„Er [der Angelus Novus] möchte wohl verweilen,
die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her,
der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist,
daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.
Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam
in die Zukunft, der er den Rücken kehrt,
während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.
Das, was wir den Fortschritt nennen,
ist dieser Sturm.“
(Benjamin 1940: 12)
„Der Begriff des Fortschritts
ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren.
Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe.
Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende
sondern das jeweils Gegebene.“
(Benjamin 1991: 592)
I. Bemerkungen zu Stuart Jeffries: Grand Hotel Abgrund
„Und seht nur hin für wen Ihr schreibt!
Wenn diesen Langeweile treibt,
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
Und, was das Allerschlimmste bleibt,
Gar mancher kommt vom Lesen der Journale.“
(Goethe Faust I, Vorspann)
Zu diesem vernichtenden Urteil kommt der Theaterdirektor im Vorspann von Goethes berühmtesten Drama. Die ZUKUNFT kann wohl nicht gemeint sein, sondern dass was ein Adorno wohl Schund oder Abhub genannt hätte. Jener Theodor Wiesengrund Adorno, der für die moderne Fassung des Stoffes von Thomas Mann mehr als nur eine Stichwortgeberrolle spielen würde. Dr. Faustus hat mit Stuart Jeffries Werk einiges gemein: Es breitet ein Panorama der Lebensgeschichten der handelnden Akteure der Frankfurter Schule aus, ohne es an sachlicher Tiefe vermissen zu lassen. Faszinierend beschreibt Jeffries etwa das Verhältnis der wichtigsten Akteure zu ihrer Elterngeneration: Meist reiche jüdische Elternhäuser, die bei aller Kritik am intellektuellen Treiben ihre Kinder, ebendieses ermöglichte. Der Kapitalismus finanzierte hierin seine eigenen Gegenmodelle (vgl. Jeffries: 47 ff.).
Die scheinbar theatralische Namensgebung des Bandes ist George Lukcás (1885–1971) entlehnt: Grand Hotel Abgrund. Ein Elfenbeinturm, von dem aus sicherer Distanz heraus das Grauen der Menschheit im Angesicht einer apokalyptischen kapitalistischen Logik seziert wird (Jeffries: 10 ff.). Es sei in diesem Essay vorweggenommen, dass Jeffries auf diesen 509 Seiten unter dem Titel ABSCHIED VOM ABGRUND bis zu Habermas vordringt, dessen Idee einer kommunikativen Vernunft den abgründigen Pessimismus seiner Lehrer überholt (Jeffries: 419 ff.). Jeffries nähert sich seinen Protagonisten, welche die Kulturindustrie der USA, das Land ihrer physischen Rettung vor dem Nationalsozialismus, zutiefst verachteten, wohlwollend aber höchst kritisch.
Problematisch nimmt sich beispielsweise Horkheimers Aperçu „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer 1939: 115) aus, welches weitaus bekannter ist als der Titel seines Textes: Die Juden und Europa. Immerhin hatte Horkheimer lange genug gelebt, um sich berichtigen zu können, denn schon im Verlauf des Zweiten Weltkrieges konnte man konstatieren, dass sich nicht die Kapitalisten einen Führer hielten, sondern vielmehr umgekehrt. Hollywood wiederum faschismusanaloge Züge zuzuschreiben, wie Adorno und Horkheimer es taten, wirkt aus heutiger Perspektive ähnlich gewagt (vgl. Jeffries: 268 ff.). Jeffries gelingt es dabei aber, bei aller kritischen Distanz zu diesen relativ bekannten Frankfurter Rundumschlägen die sinnvollen philosophischen Kerne solcher Kritik nicht gänzlich verschwinden zu lassen. Unglaublich detailreich, dicht und dennoch verständlich ergibt sich ein Bild der Frankfurter Schule und ihrer Zeit, das es neben Biografie, Geschichtswissenschaft und kulturellen Details auch nicht an gehöriger philosophischer Tiefe und einem gewissem Witz fehlen lässt. Ein Buch, dessen gute Lesbarkeit wohl auch der Übersetzerin Susanne Held geschuldet ist. Näher möchte ich im Folgenden auf Walter Benjamin eingehen, der als Grundressource der Frankfurter Schule gelten darf.
