Bemerkungen zu Kelsens „Reiner Rechtslehre“ unter Berücksichtigung der praktischen Philosophie Kantens VON GEORG KOLLER

Eine bloß empirische Rechtslehre ist
(wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel)
ein Kopf, der schön sein mag,
nur schade ! daß er kein Gehirn hat.

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten

Wenn man die konkreten Beispiele untersucht,
mit denen Kant die Anwendung seines
kategorischen Imperativs zu illustrieren versucht,
muss man feststellen, dass es durchwegs
Vorschriften der traditionellen Moral und des
positiven Rechts seiner Zeit sind.
Sie sind keineswegs […] aus dem
kategorischen Imperativ abgeleitet,

denn nichts kann aus dieser leeren Formel abgeleitet werden.

Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?

 

I. Vorbemerkung

Eine naturdeterministisch verstandener Rechtspositivismus, der im Folgenden angesichts der Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen zur Diskussion steht, erlaubt es, sich einleitend – und im Sinne Sigmund Freuds – auf den alten Witz vom Angeklagten und dem Richter zu berufen:

Der Angeklagte meint:

„Herr Richter, ich bin unschuldig! Ich war von der Natur dazu bestimmt, dieses Verbrechen zu begehen!“

Der Richter antwortet darauf:

„Und ich bin von der Natur dazu bestimmt, sie zu verurteilen!“

Hans Kelsen würde wohl in diesem Zusammenhang hinzufügen, dass die Natur in diesem Witz nur die physikalischen Rahmenbedingungen liefert, während das positive Recht zur Zuordnung der Strafe führt.

Die dahinterstehende Philosophie und mithin der Rechtspositivismus insgesamt beruft sich dabei kaum auf Immanuel Kant, wurde aber von dem Neukantianer Hans Kelsen (*1881 – †1973) maßgeblich ausgearbeitet, wobei er dabei nachweislich im Sinn hatte, einen Angeklagten so schonend wie möglich zu behandeln. So war Kelsen im ersten Weltkrieg als Stellvertreter des Militäranwaltes dem Divisionsgericht in Wien zugewiesen, wo seine Hauptaufgabe darin bestand, sich eingehend mit politischen Delikten zu befassen. In diesem Zusammenhang berichtet Kelsens Biograph Rudolf Aladár Métall, dass sich am Divisionsgericht die Freisprüche derart häuften, dass Kelsen in das Gnadenreferat des k. u. k. Kriegsministeriums versetzt wurde, wo nun erneut standrechtliche Todesurteile vermehrt in Freiheitsstrafen umgewandelt wurden (vgl. Métall 1969: 18f.).

So versöhnlich Kelsen mithin biografisch gewesen sein muss, so unversöhnlich geht seine Rechtsphilosophie mit Themengebieten um, die seiner Meinung nach rechtsfremd waren und einen „Methodensynkretismus“ generierten, der „das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt, die ihr durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen sind“ (Kelsen 1960: 1). Dies gilt ausdrücklich auch für das Vernunftrecht Immanuel Kants, wobei Kelsen sogar dessen Freiheitsbegriff als überflüssig zurückweist (vgl. ebd.: 99). Dabei ist das Verhältnis von Kelsens Rechtsphilosophie zur praktischen Vernunft Kantens ähnlich wie das des Wiener Kreises zur kantischen Metaphysik überhaupt. In ihrem Positivismus sind der frühe Wiener Kreis und Kelsens Reine Rechtslehre in manchen Punkten tatsächlich vergleichbar. Gemeinsam haben Kelsen und der Wiener Kreis auch die Bewunderung für Kants Bemühungen um Systematik, wobei Kelsen Kants Naturwissenschaftsauffassung durchaus teilte, was beim Wiener Kreis gerade nicht der Fall war.

Als begründungstheoretisches Werk scheitert die Reine Rechtslehre aber an ihren inneren Widersprüchen. Mit seinen Ausgangspunkten hätte Kelsen sehr wohl ein rechtstheoretisches Programm gestalten können, quasi ‚Reinheitsgebote für Juristen‘. Aber ein philosophisch unterfütterter Rechtspositivismus, der seine Geltung allein aus positivem Recht ableiten will, verliert sich in Ausblendungen und Zirkelschlüssen. So ging auch der radikale Positivismus des Wiener Kreises u. a. an seinen konventionalistischen Tendenzen zugrunde, welche die ursprüngliche Absicht, klare Geltungsansprüche zu formulieren, bis zur Unkenntlichkeit verwässerten. Ein solches (bewusstes) Scheitern war indes nur möglich, weil die philosophischen Akteure genannter Geisteshaltung allenthalben anerkennen mussten, den einen oder anderen Irrweg von Alberts Münchhausen-Trilemma gegangen zu sein. Sofern also die Fehler des Wiener Kreises nicht wiederholt werden sollen, sind die Ergebnisse desselben heute vor allem der Philosophiegeschichte zuzuordnen.

Dem Programm der Reinen Rechtslehre bleibt ein solches Schicksal aber eindeutig erspart, da ihr systematisches Bemühen für die Jurisprudenz zur Gänze maßgeblich bleibt. Dem Juristen werden hier Werkzeuge zur Verfügung gestellt, für deren Anwendung es unerheblich ist, dass sie aus einem schief geratenen Kasten stammen.

