Pisperwitz, Zeitgenosse VON CORNELIUS VAN ALSUM

Der Schriftsteller CORNELIUS VAN ALSUM stellt mit seiner Kunstfigur Pisperwitz einen durchaus eigenwilligen Zeitgenossen ins Zentrum seiner poetischen Miniaturen: Mit viel Schärfe und noch mehr Humor entlarvt dieser Protagonist wie beiläufig die vielfältigen Zumutungen, die tagtäglich zu ertragen sind. Geschult an großen literaturgeschichtlichen Vorbildern reiht sich Pisperwitz in eine lange Liste von Figuren ein, die als Seismografen gesellschaftlicher Wirklichkeit wirkten – und immer noch ihre Gültigkeit haben.

Resonanzen

Pisperwitz hatte sich in Schale geworfen, denn die Sitzung dieses Mainachmittags war sein erster Termin als sachkundiger Bürger. Er hatte für den Weg zum Rathaus etwas mehr Zeit eingeplant, um noch einen Blick auf den Fortgang der Kirchenrestaurierung werfen zu können. Inzwischen waren die Arbeiten bei den Kirchenfenstern des neogotischen Chores angekommen. Tatsächlich klaffte im Raum eines der Fenster eine Lücke; die schützende Folie wiegte sich leicht im Wind.

Pisperwitz verharrte in dem kleinen Park, der die Kirche umgab. Noch nie war ihm das Bauwerk so sehr als Festung vorgekommen wie an diesem sonnigen, fast wolkenlos überblauten Nachmittag. Lag es an den dunklen Verwitterungen des Mauerwerks oder wiesen ihn die Fratzen der Wasserspeier ab? Für die erkältende Stimmung, in die er sich plötzlich versetzt fühlte, entschädigte ihn halbwegs die Orgelprobe, deren Klänge er durch die Fensterlücke hörte. Die Königin der Instrumente! Zu seiner Freude setzte nun auch noch der Gesang einer Sopranistin ein. Pisperwitz nahm sich vor, auf dem weiteren Weg einen Blick in den Glaskasten zu werfen und

einen etwaigen Konzerttermin in Erfahrung zu bringen.

Er setzte seinen Rundgang fort. Die stechenden Steinaugen eines Tierwesens brachten ihn zurück in seine Grübelei: Was nützte die schönste Musik im Inneren, wenn sich kaum einer hinein traute? Kultur – und hiervon wollte Bürger Pisperwitz die Kirche keinesfalls ausnehmen – musste doch auch in die Gesellschaft wirken! Schonungslos ausgedrückt: Esse percipi, so einfach war das, ob man nun Sweelinck hieß oder César Franck oder –

Ein schriller Singsang riss ihn aus seinen Gedanken. Pisperwitz erkannte Fetzen, Fragmente dessen, was die Sopranistin zuvor mit Orgelbegleitung einstudiert hatte: ein höhnisches, schon nicht mehr clowneskes Falsett. Demgegenüber pausierten Orgel und Singstimme im Innenraum. Da! aus der eingerüsteten Fassade hingen zwei Beine herab, in Arbeitshosen und mit Sicherheitsschuhen.

Gespannt trat Pisperwitz einige Schritte zurück und setzte sich auf eine der Parkbänke. Die Orgel begann mit einigen Takten, dann setzte die Sopranstimme ein, welche Pisperwitz nun noch viel ätherischer wahrnahm, und dann wieder das Falsett. Die Musik verstummte. Pisperwitz meinte von innen die Worte einer Männerstimme zu hören, es habe heute eh keinen Sinn mehr. Er selbst spürte in sich ein lebhaftes Gemisch aus Wut, Trauer und Belustigung. Der Glaskasten am Hauptportal kündigte ihm ein weiteres Orgelkonzert in der Reihe Resonanzen an.

Pisperwitz und die Briefträger

Pisperwitz schämte sich für sein Unterbewusstsein. Im Traum hatte er seine Chefin gefragt, ob er im Sommer neun Tage Urlaub nehmen könne, und sie hatte hämisch grinsend geantwortet: Say ten. Gerade aufgewacht, grübelte er angestrengt nach, woher dieses Versatzstück ihm zugeflogen sein mochte. Schließlich identifizierte er ein Interview mit Marilyn Manson, das er vor einiger Zeit gelesen hatte.