II. Walter Benjamins Engel der Geschichte
Bis über den zweiten Weltkrieg hinaus, war Walter Benjamin Stichwortgeber der Frankfurter Schule gewesen. Jene Kapitalismuskritik, die bei seinem Freund Bert Brecht (1898–1956) sarkastische Züge aufwies, war bei Benjamin Prophetie, welche sich janusköpfig über Vergangenheit und Zukunft erstreckte. Man mag geisteswissenschaftliche Schriften, die sich weit ins Feld der Poesie wagen misstrauen, aber Benjamin war in seiner lyrischen Metaphorik ungewöhnlich klar. Ohne Wortprothesen a la Heidegger, traf er das Lebensgefühl eines industriellen Zeitalters, dessen Geschwindigkeit destruktive Züge angenommen hatte, was in der Interpretation der diesem Essay vorangestellten Zitate erläutert sein soll:
Das erste vorangestellte Zitat entstammt Benjamins kurzem Spätwerk: Über den Begriff der Geschichte, das Zweite seinem unvollendeten Passagen-Werk. Augenfällig ist, dass der Sturm, der des Engels Flügel übermannt, vom Paradiese her weht, und nicht der Hölle einer britischen Textilfabrik. Sicherlich ist es Stefan Zweigs Welt von Gestern, die hier in Trümmer gelegt wird, aber nicht ohne eines Rests von Optimismus, den Benjamin, der sich am 26.09.1940 im spanischen Portbou auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, offenbar behalten hatte, denn Über den Begriff der Geschichte ist sein letztes Werk. Benjamin bezog sich bei genanntem Engel auf eine kleine aquarellierte Zeichnung Paul Klees, die er 1921 erworben hatte. Trotz seiner Güte hat der Engel etwas Futuristisches. Entstammt er auch dem Paradiese? Gegenüber den Stürmen mag er ohnmächtig sein, doch seine Beständigkeit tröstet (vgl. Jeffries: 209 ff.).
Zum zweiten Zitat aus Benjamins Passagen-Werk: Ist etwa die Katastrophe die conditio sine qua non des Fortschritts? You must destroy to built up? Nein! Die eigentliche Katastrophe ist weder der Fortschritt noch ein katastrophales Ereignis, sondern die systemimmanente Applikation von Fortschritten als Katastrophen. Die Verwendung der Dampfmaschine führte nicht zwingend zur Verelendung von Industriearbeiter*innen und die Entdeckung der Strömungsmechanik nicht notwendigerweise zum Einsatz von Bombern. Was hier immer >>so weiter<< geht und zur Katastrophenkaskade führt, ist der achtlose Einsatz des Fortschritts: Der Industriekapitalismus als Zauberlehrling der Geschichte! Gewissermaßen war Benjamin dialektischer als die Dialektiker der Aufklärung, Horkheimer und Adorno, die in ihrem Kulturpessimismus sogar den Unterschied zwischen Hollywood und dem goebbelsschen Propagandaministerium zu verwischen suchten (vgl. Jeffries: 268 ff.).