Hans Kelsen hat ein sehr umfängliches Werk hinterlassen, darunter so bemerkenswerte Titel wie Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse (Kelsen: 1922) oder der 1933 erstmals erschienene Titel Die Platonische Liebe (Kelsen: 1964), mit dem er eine psychologische Deutung von Platons Homosexualität liefert. Dies ist insofern interessant, als ein Leser der Hauptwerke Kelsens den falschen Eindruck gewinnen könnte, dass Kelsen alle geisteswissenschaftlichen Positionen, die nicht rechtspositivistischen Ursprungs sind, als kaum wahrheitsfähig eingestuft hätte.

Als Kantianer ist Kelsen wohl v. a. in Zusammenhang mit Hermann Cohen, dem wohl wichtigsten Kopf der Marburger Schule, bekannt. Manfred Pascher macht in seiner Einführung in den Neukantianismus (Pascher 1997: 151 f.) aber darauf aufmerksam, dass Kelsen Cohens Ethik des reinen Willens erst in der 2. Auflage seiner Hauptprobleme der Staatsrechtslehre erwähnt (vgl. ebd: 157). Größere Relevanz für Kelsen dürfte Cohens Konzeption eines abstrakten, in der juristischen Person vereinigten Willens gehabt haben, wobei man eher von einer nachträglichen Übereinstimmung sprechen müsste (vgl. Carrino 2010: 19; Pascher 1997: 160).

Doch trotz dieser Parallele wollte Cohen Recht an die Idee des kategorischen Imperativs geknüpft sehen, was mit Kelsen unmöglich ist, da es gerade überpositive Normen waren, die er aus der Rechtstheorie verbannt wissen wollte. Zumindest in der 2. Auflage seiner Reinen Rechtslehre (1960) findet sich kein Verweis auf Cohen und Kant selbst wird (bis auf editorische Notizen) nur ganze sechs Mal erwähnt, wobei nur zwei Erwähnungen affirmativ ausfallen. Somit ist Pascher zuzustimmen, wenn er schreibt, dass Kelsen „[n]icht durch inhaltliche Überlegungen, […], sondern durch das über Cohen vermittelte Verständnis der spezifischen Fragerichtung der Transzendentalphilosophie [beeinflusst wurde]“ (Pascher 1997: 172). Diesem Befund entspricht auch Kelsens Voraussetzung seiner Grundnormtheorie, die er selbst als „transzendental-logisch“ bezeichnet (Kelsen 1960: 204). Kelsens Grundnorm ist dabei nicht mehr als die Antwort auf die Frage „Was begründet die Einheit einer Vielheit von Normen, warum gehört eine Norm zu einer bestimmten Ordnung?“ (ebd.).

Damit ist wenig zu Kelsens Denken in Bezug auf Kants kritische Philosophie gesagt, aber schon allzu viel zum Verhältnis zwischen ihr und der Reinen Rechtslehre, denn hier gibt es kaum Anknüpfungspunkte, was erst nach eingehendem Studium beider Denker bewusst werden kann. Da dieser Zusammenhang noch der weiteren Ausarbeitung bedarf, versteht sich das Folgende vor allem als hypothetische und einleitende Kommentarsammlung zu diesem herausfordernden Thema.

II. Grundlagen von Kelsens reiner Rechtslehre

In seiner Reinen Rechtslehre versuchte Kelsen dem Recht einen autonomen Raum zu geben. Dies bedeutet vor allem die Unabhängigkeit der Jurisprudenz von anderen Wissenschaften, v. a. aber von überpositiven Normen, die Kelsen allesamt als ideologisch einstuft. Dies führt zu einer vorausgesetzten Trennung von Recht, moralischen Werten und höchsten Geltungsansprüchen, die in der Literatur als „Trennungsthese“ bekannt ist (vgl. u. a. Jabloner 2011: 25 f.). Kelsen selbst charakterisierte sein Programm folgendermaßen:

„Als Theorie will sie [die Reine Rechtslehre, G. K.] ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.“ (Kelsen 1960: 1)

Am Beginn seiner Theorie steht in der Folge die Norm als voluntaristischer Sollensanspruch. Ist diese Norm eine juristische, so ist dieser Sollensanspruch eben abstrakt. Rechtsnormen können hierarchisch strukturiert sein, was Normen, die das Recht zusprechen, Normen zu erzeugen, einschließt (vgl. ebd.: 3 f.). Theoretisch bedeutsam ist dabei der Umstand, dass Recht, welches sich ausschließlich aus Recht ableiten will, in einem infiniten Regress mündet, weswegen Kelsen eine fiktive, erste Grundnorm einführt, die er mit Kant als transzendental-logisches Postulat positioniert (ebd: 204 f.).

Rechtsnormen werden als zwangsbewährte Normen verstanden, die keinem Kausalnexus, wie etwa im Fall von Naturgesetzen, unterliegen. Das heißt: einem Sachverhalt A wird, gemäß gesatzter Normen und deren Interpretation, ein Sachverhalt B zugerechnet. Interessant – und gleichzeitig höchst umstritten – ist der Umstand, dass Kelsen Normen, die niemals befolgt werden, als objektiv ungültig erachtet, was eine Definition toten Rechts sein könnte (vgl. Kelsen 1960: 10).

Diese Auffassung betont schlussendlich die Dekonstruktion positiven Rechts als gesellschaftlich-praktisch geformt, während die Wissenschaft dieser Normen theoretische Reinheit bis zur Grundnorm beansprucht. Interessant, weil theoretisch bedeutsam, erscheint hier auch die Unterscheidung von ‚subjektivem‘ und ‚objektivem‘ Recht, das Kelsen anhand des Beispiels einer Testamentsabfassung erörtert. Liegt ein gravierender Formfehler vor, so geht der subjektiv rechtssetzende Willensakt des Verfassers nicht in positives (objektives) Recht über (ebd: 2).

