zu bewerten, nicht rechtswissenschaftlich.
Eingeschränkt mehrheitsfähig ist zudem in der Kelsenschen Lehre die Betonung der Vielfalt der Gesellschaft. Gehen wir kurz zurück: Aufgrund der Annahme, dass es die Gesellschaft nicht geben kann, ist die Gesamtheit der unterschiedlichen Subsysteme als solche zu akzeptieren. Kausal verbunden ist damit, dass soziale Diversität, Pluralität und der damit kausal verbundene Werterelativismus ebenfalls zur Kenntnis genommen werden müssen. Dies widerspricht grundsätzlich den marxistischen Interpretationen von der Herstellbarkeit einer Gesellschaft. Der Austromarxismus, der eine Demokratisierung anstrebte, bleibt der Grundannahme der Möglichkeit der Errichtung einer Gesellschaft treu. Die Verschiebung ergibt sich durch die Abkehr von der Revolution und der Hinwendung zur Überzeugungsarbeit. Kelsen reagiert auf die Frage der Lösbarkeit der Existenz einer universalen Gesellschaft mit Verweigerung.[18] Mit dem Hinweis auf die Unzuständigkeit einer Staatslehre gegenüber dieser Frage zieht er sich aus dem Dilemma zurück. Mit der Verweigerung einer Positionierung, die wir auch an anderen Stellen bei Kelsen antreffen, die wissenschaftlich nicht zu bemängeln ist, bleibt er jedoch genauso wie der Austromarxismus einige Antworten schuldig.
Kelsens brillante Aufarbeitung über Sozialismus und Staat beginnt er mit dem Hinweis auf die eher dem Glück zu verdankende politische Ausnahmesituation durch den militärischen Zusammenbruch von Russland, Deutschland, Österreich und Ungarn. Verbunden ist dieser historische Glücksfall allerdings mit dem offenkundig werdenden Fehlen einer Positionierung zum Staat[19]. Es mangelt
„nicht nur die grundsätzliche Verneinung oder Bejahung des Staates, sondern auch, ob der Staat eine endgültige Organisationsform oder eine bloße Übergangserscheinung, und vor allem: Welche die der sozialistischen Gesellschaftsordnung adäquate Staats- und Regierungsform sei.“[20]
Das Dilemma ergibt sich unter anderem durch die unterschiedlichen Interpretationen des Marxismus und seinen Grundpositionen, wie eben jener zum Staat oder auch der Machtgewinnung. Kelsens Aufruf zur Rückkehr zu Ferdinand Lassalle wurde trotz aller Demokratisierungsausrichtung von den Austromarxisten zurückgewiesen.[21]
IV. Der Klassenstaat?
Die widersprüchliche Haltung der Austromarxisten in ihrer grundsätzlichen Positionierung ergab naturgemäß verschiedenste interne Diskurse. Trotz allem bestanden sie darauf, unter der marxistischen Flagge zu segeln. Dies begründete die Kritik von Kelsen an der seiner Meinung nach bestehenden kausalen Verquickung des Staates mit der ökonomischen Ausbeutung der Proletarier*innen. Max Adler, der bei gegenseitiger höchster Wertschätzung, gemeinsam mit Kelsen ein produktives und anregendes „wissenschaftliches Schachduo“ bildete, reagierte auf diese Interpretation in seiner Gegenschrift zu Kelsens Sozialismus und Staat, mit der Ausführung, dass die Gleichsetzung von marxistischer Staatsauffassung mit der Ausbeutungsthese irrig sei, genauso wie jene der Klassenherrschaft mit wirtschaftlicher Ausbeutung.[22] Adler hielt Kelsen entgegen, dass im Marxismus der Staat nicht existiere, sondern immer der bürgerliche gemeint sei,
„auf den sich namentlich sein theoretisches und praktisches Interesse bezieht. (…) Gebraucht er daher das Wort Staat im einzelnen Falle von einem anderen Substrat, also etwa vom proletarischen Staat, so ist der so bezeichnete Gegenstand eben etwas anderes als der bürgerliche Staat. (…) Das wesentliche für den marxistischen Staatsbegriff ist alleine dies, dass es sich um eine Klassenherrschaft handelt, so dass die Gemeinschaftsorganisation als Staat stets eine Form der Unterdrückung darstellt.“[23] Damit beschreibt er eine ideologische Annahme, die vom Austromarxismus selbst außer Kraft gesetzt wurde, wie Kelsen bei aller Sympathie mit Verweis auf das ideologische Problem der Koalition der Austromarxisten mit den Bürgerlichen kritisierte. Mit dieser Koalition war theoretisch verbunden, dass der marxistischen Staatsauffassung des Staates als Ausbeuterstaat kaum genüge getan werden konnte. Kelsen hielt fest, dass es durch diesen „Staat, der nach Otto Bauer weder ein Bourgeois- nach ein Proletarierstaat ist, und den es nach der Marx-Engelschen Theorie gar nicht gibt“, und dem damit verbundenen Gewaltengleichgewicht der Klassen (Otto Bauer) die Ausbeutungsthese aufgehoben sei.