Man muss diese Interpretationen nicht unbedingt teilen, aber m. E. stützt der Teil VIII. desselben Werkes diese Thesen:
„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der >>Ausnahmezustand<<, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als neue Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen; und dadurch wird sich unsere Position im Kampf gegen den Faschismus verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, dass die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. – Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert >>noch<< möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ (Benjamin 1940: 11)
In jenem wirklichen Ausnahmezustand sah Benjamin wohl den Anstoß zur Verwirklichung einer mehr oder minder marxistisch verstandenen Gesellschaftsordnung, die einer totalitären Strömung den Fortschrittlichkeitsbegriff legitim absprechen kann. Dazu bedarf es aber eines Geschichtsverständnisses, in dem Faschisten nicht als Erneuerer angesehen hätten werden können. Und waren sie das etwa? Den Düsenantrieb hätte man auch unter dem alten Kaiser entwickeln können, Rassenwahn und Deutsches Ahnenerbe e. V. waren viel mehr okkultistische Nabelbeschau als Geschichtswissenschaft. Man darf wohl sagen, dass das rechte Licht der Geschichte dem Nationalsozialismus an Einfluss gekostet hätte. Ein Umstand, der auch für den gegenwärtigen Kapitalismus gelten mag, wiewohl Benjamin die oben zitierte Analogie zwischen diesem und den Faschismus m. E. kaum geteilt hätte.
Bewusst spreche ich oben von Anstoß und nicht von Revolution, denn Benjamin sagt in seinen Vorarbeiten zum Begriff der Geschichte:
„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (Benjamin 2010: 153)
Und was ist der im Oktober 1918 vor Wilhelmshafen stattgefundene Aufstand deutscher Matrosen, die gegen eine vollkommen überlegene britische Marine in See stechen hätten sollen, anderes als der Griff zur Notbremse? Vielleicht darf man auch unsere gegenwärtigen Klima-Kleber in diesem Licht betrachten, wiewohl ihr Handeln fragwürdig sein mag. Benjamins Forderung besteht m. E. darin, die Notwendigkeit gesellschaftlicher Notbremsungen, mit Hinblick auf die Geschichte zu vermeiden. Darunter könnte man hierin durchaus auch die fast weltumspannenden Bankenrettungskationen des Jahres 2008 verstehen, die ja keine historische Singularität darstellen. Der erste genauer dokumentierte Spekulationscrash datiert mit 1673 und fand in den Niederlanden statt. 10.000 Gulden war der Höchstpreis dieser Ware, während durchschnittliche Jahreseinkommen bei 150 Gulden lagen. Das Spekulationsobjekt: Eine (sic!) Tulpenzwiebel.
Freilich fordert der oben bei Benjamin zitierte (Zeit-)Geschichtsbegriff, nicht krisenhafte Ereignisse zu fokussieren, sondern die kapitalistische Moderne selbst als (abwendbare) Krise wahrzunehmen. Es ist anzunehmen, dass Benjamin sich eine Fahrt der Geschichte ohne Notwendigkeit zur Notbremsung und einen Wind derselben gewünscht hätte, der seinem durchaus fortschrittlich gedachten Engel den freien Flug zwischen Vergangenheit und Zukunft erlaubt.
Benjamins soteriologisches Moment (Engel) ist dabei ziemlich wörtlich zu nehmen. Laut Jeffries fand selbst Brecht diesen messianisch durchsetzen Marxismus „schauderhaft“ (Jeffries: 263). Doch dieses Moment folgt einer religionskomplementären Logik im Sinne Max Webers. Hatte sich der Kapitalismus, in seiner protestantischen Ethik, die Religion z. T. angeeignet, so durfte dies, mit Benjamin, auch der historische Materialismus (vgl. Benjamin 1940: 3). Eine Denkweise, die sich schon in Benjamins Kunstwerkaufsatz zeigte. Die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks ist eigentlich der letzte vernichtende Anschlag auf die von Benjamin so bezeichnete „Aura“ eben dieses Kunstwerks. Ganz im Sinne von Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), entsteht dadurch aber auch das partizipatorische Moment des Kunstwerks, welches diese Aura zu reformulieren vermag. Wenn der Kapitalismus die Theologie zur Magd machen konnte, so kann das auch ein anders System!