Eine metaphysische Grundannahme, die Kelsen jedoch nicht als solche erkannt haben wollte, ist sein Naturdeterminismus. Nach diesem existiert keinerlei Willensfreiheit und auch die Annahme einer solchen ist in seinem System zur Gänze überflüssig (vgl. Kelsen 1960: 95). Echte Pflicht- und Schuldbegriffe, aber auch relativer emotionaler Zwang auf die eine oder andere Weise zu handeln, scheiden damit aus und Kelsen wollte dies auch ernstlich so verstanden wissen. Denn er betont ausdrücklich, dass er jedes Verhalten als vollkommen zwangsbedingt erachtet. Das Gesetz sieht für verschiedene Zwänge eben nur unterschiedliche Normen vor (vgl. Kelsen 1960: 101).

Obiges ergibt, dass wenn z. B. Diebstahl bestraft wird, einem Sachverhalt A eine Rechtsfolge B zugeordnet wird, die wohl als gesellschaftlich notwendige Konditionierungsmaßnahme verstanden wird, aber ohne moralischen Tadel auskommen soll. Freilich liegen diesen Überlegungen unterschwellige anthropologische Vorstellungen zugrunde. So spricht Kelsen davon, dass in „moderne Rechtsordnungen […] einen Durchschnittstypus von Menschen“ setzen „und einen Durchschnittstypus von äußeren Umständen“ voraussetzen „unter denen Menschen, kausal bestimmt, handeln“ (ebd.).

Aber auch die fichtesche Verkürzung des kategorischen Imperativs „Handle nach Deinem Gewissen“ (vgl. Fichte 1962: 113 f.) hat hier keinen Platz, da nach Kelsen nicht alle Menschen überhaupt über ein solches verfügen (vgl. Kelsen 1960: 99). Dieses Konzept ist auch unter Rechtswissenschafter*innen sehr umstritten. Doch liegt für Jurist*innen seine Attraktivität in der Eignung exakte Normen zu generieren und analytisch handzuhaben (vgl. Rill 2011: 5). Gegenüber dem Common Law (Fall- bzw. Richterrecht) der meisten englischsprachigen Länder, wo die Rechtsfindung stark an Präzedenzfälle gebunden ist, hat sie den Vorteil vergleichsweise objektiver Rechtssicherheit, erzeugt aber den weitaus größeren Normenkatalog.

Der so oft erhobene Einwand, dass ein positivistisches, außermoralisches Rechtsverständnis es falscher Politik besonders leicht machen würde ungerechte Normen zu installieren, dürfte aber nicht zutreffen. Freilich waren etwa die Nürnberger Rassengesetze geltendes (positives) Recht, aber installiert wurden sie keineswegs durch ein rechtspositiv(istisch)es Vorgehen. Eine ideologiefreie Generierung von Normen aus bereits bestehenden Normen, hätte nämlich so etwas wie eine rassistisch motivierte Gesetzgebung nicht zugelassen (vgl. Jabloner 2011: 26, Fußnote). Probleme ergeben sich eher im Rahmen der inneren philosophischen Stimmigkeit eines solchen Konzepts. Mit Kant kann man eben sagen: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade ! daß er kein Gehirn hat“ (MdS, AB 31, 32).

III. Problematisierungen

Mit Bezug auf die genannte Problematik schreibt der österreichische Rechtswissenschaftler Heinz Peter Rill (* 1935 – † 2015):

„Es ist m. E. eine Schwäche der Reinen Rechtslehre, dass sie die These der mangelnden Wahrheitsfähigkeit von Normen mit einer Geringschätzung aller Diskurse über Werte und Normen verbindet.“ (Rill 2009: 378)

Kelsen selbst schreibt in diesem Sinne:

„In völlig kritikloser Weise hat sich die Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt.“ (Kelsen 1960: 1)

Diskurse über Werte und Normen entstammen heute aber weniger einer Naturrechtslehre als eben der Sozio- und Psychologie, was offenbar schon in Kelsens mittlerer Schaffensperiode von Bedeutung ist. Die Ersetzung metaphysischer Geltungsansprüche durch, im weiteren Sinne, soziopsychologische Positionen hat sich in der Philosophie indes fatal ausgewirkt, da sie transzendentale Fragestellungen zugunsten eines Wildwuchses an relativistischen Paradigmen eliminiert haben. Es stellt sich deshalb die Frage, ob dies in den Rechtswissenschaften ähnliche Probleme hervorrufen kann bzw. ob die Rechtswissenschaft überhaupt geeignet ist, ähnliche begründungstheoretische Reinheit zu beanspruchen, wie es in der Transzendentalphilosophie der Fall ist.

Wird einem Richter aber statutarisch die Möglichkeit eingeräumt, soziologische Gutachten einzuholen, liegt genau jener Methodensynkretismus vor, den Kelsen so scharf bekämpft hat. Eine Theorie der Rechtswissenschaften, welche die Frage beantwortet „was und wie Recht ist“ (siehe oben), kann aber schwerlich die Frage nach den gegenständlichen Sachverhalten ausblenden, die Material ihrer Befassung sind. Und darunter fallen allemal Gutachten diverser Sachverständiger, deren Äußerungen nicht genuin rechtswissenschaftlicher Natur sind. Liegt dies aber, nach Kelsen, außerhalb einer Reinen Rechtslehre, so stellt sich die Frage, wie das Gericht in solchen Fällen zu einer Entscheidungsfindung kommen soll, wobei anzumerken ist, dass eine allgemeine Theorie des Rechts seinen Anspruch verfehlt, wenn sich nicht alle Teilrechtsordnungen darunter fassen lassen, sondern nur jene, bei denen ausschließlich Rechtssätze gegeneinander abgewogen werden. Dazu werden nun kursorisch sechs Thesen formuliert:

  1. Kelsen beschreibt das Recht in toto als Zwangsordnung, bei dem u. U. „auf bestimmte, für unerwünscht – weil sozial schädlich – angesehene Umstände, […] mit einem Zwangsakt, das heißt mit einem Übel [reagiert wird]“ (ebd: 34).