Es muss nicht extra betont werden, dass dies eine Abkehr von der Gleichsetzung des Staates mit Ausbeutung oder auch von Max Adlers Auffassung, dass der „Staat stets eine Form der Unterdrückung darstellt“ bedeutet. Hier stellt sich, im Sinne Kelsens, die Frage, ob seine Ausbeutungsthese bei der Staatsauffassung wirklich so irrig ist, denn auch wenn die Klassenherrschaft und die Unterdrückung nicht ökonomisch definiert wird, kann sie wohl nur in dieser enden. Jede Unterdrückung muss im Endeffekt ökonomische Folgen mit sich bringen, sei es in finanzieller Abhängigkeit oder den sozialen Konsequenzen geringerer Bildung oder Verweigerung von Zugängen.
Gleichsam muss die Aufgabe der kausalen Verknüpfung des Staates mit Unterdrückung und Klassenherrschaft als Voraussetzung für die Demokratisierung des Marxismus gesehen werden. Anzumerken ist hier, dass innerhalb von demokratischen Rahmenbedingungen die Bezeichnung Klassenstaat nicht zwangsweise zu Grabe getragen werden muss oder soll, wie auch von Kelsen unterstrichen wird. Hier greift die Macht des Wahlrechtes und die jeweiligen Konsequenzen des Verhältnis- oder eben des Mehrheitswahlrechts. Letzteres kann so weit das Mehrheitsverhältnis beeinflussen, dass unter Umständen sehr wohl von einem Klassenstaat gesprochen werden kann. Die zentrale Frage ist, welcher Staat und gleichzeitig welche Gesellschaft angestrebt wird.
V. Vom Messianismus
Für den Marxismus ergibt sich in diesem Problemfeld das entscheidende theoretische Schlupfloch der Utopie. Als messianische Ideologie muss er sich nicht dem Jetzt stellen, sondern kann auf die Glück verheißende Zukunft verweisen.[24] Der Staat, der für Ausbeutung und Egoismus (der anderen) steht, wird, nach vielen Zwischenschritten, abgelöst von einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft. Allerdings ist klassenlos nicht gleichzusetzen mit gegensatzlos, nicht mit dem Wegfall unterschiedlicher individueller Interessen und Ausrichtungen. Zur Bewertung kommt hinzu, dass nur in der Utopie einer antiindividuellen, gleichgeschalteten Gesellschaft und unter Anwendung rigoroser Zwangsmaßnahmen die Individuen davon abgehalten werden können, sich dem politisch-sozialen Druck zu entziehen und einen alternativen, selbstbestimmten Lebensstil zu leben. Unter diesen Rahmenbedingungen ist die Realisierung einer offenen Gesellschaft und eines demokratischen Staates schlicht nicht möglich, egal, wie die Verfassung gestaltet ist. Auch werden, wie Kelsen anführt, die politischen Spaltungstendenzen, die in jeder Gesellschaft anzutreffen sind, von den marxistischen Theoretikern nicht mitgedacht und schon gar nicht der Umstand, dass innerhalb einer Demokratie nicht die Klasse, sondern ausschließlich die Partei die Macht erobern könne.[25]
VI. Conclusio
Letzteres gilt natürlich auch für nicht demokratische politische Systeme. Der zentrale Punkt dabei sei, dass weder eine Klasse noch eine Partei über die alles gestalten könnende Macht innerhalb eines Staates verfügen sollte. Das für die Demokratie so entscheidende Majoritätsprinzip ist nach Kelsen nur dann als grundsätzlich demokratisch zu verstehen, wenn die Majorität nicht durch eine einzelne Partei gebildet werden kann. Erst der demokratische Diskurs in den demokratisch-parlamentarischen Organen gewährt die Balance der Interessen und Bedürfnisse. Das Majoritätsprinzip, das durch Verhandlungen errungen wird und einen Kompromiss aller demokratisch-parlamentarischen Kräfte ist, legitimiert die Repräsentation, die wir inklusive der Repräsentationsfiktion(Kelsen) denken.