Es ist nachvollziehbar, dass der reich geborene, infolge des Nationalsozialismus verarmte Benjamin, der in seinem Buch Berliner Kindheit um 1900 (1950) auch auf das ausgesperrte Elend seiner Zeit reflektierte, einen Engel herbeisehnte, den Jeffries folgendermaßen charakterisiert:
„Der Engel der Geschichte, den Benjamin in These IX beschwört, ist eine Figur, die den historischen Materialismus dieser primitiven Art auf den Kopf stellt: Für den Engel ist die Vergangenheit keine Kette von Ereignissen, sondern eine einzige Katastrophe, und die Aufgabe jedes rechtfertigbaren historischen Materialismus besteht nicht darin, eine revolutionäre Zukunft oder ein kommunistisches Utopia vorherzusagen, sondern sich um die Leiden der Vergangenheit zu kümmern und sie dadurch zu erlösen.“ (Jeffries: 264)
Im Gegensatz zu Benjamin haben die meisten Vertreter der Frankfurter Schule den Nationalsozialismus überlebt. Leider darf man die Frage stellen ob in ihr der Geist Benjamins überlebt hat. Seine Texte zeugen von poetischer Schwermut eines Lebens zwischen zwei Weltkriegen, sind aber m. E. nicht von der abweisenden Abgründigkeit der späteren Dialektiker der Aufklärung gekennzeichnet. Wir wissen nicht, was Benjamin im kalifornischen Exil geschrieben oder gedacht hätte. Man kann aber konstatieren, dass sich seine Kritik am (Kultur-)Warenfetischismus in seiner Berliner Kindheit um 1900 fast liebevoll gegen die Invektiven seiner Mitstreiter abhebt.
III. Zur Dialektik der Aufklärung
Benjamins Angelus Novus ruft nach dem achtsamen Umgang mit der Geschichte. In der Dialektik der Aufklärung (1944) ist diese aber in allen Wortbedeutungen aufgehoben, da sich (geht man mit Horkheimer und Adorno) im Gefolge der Industriegesellschaft auch jegliches Individuum auflöst, das einer solchen teilhaftig werden könnte. Diese Denkungsweise zeigt sich in den zahlreichen Anschlägen auf Kants metaphysischen Ich-Begriff. Man muss weder Kantianer sein noch das Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft (1781) kennen; man muss das folgende Zitat nicht einmal wirklich verstehen, um zu begreifen, dass hier Radikalität am Werke ist, die ihre eigenen Absichten destruiert. In der Dialektik der Aufklärung steht:
„[Kants] Vernunft als das transzendentale überindividuelle Ich enthält die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, in dem sie zum allgemeinen Subjekt sich organisieren und den Widerstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewußten Solidarität des Ganzen aufheben. Es stellt die Idee der wahren Allgemeinheit dar, die Utopie. Zugleich jedoch bildet Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung. Die wahre Natur des Schematismus, der Allgemeines und Besonderes, Begriff und Einzelfall von außen aufeinander abstimmt, erweist sich schließlich in der aktuellen Wissenschaft als das Interesse der Industriegesellschaft.“ (Horkheimer/Adorno 1969: 36)
In gewisser Weise gestattet dieser Absatz einen unpassenden Ausruf: Merde! Wenn stimmen könnte, was hier oben steht, gibt es nämlich niemanden, der diese Zeilen lesen oder schreiben könnte. Die transzendentale Einheit der Apperzeption (Kant) vulgo Ich oder Du, welche „Allgemeines und Besonderes, Begriff und Einzelfall“ scheidet, wäre im metaphysischen Surrogat einer Industriegesellschaft aufgelöst, was aber zur Folge hätte, dass ich mich selbst nicht mehr von einem AUDI A3, den ich gar nicht besitze, unterscheiden könnte. Die Sache ist ebenso undenkbar, wie ein Koordinatensystem ohne Nullpunkt. Vilém Flussers Sender und Empfänger sind ununterscheidbar geworden, die Menschheit verharrt in dem Zustand, die er nachalphabethische Phase nennt. Natürlich ist die Absicht, die Horkheimer und Adorno in obigem Zitat verfolgten, nachvollziehbar, ja fast prophetisch, wenn man z. B. an unnütze Schönheitsoperationen oder das Tamagotchi denkt. Der Mensch wird zum Industrieprodukt! In einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung zu Aufklärung als Massenbetrug schreiben Horkheimer und Adorno:
„Jede Spur von Spontanität des Publikums wird von Talentjägern, Wettbewerben vorm Mikrophon, protegierten Veranstaltungen aller Art in fachmännischer Auswahl gesteuert und absorbiert. Die Talente gehören dem Betrieb, längst ehe er sie präsentiert: sonst würden sie nicht so eifrig sich einfügen.“ (Horkheimer/Adorno 1969: 130)
Eine brillante Analyse! Man kann von Gnade reden, dass den Autoren heutige Castingshows erspart geblieben sind. Das Talent gehört schon zum Betrieb, ehe es sich aus sich selbst heraus entfalten kann, und wird in diesem verworfen, wenn es sich im Gladiator*innenspiel als weniger profitabel erweist. Man könnte aber abstreiten, dass daran die Aufklärung schuld wäre oder dadurch das transzendentale Subjekt verschwindet.