  2. Selbstredend behandelt Kelsen damit v. a. das Strafrecht, wobei er schreibt, dass Geisteskranke ausschließlich deshalb nicht immer zur Verantwortung gezogen werden, weil das Gesetz hier keine Verantwortlichkeit für ein bestimmtes Verhalten vorsieht (ebd.: 101). Nicht moralische Werte, Freiheitstheorien oder Naturkausalität sind hier maßgebend, sondern die bloße Zurechnung eines Verhaltens A zu einer Rechtsfolge B, im Sinne eines rohen Konditionals, das bezweckt, einer voluntaristisch verstandenen Sollensordnung Nachdruck zu verschaffen (Kelsen 1960: 80).

  3. Wenn aber mit Kelsen durchaus der Fall eintreten kann, dass ein Geisteskranker für ein bestimmtes rechtsrelevantes Verhalten (A) nicht zur Verantwortung gezogen wird (B), wird dafür ggf. ein psychologisches Gutachten nötig sein und das Gericht darf sich nach positivem Recht darauf stützen.

  4. Kelsens oben zitiertes Programm einer Reinen Rechtslehre ist damit nicht verletzt. Weder liegt hier die Frage vor „wie [Recht] sein oder gemacht werden soll“, noch kann man hier von „Rechtspolitik“ sprechen (siehe oben).

  5. Einzig der Methodensynkretismus liegt vor, ohne den aber nicht festgestellt werden kann, wann dem beispielhaften Fall A die Rechtsfolge B (in diesem Falle ein Freispruch) zugeordnet werden kann.

  6. Generell stellt sich die Frage, wie „rein“ eine Reine Rechtslehre eigentlich sein kann und ob Recht ohne eine Theorie der Gerechtigkeit auskommt, wie Kelsen es fortwährend konstatiert. Recht und Unrecht wären dabei nur einander wechselseitig bedingte Negationen, welche die geordnete Existenz einer Gesellschaft garantieren sollen.

Auf den ersten Blick mag das durchaus folgerichtig erscheinen, so etwa im Falle einer Erfolgshaftung, in deren Rahmen Eltern für Sachschäden haften, die nicht sie, sondern ihre Kinder, verursacht haben. Oder auch in dem Fall, dass Angehörige für die Schulden Verstorbener aufkommen müssen. Aber dazu braucht man streng genommen weder eine Theorie rechtsfremder Gegenstände, noch eine Grundnorm, sondern bloß eine Beschreibung von Durchgriffsrechten, die dem Recht – kraft der normativen Kraft des Faktischen – Geltung verschaffen (vgl. Rill 2011: 10 ff.).

In diesem Sinne erwecken auch Heinz Peter Rills themenbezogene Aufsätze den Eindruck, dass in der Rechtswissenschaft die Ansicht verbreitet ist, Kelsen habe mit seiner Reinen Rechtslehre seine definitorischen Ansprüche überstiegen. Darunter ist insbesondere seine Definition des Rechts als „Summe zwangsbewehrter Normen zu verstehen“ (Rill 2011: 7 ff.). Wörtlich schreibt Kelsen:

„In diesem Sinne sind die als Recht bezeichneten Gesellschaftsordnungen Zwangsordnungen menschlichen Verhaltens.“ (Kelsen 1960: 34)

Rill verweist seinerseits hier auf mehrere Autoren (v. a. Erich Kaufmann), die diese Definition als überzogen ablehnen, da es zur Schaffung „monströser Gebilde“ (Rill 2011: 8) führen würde, alle Sätze einer Rechtsordnung in die Form von Zwangsnormierungen zu gießen. So lässt sich durchaus die Hypothese aufstellen, dass Kelsen gewissermaßen Opfer seines eigenen Kantianismus geworden ist, indem er der Verlockung erlag, den Rechtswissenschaften eine ähnlich systematische Fundierung geben zu wollen, wie Kant es im Rahmen der Metaphysik versucht hat:

„[…] als objektiv gültige Rechtsnorm […] kann die Grundnorm in ihrer Darstellung durch die Rechtswissenschaft – wenn ein Begriff der Kant’schen Erkenntnistheorie per analogiam angewendet werden darf – als die transzendental-logische Bedingung dieser Deutung bezeichnet werden. So wie Kant fragt: wie ist eine von aller Metaphysik freie Deutung der unseren Sinnen gegebenen Tatsachen in den von den Naturwissenschaften formulierten Naturgesetzen möglich, so fragt die Reine Rechtslehre: wie ist eine nicht auf meta-rechtliche Autoritäten wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des subjektiven Sinnes gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen beschreibbarer objektiv gültiger Rechtsnormen möglich?“ (Kelsen 1960: 204–205).