Für den Austromarxismus, ist festzuhalten, dass dieser selbstverständlich zeiteingebettet zu lesen ist. Kelsens Kritik ist zeitnah, authentisch, aber auch zeitlos. Es kann weder die Gesellschaft noch die Klasse geben. Die Individualisierung durch die Moderne muss akzeptiert werden, mit all den damit verbundenen Konsequenzen.
BARBARA SERLOTH
ist Politikwissenschaftlerin und Senior Parliamentary Advisor im österreichischen Parlament. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Parlamentarismus, Demokratietheorie und Antisemitismus. Ihr Blog POLITIK:NACH:DENKEN findet sich online unter: https://www.barbaraserloth.at/.
[1] Aufgrund der damals noch nicht vollzogenen Teilung in Österreich verwende ich den Begriff „Austromarxismus“, wenn ich aus meiner Sicht die Dinge beleuchte und die von Kelsen verwendeten Begriffe „Sozialismus“ und „Marxismus“, wenn ich mich auf seine Sichtweise beziehe.
[2] Zitiert nach Edmonds, David (2020): Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie, Berlin: C. H. Beck.
[3] Vgl. Bauer, Otto (1927): Austromarxismus, in: Arbeiter-Zeitung 03.11.1927: 1; vgl. auch Sander, Günther (2018): Der Austromarxismus und die Wiener Moderne, in: Fishan, Andreas et al. (Hg.): Marxismus als Sozialwissenschaft, 111–123, 112); Thiele, Joachim (1966): Zur Wirkungsgeschichte der Schriften Ernst Machs in: Zeitschrift für philosophischer Forschung, Bd. 20, H. 1.
[4] Vgl. Kelsen, Hans ([1960] 2017): Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 1960, Wien: Verlag Österreich, 22.
[5] Seine klar nachvollziehbaren Positionen wurden nichtsdestotrotz nach 1945 aus dem Zusammenhang gerissen und missbräuchlich eingesetzt, um die Kausalitätsthese zu kreieren. Der Rechtspositivismus war als scheinbar einzig auszumachende intellektuelle und politische Strömung für den Aufstieg und die Machterhaltung des Nationalsozialismus verantwortlich zu machen.
[6] Jabloner, Clemens (1998): Wie zeitgemäß ist die Reine Rechtslehre?, 29, 1–21, 3.
[7] Auf persönlicher Ebene setzte er für sein Unabhängigkeitsverständnis ein mehr als deutliches Signal durch die Ablehnung der Ernennung zum Verfassungsrichter durch Karl Renner im Jahre 1929. Er, der trotz offensichtlicher Sympathie für die Sozialdemokratie, nie Parteimitglied wurde, lehnte es schlicht ab, von ihr in den Verfassungsgerichtshof entsendet zu werden. Diese Haltung spricht für ihn, allerdings nicht im machtpolitischen Sinn von politischen Bewegungen.
[8] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 11.
[9] Vgl. Kelsen, Hans (1922/1965): Sozialismus und Staat, hg. von Norbert Leser, Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, 34.
[10] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 35.
[11] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 39.
[12] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 39.
[13] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 39.
[14] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 41 (Hervorhebung im Original).
[15] Kelsen, Hans (1925/2019): Allgemeine Staatslehre. Studienausgabe der Originalausgabe, hg. Von M. Jestaedt, Wien: Verlag Österreich, 54.
[16] Adler, Max (1922/2016): Die Staatsauffassung des Marxismus, Reprint: Austromarxismus Bd. 6, Bremen: Wiener Verlag, 77.
[17] Vgl. Kelsen, Hans (1922/2018): Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse, Reprint mit identem Titel, 4–48, Bremen: intank, 7.
[18] Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 54f.
[19] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 17.
[20] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 17.
[21] Vgl. Olechowski, Thomas (2020): Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Tübingen: Mohr Siebeck, 356.
[22] Vgl. Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, 84.
[23] Vgl. Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, 84 (Hervorhebungen im Original).
[24] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 33. (Kelsen verweist auf die Ähnlichkeiten zwischen der Konzeption des hl. Augustinus und jener der Marxisten, wobei ersterer „sein Ideal vorsichtigerweise ins Jenseits verlegt, während dieser es vermittels eines kausalen Entwicklungsgesetzes ins Diesseits zwingt.“)
[25] Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 43.
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