IV. Der Tod des Subjekts in Frankreich
Gegenüber dem französischen Dekonstruktivismus bzw. Poststrukturalismus, der mit Foucault die Geschichte der Dinge als Ersatzmetaphysik absolut setzt, wie in Die Ordnung der Dinge (1966), hat die Frankfurter Schule den Verdienst, dass sie den industriell präformierten Menschen (ebenfalls Produkt der Geschichte, wenn auch einer jüngeren) nicht bloß als Deskription einer zwangsläufigen Genese betrachten möchte, sondern Kritik an dieser Daseinsweise übt. Natürlich wird bei den Franzosen überwacht und gestraft, was selbstredend als Gesellschaftskritik zu verstehen ist, aber der lange Atem der Archive hüllt das historisch verstandene Subjekt in einen paranoiden Nebel der Geschichte, welches das Subjekt zwingt, sein eigener Gefängniswärter und der der andern zu werden. Der Individualitätsverfall ist auch bei einigen Denkern des französischen Dekonstruktivismus dermaßen historisiert, dass er kaum mehr – wie in der Frankfurter Schule noch vorhanden – als Zeitgeschehen betrachtet und daher wirklich verabsolutiert werden kann. Tod des Subjekts? Fehlanzeige. Hier wie da haben wir dasselbe Problem: Ein als historisches Kontinuum verstandenes Subjekt kann keine benjaminsche Notbremse ziehen, denn es ist vom Wagon des Zuges je schon ununterschieden.
Stets leidet die französische Hypothese an der dialektischen Ausschließung des Subjekts, welches von der Kulturkritik ja eigentlich profitieren sollte. Wer sind die Adressaten dieser Kritik, wenn diese sich je schon zu Zuschreibungen und Aufhäufungen von Prädikaten ohne Subjekt installieren? Was oben, genau genommen, bloß ein philosophischer Kategorienfehler ist, weil die Scheidung von Allgemeinem und Besonderem, niemals durch kulturelle Einflüsse verwässert werden kann ist in actu ein „tötender“ Anschlag auf die Freiheit und damit auf die Würde des leidenden Subjekts. Ein Anschlag, der obendrein als menschlich gelten will. Bei Franzosen wie Frankfurtern entsteht eine Ineinssetzung des Subjekts mit seiner geschichtlichen Genese bzw. kulturindustriellen Verfasstheit. Das Individuum käme aus solch einer Daseinsschleife nie wieder heraus, weil es selbst diese Schleife ist.
Hätte einem Walter Benjamin so ein Lapsus passieren können? Liebevoll kritisch seziert er den Warenfetischismus seiner Jugend, in welcher man auch um 1900 schon ein unvorstellbares Ausmaß an Dingen besitzen konnte, wenn man bloß reich genug war. Und Benjamin gemahnte an das Elend der Besitzlosen, zu denen er später selbst gehören würde, während die spätere Frankfurter Schule & Co. eher vom Elend derer spricht, die bereits genug zu konsumieren hatten. Auch in ihrer Poesie nimmt sich Benjamins neomarxistische Geschichtsauffassung vergleichsweise bodenständig, ja gar optimistisch aus. Sein Angelus Novus hätte wohl auch das kalifornische Exil überlebt und die schiere Fortschrittsfeindlichkeit der Frankfurter Schule geschichtsbewusst befruchtet.