In diesem Kontext kann erwähnt werden, dass dieses Zitat keineswegs aus dem Zusammenhang gerissen ist und Kelsen sich im weiteren Verlauf seiner Reinen Rechtslehre auch nicht mehr auf Kant beziehen wird. So lässt sich bemerken, dass Kelsen sich eben nicht auf Kants praktische Philosophie bezieht, sondern seine Analogie eher an der Frage nach der reinen Naturwissenschaft orientiert, wie sie u. a. in den Prolegomena auftritt. Ohne die sich aufdrängende Frage nach der Zulässigkeit dieser Analogie aufzuwerfen sei mithin festgehalten, dass Kelsen hiermit bloß meinte, dass der Stufenbau eines Normengebäudes nach der Annahme einer fiktiven (transzendentalen) Grundnorm verlangt. Denn:

„Darum ist die Norm: man soll den Befehlen Gottes gehorchen, als Begründung der Geltung der Norm: man soll den Befehlen der Eltern gehorchen, eine Grundnorm.“ (Kelsen 1960: 206).

Dass man den Befehlen Gottes gehorchen soll, wäre nach Kelsen also die transzendental-logische Voraussetzung dafür, den Eltern gehorchen zu müssen, da es erst die untergeordnete Norm erlaubt, weitere, nicht-transzendentale Subnormen zu installieren. Aus ideologiekritischen Gründen kann Gott nicht als transzendental-logische Ursache einer Grundnorm herhalten. Stattdessen spricht Kelsen davon, dass „eine positivistische Rechtswissenschaft den historisch ersten Verfassungsgeber als höchste Rechtsautorität ansieht […]“ (Kelsen 1960: 206).

Es drängt sich dabei die Frage auf, wo bei einer solchen „Rechtsautorität“ der Positivismus bleibt. Ihre Entstehung verdankt diese contradictio in se Kelsens Überlegungen zum Gerechtigkeitsbegriff, wie sie 1953 unter dem Titel Was ist Gerechtigkeit? erstmals erschienen sind. Kelsen verwirft hier in äußerst knapper und scharfsinniger Form sämtliche Gerechtigkeitstheorien, weil seiner Auffassung nach keine davon vollumfängliche Gültigkeit beanspruchen kann (Kelsen: 2000). Diese Überlegungen wiederholen sich in der Reinen Rechtslehre, wo Kelsen in der Folge versucht, das Recht als „reinen“, sich historisch bewährenden Normenkatalog zu begründen.

Doch gerade diesem Begründungsversuch liegt seinerseits zugrunde, was Kelsen – insbesondere mit dem kategorischen Imperativ – verwirft: Die Vernunft als Grundlage allen Gerechtigkeitsdenkens. Gerade diese Vernunft ist es aber, die Kelsen dazu verführte, über verfassungsgebenden Gesetzen noch das ‚transzendental-logische‘ Postulat einer Grundnorm – im Sinne eines „historisch ersten Verfassungsgebers“ (siehe oben) anzunehmen – was mit Hegel schlechte Metaphysik genannt werden darf.

Hätte Kelsen nämlich (z. B.) den kategorischen Imperativ gelten lassen, so würde dieser den Platz der Grundnorm einnehmen und anstelle eines historischen Verfassungsgebers träte – ganz im Sinne der Aufklärung – die Vernunft. Stattdessen missbraucht Kelsen aber das transzendentale Argument, um an die Spitze seines hierarchisch konstruierten Normengebäudes gerade dort eine Metaebene zu setzen, wo ein dogmatischer Abbruch stehen müsste. Überhaupt ist Kelsen, aus spezifisch philosophischer Perspektive betrachtet, der ‚Anfängerfehler‘ unterlaufen, Rechtsphilosophie generell von Philosophie abgrenzen zu wollen. Damit hat er ein begründungstheoretisches Werk geliefert, das sich selbst nicht einordnen kann. Denn zweifellos handelt es sich bei der Reinen Rechtslehre nicht um ein genuin rechtswissenschaftliches Werk, da sich darin kaum ein Satz auf wirkliches Recht bezieht.

Hierin war Kelsen, in seinem theoretischen Anspruch durchaus konsequent. Als philosophisches Werk wäre die Reine Rechtslehre aber ihrerseits als Ideologie zu bezeichnen, eben weil sie das Recht von ideologischen Anhaftungen zur Gänze befreien will (vgl. Jabloner 2011: 22). Indes sind die philosophischen Voraussetzungen, unter denen das geschieht, teilweise untauglich, was Gegenstand der nun vorgetragenen abschließenden Betrachtungen sein wird.

IV. Die reine Rechtslehre im Lichte des Kantischen Freiheitsproblems

Wie bereits erwähnt war Kelsen, auch über den Rahmen seiner programmatischen Absicht hinaus, ein Naturdeterminist. Mit und nach Kant kennen aber auch die Rechtswissenschaften unterschiedliche Motivationsgrade einer Handlung. Man denke hier an die durchaus lebensnahen Beispiele Kantens aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der verdienstvolles Handeln gerade dort stattfindet, wo gegen die eigene Motivationslage gehandelt wird (vgl. GMS: BA 53, 54).

Unwiderstehlicher Zwang liegt bei Kelsen aber im Recht dann vor, wenn etwa Kinder und Geisteskranke Normenüberschreitungen begehen, die gegenüber zurechnungsfähigen Menschen mit Sanktionen bedroht sind (vgl. Kelsen 1960: 101 f). So kann angenommen werden, dass Kinder und Geisteskranke ihrer Verantwortlichkeit enthoben sind, weil sie aufgrund ihrer Veranlagung nicht fähig sind, die gegenständliche Normenüberschreitung wahrzunehmen. Kelsen sieht dies aber anders, weil er die Idee der Willensfreiheit abstreitet (vgl. ebd. 95 ff.).

„Was man in der juristischen Terminologie als unwiderstehlichen Zwang bezeichnet, ist nur ein besonderer Fall von unwiderstehlichem Zwang, jener nämlich, bei dessen Vorhandensein die Rechtsordnung keine Verantwortung für ein Verhalten vorsieht […]. Wenn Zurechnung erfolgt, liegt immer unwiderstehlicher Zwang vor. Aber nicht in jedem Falle von unwiderstehlichem Zwang findet Zurechnung statt.“ (Kelsen 1960: 101)

Unwiderstehlicher Zwang liegt nach Kelsen also im Grunde immer vor. Es gibt bloß Rechtssituationen, in denen jener unwiderstehliche Zwang nicht sanktioniert wird, obwohl er einer sanktionswürdigen Normenüberschreitung gerecht wird. Die eigentliche Ursache für die Straflosigkeit eines Deliktes liegt also nicht in der Unfähigkeit eines Menschen seinen Normenverstoß einzusehen, sondern darin, dass aufgrund gesatzten Rechts keine Straffälligkeit (Zurechnung) erfolgt.

Nochmals sei betont, dass Kelsens Reine Rechtslehre nicht als genuin juristisches Werk zu verstehen ist, sondern als philosophische Fundierung eines Rechtsapparates dienen soll. Wie sich spätestens in der Metaphysik der Sitten (MdS) zeigt, verfolgt Kant in seiner kritischen Philosophie aber hierin keinen anderen Zweck als Kelsen, sondern stellt ihn vielmehr auf ein breiteres Fundament. Hier hat Kant aber die moralphilosophischen Konsequenzen eines nominalistischen Relativismus gezielt in die Schranken gewiesen. Dementgegen findet sich bei Kelsen die klare Absicht, eben diese Konsequenzen bewusst in Kauf zu nehmen. Eine diesbezügliche Vorannahme hat indes allergrößten Einfluss auf den jeweiligen Freiheitsgedanken. Denn beide Philosophen arbeiten, im Lichte des Naturdeterminismus, mit negativen Freiheitsbegriffen, wobei Kelsen den Freiheitsbegriff zugunsten von Begriffen wie „Zurechnung“ und „Verantwortlichkeit“ quasi opfert. Bei Kant bleibt aber die negativ bestimmte Freiheitsuniversalie durchwegs bestehen (vgl. Kelsen 1960: 95 ff. u. a.). Ein Vorgang, den Kelsen treffend beschreibt:

„Mitunter leugnet man zwar nicht, daß der Wille des Menschen, wie alles Geschehen, tatsächlich kausal bestimmt ist, behauptet aber, man müsse, um moralisch-rechtliche Zurechnung möglich zu machen, den Menschen so betrachten, als ob sein Wille frei wäre; das heißt: man glaubt die Freiheit des Willens, seine kausale Nichtbestimmtheit als eine notwendige Fiktion aufrechterhalten zu müssen.“ (ebd.: 98–99)

Explizit weist Kelsen darauf hin, dass dies die Haltung Kants sei, bezeichnet sie als „Fiktion“, die sich als „völlig überflüssig“ erweist (ebd.: 99) und lehnt sie damit deutlich ab. Er zitiert in der Folge die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und weist darauf hin, dass Kant den fiktionalen Charakter seines Freiheitsbegriffes selbst eingesehen habe:

„Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann.“ (GMS: BA 120, 121; zit. bei Kelsen 1960: 99 Fußnote)

Deswegen ist Kelsen aber keineswegs vollumfänglich im Recht, wenn er Kants Freiheitsvorstellung hier für die eigene Position reklamiert, weil er die 3. Antinomie aus der Kritik der reinen Vernunft ignoriert (KrV B 472, A 444 f.). Kelsens Naturkausalität ist schließlich nach Kant ebenso notwendig wie ihr Gegenteil, da eine unendliche Kausalverkettung in den infiniten Regress führt, aber der Anfang einer Kausalverkettung aus Willensfreiheit in den dogmatischen Abbruch oder besser Beginn. Freiheit ist mit Kant eben kein bloß (un)logischer, sondern ein transzendentaler Begriff, auf den die Vernunft (im Sinne eines regulativen Prinzips) nicht verzichten kann.

„Solch eine notwendige Annahme ist zwar transzendentaler Natur, hat aber praktische Konsequenzen. Denn wenn Freiheit angenommen werden muss, so existiert auch die Möglichkeit einer Verantwortlichkeit für das eigene Handeln.“ (vgl. KrV: B 575, A547 f.)

Der holistisch verstandene Zweck dieser Freiheit erinnert bei Kant an Marx und Hegel:

„Die formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig wiederstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihr kann die größte Entwicklung der Naturanlage geschehen.“ (KU B 394)

Kelsen hatte pragmatische Gründe, solch einen Freiheitsbegriff zu ignorieren, aber philosophisch gesehen kein Recht ihn zu suspendieren. Sicher ist aber, dass die Reine Rechtslehre dem Versuch gewidmet ist, das Miteinander der Menschen so respektvoll und gewinnbringend wie möglich zu gestalten, womit seine Absicht dem obigen Zitat wohl entspricht.