Es mag wie ein philosophischer Taschenspielertrick wirken, wenn man dem französischen Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus einen antihumanistischen Humanismus attestiert, der Resultat der Auflösung des leidenden Subjekts in seiner eigenen geschichtlichen Genese ist. Aber diese Denkweise hat reale Ausmaße, wenn man bedenkt, dass die Franzosen in ihrer metaphysischen Fundierungsfeindlichkeit allenthalben Zuflucht zu Heideggers Seinsbegrifflichkeiten nehmen mussten … und dieser Seinsokkultist war ebensowenig humanistisch gesinnt wie Nietzsche, der als eigentlicher Stichwortgeber des Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus gelten darf. Aber die bedenklichen Folgen der Dekonstruktion sind keineswegs von gestern, sondern manifestieren sich gerade.
Getrauen Sie sich bloß nicht, heute über das Elend alleinstehender Mütter zu schreiben, denn man wird Ihnen das leidende Subjekt entreißen und Ihnen prädikativen Zuschreibungen (Klischees) vorhalten, welche die dekonstruktivistische Zensur der Gender Culture nicht gestattet. Stets müssen alle gemeint sein, und dies wiederum nach Begrifflichkeiten, die den Formalismus über das Prekariat stellen. Der leidenden Mutter hilft das alles wenig und die ethisch absolut gebotene Idee des Genderns kann zum willkommenen Spottobjekt rechtslastiger Agitator*innen werden, die sich am Abhub einer an sich begrüßenswerten Idee mästen.
V. Vom schlechten Leben im Guten? Kein richtiges Leben im Falschen …
Was machte diese Frankfurter Schule aus, die ihrem philosophischen Gehalt nach, auch als Nebengleis des französischen Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus durchgehen könnte? Unter Carl Grünberg noch ein explizit marxistisches Forschungsinstitut, verliert sich dieser Zug unter Max Horkheimer, auch aus politischen Erwägungen, rasch zugunsten jenes verdeckten zwanghaft-pessimistischen Kryptomarxismus, dem auch die Franzosen huldigten. Der Kapitalismus hatte in weiten Teilen der westlichen Hemisphäre gesiegt, aber er wollte und wollte nicht an seinen prophezeiten inneren Spannungen zugrunde gehen. Im Gegenteil, der zweite Weltkrieg hatte neben einer erstarkten Sowjetunion auch einen Wirtschaftsaufschwung hinterlassen. Franzosen wie Frankfurter suchten fast schon verzweifelt nach dem schlechten Leben im Guten. Die tatsächlichen Schattenseiten der freien Marktwirtschaft, wie Umweltzerstörung oder die Ausbeutung der ehemaligen Kolonien tendenziell außer Acht lassend, mussten sie (vor allem sich selbst) erklären, was an einem gedeckten Tisch, einem Citroen 2CV oder VW-Käfer und Arbeitslosenversicherung so schrecklich sein sollte, und fanden diesen Schrecken – grob gesagt – in der Entdeckung künstlich erweckter, normierter Wünsche des Verbrauchskapitalismus. Aus Marx’ Gespenstern war Huxleys Schöne neue Welt geworden. Infolgedessen traten sich die Franzosen den Schiefer von Heideggers antizivilisatorischer Seinspoetik ein und die Frankfurter verbreiteten Kulturpessimismus. Eingekeilt zwischen Wunschmaschine (Deleuze/Guattari) und Benthams Panopticon (Foucault) gab es für die Intellektuellen dieser Zeit und bis heute, „kein richtiges Leben im Falschen“ (Adorno 1980: 43).