V. Conclusio

Der Soziologe Bernhard Martin publizierte 2010 in der Druckausgabe des Wiener STANDARD unter dem Titel Nieder mit den Vollstreckern des ‚reinen Rechts‘ (Martin 2010) eine Brandrede gegen das von Kelsen maßgeblich mitgestaltete österreichische Rechtssystem. Von einem „Grundübel“ ist hier die Rede, das aus dem „Holzweg österreichischer Rechtspositivisten“ stammt. Martin hebt so aus sozialwissenschaftlicher – und d. i. hier rechtssoziologischer – Perspektive hervor, dass es Hans Kelsen höchstpersönlich gewesen ist, der gerade als Mitautor der österreichischen Bundesverfassung „den längsten Schatten auf das hiesige Rechts(miss)verständnis“ (Martin 2010: 1) wirft. Ganz in diesem Sinne betont Martin mit allem Nachdruck:

„Was hierzulande beharrlich ignoriert wird ist die soziale Tatsache, dass öffentliches Recht – in seiner Eigenschaft als Privileg – sachlich begründet zu sein hat. Kelsens Luftschloss von einer ,Sollenswissenschaft‘, die ihr System jeder Überprüfung zu entziehen trachtet, wohnt die Gefahr des Rechtsmissbrauches bereits inne.“ (ebd: 2)

Und weiter unten:

„Die im Rechtspositivismus gelehrte Ausblendung des Wissens aus Soziologie, Psychologie, Ethik und sogenannten Lebenswissenschaften macht die Legistik blind und deren Gesetze für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Profiteur dieses Juristenmonopols ist primär der eigene Berufsstand. Hieran zeigt sich ein Residuum des real existierenden Ständestaates mit seiner gesetzlichen Normierungswut.“ (ebd.: 3)

Zudem schreibt Martin in seiner knappen Stellungnahme:

„In den Vereinigten Staaten USA ist es praktisch unmöglich, dass eine Gewalt im Staat (auch nicht deren zwei) sich dauerhaft gegen die öffentliche Sache stellen könnte. – Rücktritt in Folge persönlich zu verantwortender Amtsbeschädigung inklusive.“ (ebd.: 2)

Es steht hier freilich nicht zur Debatte, wie lange Bernhard Martin auf den Rücktritt Donald Trumps gewartet hat. Martins Kommentar aber ist in aller Kürze von größter Sachkundigkeit gekennzeichnet. Überhaupt dann, wenn Kelsens ureigenstes Werk, die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit, angesprochen wird, die tatsächlich im besten rechtspositivistischen Sinne vollkommen frei von den „sinnlichen Data“ der empirischen Sozial- und Humanwissenschaften bzw. den Erkenntnissen von Biologie oder Medizin (siehe oben) ist. Aus dieser Perspektive kann nach Kelsen nur konstatiert werden, dass das Recht vom Volke ausgeht und seine Bürger*innen mithin per se – und von der Grundnorm abhängig – in einem Staat leben, in dem das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit schon von Vornherein etabliert ist (vgl. dazu auch Métall 1969: 36). In diesem Sinne ist es aber genauso erstaunlich, dass Kelsens Leistungen heute noch derartigen Widerstand hervorrufen können.

Denn es ist Kelsens scharfsinniger Pragmatismus, der ihn zu einer rechtspositivistischen Theorie herausforderte, die zwar den Gegebenheiten der Rechtsprechung entspricht, aber lebens- und gleichzeitig philosophiefremd erscheinen kann. Wie im Zuge der obigen Ausführungen eingehend diskutiert, spricht Kelsen ja vom angenommenen „Durchschnittstypus von Menschen“ und deren „äußeren Umständen“ (Kelsen 1960: 101) wo Kant vielmehr von Vernunftsubjekten – im weiteren Sinne – gesprochen hat. Letzteres fand in der (soziologisch fassbaren) Rechtspraxis auf Dauer vielleicht mehr Niederschlag als Kelsens an der Grundnorm orientierter Rechtpositivismus. Wo die ungleiche Veranlagung nicht normierbarer Subjekte einer Gerichtsbarkeit, die stabile Verhältnisse schaffen soll, unterworfen werden muss, ist es eben ein positives, aber flexibel entwickelbares Recht, dem die Aufgabe zukommt, in absehbarer Weise normierend auf die Gesellschaft einzuwirken.

Kelsen hat dieser Idee in ihrem Relativismus auch philosophisch absolute Gültigkeit eingeräumt. Wie zu Anfang der hier vorliegenden Arbeit mit dem zweiten Motto bereits teilweise zitiert, schreibt Kelsen in Was ist Gerechtigkeit?:

„Wenn man die konkreten Beispiele untersucht, mit denen Kant die Anwendung seines kategorischen Imperativs zu illustrieren versucht, muß man feststellen, daß es durchwegs Vorschriften der traditionellen Moral und des positiven Rechts seiner Zeit sind. Sie sind keineswegs – wie die Theorie des kategorischen Imperativs vorgibt – aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet, denn nichts kann aus dieser leeren Formel abgeleitet werden. Sie [die Vorstellungen der traditionellen Moral, G. K.] erweisen sich nur mit dem kategorischen Imperativ vereinbar. Aber jede Vorschrift jeder beliebigen Gesellschaftsordnung ist mit diesem Prinzipe vereinbar, da dieses nichts anderes sagt, als daß der Mensch in Einklang mit generellen Normen handeln soll. Daher kann der kategorische Imperativ, ganz ebenso wie der Grundsatz >>Jedem das Seine<< oder die Goldene Regel, als Rechtfertigung jeder beliebigen […] Vorschrift dienen. […] Diese Möglichkeit erklärt, warum diese Formeln, trotz ihrer – ja gerade wegen ihrer – völligen Leerheit, noch immer als befriedigende Antworten auf die Frage nach der Gerechtigkeit hingenommen werden, […].“ (Kelsen 2000: 42)