Wer glaubt, dass dieser fragwürdige Pessimismus spurlos an unserer Gesellschaft vorbeigegangen wäre, irrt vermutlich. Nicht unhintergründig singt Reinhard Mey 1972 die Ballade Annabelle:
„Annabelle, ach Annabelle
Du bist so völlig intellektuell
Du bist so wunderbar negativ
Und so erfrischend destruktiv
Annabelle, ach Annabelle
Du bist völlig unkonventionell
Ich bitte dich, komm sei so gut
Mach’ meine heile Welt kaputt
Früher als ich noch ein Spießer war
Ging ich gern ins Kino, in Konzerte sogar
Doch mit diesem passiv-kulinarischen Genuß
Machte Annabelle ganz kurz entschlossen Schluß
Wenn wir heut’ ausgeh’n, dann geschieht das allein
Um gesellschaftspolitisch auf dem Laufenden zu sein
Heut’ bitt’ ich, Annabelle, erhör’ mein Fleh’n
Laß uns zu einem Diskussionsabend geh’n […]“
(Mey 1972)
Diese Ironie ist nicht weniger als die Emanzipation von der Hybris eines intellektuellen Pessimismus der sich als dekonstruierte (d. h. eigentliche) Aufklärung geriert, indem er den Menschen und seine Bedürfnisse annihiliert. Mit Heidegger könnte man sagen: „Das Nichts nichtet!“ und einer halbintellektuellen Konsumphilosophie kann es dann egal sein, dass der Wind eigentlich von Schopenhauer her weht, denn das wissen wir schon gar nicht mehr.
VI. Conclusio
Doch Benjamins Engel hat einen anderen Auftrag als zu kapitulieren, wobei dieser meta-religiöse Auftrag sich auch bei Jürgen Habermas findet. Benjamins Engel will anknüpfen, anstatt zu trennen, was sich in Habermas’ merkwürdig unausgeprägter Religionsscheue widerspiegelt. Diese ist aber folgerichtig! Sich auf eine Verfassung zu berufen, die gleiche Rechte garantiert, und auf eine Kommunikation, die diese umsetzt, ist mit Kant lebendiger Imperativ der Geschichte, dem jedes Sendungsbewusstsein zuzugestehen ist. Benjamins Angelus Novus verwirklicht sich also noch in Habermas’ Idealer Kommunikationsgemeinschaft. Und Theodor Herzl schrieb: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen!“
Auswahlliteratur
Adorno, Theodor Wiesengrund (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Benjamin, Walter (1987): Berliner Kindheit um 1900, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Benjamin, Walter (1940): Über den Begriff der Geschichte, online unter: https://www.burg-halle.de/home/129_baetzner/SoSe_2017/benjamin_Ueber_den_Begriff_der_Geschichte.pdf (letzter Zugriff: 01.05.2023).
Goethe, Johann Wolfgang von (1832): Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Deutsches Textarchiv (DTA), online unter: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/goethe_faust02_1832?p=83 (letzter Zugriff: 01.05.2023).
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor Wiesengrund (1969): Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer, online unter: https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/dialektik_aufklaerung.pdf (letzter Zugriff: 01.05.2023).
Horkheimer, Max (1939): Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 8, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, online unter: https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Zeitschrift_fuer_Sozialforschung_8_1939-40.pdf (letzter Zugriff: 01.05.2023).
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor Wiesengrund (2015): Aufklärung als Massenbetrug, in: Dies. (1969): Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer, 128–176.
Jeffries, Stuart (2019): Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit, Stuttgart: Klett-Cotta
Tiedemann, Rolf (1991): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften V, Berlin: Suhrkamp, online unter: https://monoskop.org/images/3/3e/Benjamin_Walter_Gesammelte_Schriften_Band_5_Das_Passagen-Werk.pdf (letzter Zugriff: 01.05.2023).
Horkheimer, Max (2003): Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt am Main: Fischer.
Zweig, Stefan (1985): Die Welt von Gestern, Frankfurt am Main: Fischer.
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