Genau mit diesen Sätzen aber bildet sich eben jener Denkfehler ab, den Kelsen im Rahmen seiner rechtspositiv(istisch)en Philosophie begangen hat. Der kategorische Imperativ übersteigt gerade jene Moralvorstellungen, die Kelsen als sozialhistorisch gebunden verstanden wissen wollte. Dies gilt auch für die „konkreten Beispiele“ (siehe oben), die Kant anführt: Geld zu erborgen, ohne es zurückzahlen zu können (vgl. GMS, BA 55) oder das Depositum aus der Kritik der praktischen Vernunft, welches trotz größter eigener Notlage und Ignoranz des rechtmäßigen Erben wieder rückerstattet werden muss (vgl. KpV: A 49, 50). Diese Beispiele bilden Verhaltensmuster ab, die selbst in den absurdest denkbaren Gesellschaften notwendig sind, um überhaupt von Gesellschaft sprechen zu können.

Mit Vorstellungen volatiler „traditioneller Moral“ hat das wenig zu tun und implementiert sich eigentlich hervorragend in die rechtspositivistische Begründungstheorie einer Gesellschaft. Allenfalls kann aus der Idee einer ‚deontologischen Ethik‘ der Begriff der Ethik gestrichen werden, womit genau jener Sollensanspruch erhalten bleibt, den Kelsen betont hat.

Abschließend und zusammenfassend kann mithin gesagt werden, dass eine Rechtsphilosophie mit Kelsen vielleicht den Fehler begangen hat, das pädagogische Potenzial einer ‚Sollensordnung‘ nach Kant, gerade nicht auszuschöpfen. Denn die Vereinbarkeit zwischen Kant und Kelsen hat vielleicht niemand besser artikuliert als Richard Hönigswald:

„Zwar ist der berühmte Streit zwischen Naturrechtslehre und historischer Rechtsschule längst dahin erledigt, daß sich das Recht immer nur als geschichtliche Potenz bestimme. Aber das bedeutet nichts weniger als die Bedingtheit seines Anspruches auf Geltung. Es verweist im Gegenteil darauf, daß die Geschichtlichkeit des Rechts nur die charakteristische Form darstelle, in der sich die Eigentümlichkeit seines Bestandes, d. h. die Besonderheit seines Geltungsmodus offenbart.“ (Hönigswald 1931: 197 f.)

Das positive, historisch bedingte Recht, hat nach Hönigswald seinen Anspruch also durchgesetzt. Aber dessen Historizität, seine Dauerhaftigkeit zeigt die „Besonderheit seines Geltungsmodus“. Demgemäß kann Recht auf einer Grundlage beruhen, die sowohl rechtspositivistisch, als auch ethisch gesichert ist.

Literatur

Carrino, Agostino (2011): Das Recht zwischen Reinheit und Realität. Hermann Cohen und die philosophischen Grundlagen der Rechtslehre Kelsens, Ausgabe 42 von Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, hg. von Horst Dreier und Dietmar Willoweit, Baden-Baden: Nomos.

Fichte, Johann Gottlieb (1962): Grundlage des Naturrechts. Das System der Sittenlehre (1798), in: ders.: Ausgewählte Werke in 6 Bänden, hg. von Fritz Medicus, Bd 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Hönigswald, Richard (1931): Richard Hönigswald (Selbstdarstellung) in: Schwarz, Hermann (Hg.): Deutsche Systematische Philosophie nach ihren Gestaltern, Bd. 1, Berlin: Junker und Dünnhaupt, 191–223.

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Kant, Immanuel (2018): Werkausgabe, 12 Bände, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (KrV), in: Kant, Immanuel (2018): Werkausgabe Band III & IV, Kritik der reinen Vernunft 1 und 2, Berlin: Suhrkamp.

Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten (GMS), in: Kant, Immanuel (2018): Werkausgabe Band VII – Kritik der praktischen Vernunft – Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 22. Auflage, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Berlin: Suhrkamp, 7–102.

Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (KpV), in: Kant, Immanuel (2018): Werkausgabe Band VII – Kritik der praktischen Vernunft – Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 22. Auflage, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Berlin: Suhrkamp, 103–203.

Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten (MS), in: Kant, Immanuel (2018): Werkausgabe Band VIII – Die Metaphysik der Sitten, 22. Auflage, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Berlin: Suhrkamp.

Kelsen, Hans (1922): Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, hg. von Sigmund Freud, Band VIII. 2, 97–141, online unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/imago1922/0107/image (letzter Zugriff: 20.07.2023).

Kelsen, Hans (1923): Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 2. um eine Vorrede verm. Auflage, Tübingen: Mohr.

Kelsen, Hans (1960/2. Aufl. 1992): Reine Rechtslehre, Wien: Österreichische Staatsdruckerei.

Kelsen, Hans (1964): Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied/Berlin: Luchterhand.

Kelsen, Hans (2000): Was ist Gerechtigkeit? Stuttgart: Reclam.

Krijnen, Christian (2017): Vernunft als Geltungsgrund des Rechts. Kelsen im Spiegel kantischer Transzendentalphilosophie, in: Özemen, Elif (Hg.): Hans Kelsens Politische Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck, 79–92.

Martin, Bernhard (2010): Nieder mit den Vollstreckern des „reinen Rechts“! Plädoyer für eine grundlegende Neuorientierung unserer Rechtsstaatlichkeit, in: DER STANDARD, Printausgabe, 3. Juli 2010, 1–3, online unter: https://www.derstandard.at/story/1277337320586/bernhard-martin-nieder-mit-den-vollstreckern-des-reinen-rechts (letzter Zugriff: 20.07.2023).

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