Er genierte sich nicht für diese Lektüre und auch nicht dafür, dass die Prokuristin durch seine Träume wandelte. Doch wie albern, wie sehr zur Übertreibung geneigt und wie arm an Urteilskraft war dieses Unterbewusstsein, dass es jene ziemlich durchschnittliche Person, ein bestens eingepasstes Rädchen im Getriebe, solcherart dämonisierte. Unter etwas anderen Bedingungen wäre die Dame vielleicht – Briefträgerin geworden, wer weiß? Pisperwitz radelte, während er die erträumte Drolerie mit diesem Gedanken zu den Akten legte, durch einen trüben Morgen auf das Büro zu. Da kam schon der Krähenbaum in Sichtweite, den er auch von seinem Schreibtisch aus beobachten konnte.

Die Chefin genehmigte seinen Urlaub anstandslos. Pisperwitz war auf dem Rückweg zu seinem Schreibtisch und befand die Traumszene nun vollends für lächerlich. Durch das Bürofenster sah er, wie eine der Krähen Nistmaterial herbeitrug: einen aufgerissenen, leeren Fensterumschlag. Gut möglich, dass einer der Kollegen den gedankenlos weggeworfen hatte. Wenn man bedenkt, überlegte Pisperwitz, was alles in diesen Umschlägen daherkommt … Ganze Existenzen konnte so ein Umschlag vernichten oder auch absichern; und dergleichen landete im Schnabel einer Krähe.

Sein Kollege bat ihn, das Telefon auf Pisperwitzens Apparat umleiten zu dürfen, da er nun ein längeres persönliches Gespräch führen müsse. „Kein Problem. – Mit wem denn? Ich meine – das Gespräch?“ „Mit der Geschäftsführung“, sagte sein Kollege gedämpft. „Verstehe.“ Der Kollege verdrehte die Augen. „Viel Glück – Erfolg“, fügte Pisperwitz hinzu. Durch die offene Bürotür fiel sein Blick auf den Geschäftsführer, Herrn Buschmann, wie er, die Mappe unter dem Arm und die Lippen grotesk verzogen, in etwas gebeugter Haltung versuchte, die notorisch schwergängige Tür des Besprechungsraums zu öffnen.

Eigensinn

Pisperwitz hatte keine Ahnung, wer ihm das portolose Kuvert in den Briefkasten gesteckt haben könnte. „hören Sie mit dem verdammten eigensinn Auf Mann!“ stand da in ausgeschnittenen, aufgeklebten Buchstaben. Nachdem er eine schlaflose Nacht damit verbracht hatte, sich abwechselnd vor den möglichen Konsequenzen seines Eigensinns zu fürchten, ergebnislose Überlegungen zum Urheber des Schreibens anzustellen und dessen sprachlicher Machart nachzugrübeln: Ist das nun eine Drohung oder ein wohlmeinender Rat? Und wie will mein Feind – oder mein besorgter Wohltäter – denn erkennen, dass ich mit dem Eigensinn aufgehört habe? Eins im Sinn, wer schaut da hinein? – – da ging ihm gegen halb fünf, die ersten Vögel sangen durch das gekippte Schlafzimmerfenster, plötzlich auf, dass er sich ernsthaft freuen durfte. Wer immer diese Buchstaben aufgeklebt hatte, die Person bewährte damit entweder achtungsvolle Feindschaft oder aber schonungslose Freundschaft. Besonders gefiel ihm die Anrede: „Sie – Mann!“ Nicht: „Du – Junge“ oder gar „Kerlchen“, wie er sich vor langen Jahren einmal in aller Gemütlichkeit hatte nennen hören. Vor dieser Errungenschaft verblasste alles Dubiose wie die soeben vergangene Nacht.

Pisperwitz und das Pilzsüppchen

„Das sieht aber gut aus! Lass es dir schmecken.“ Pisperwitz zögerte, auf den guten Wunsch der Kollegin zu antworten. Er betrachtete sein Plastiktöpfchen mit industriell verfertigter, nun in der Teeküche aufgebrühter Pilzsuppe und wunderte sich über den gezeigten Enthusiasmus. Dann kam ihm Kaiser Claudius in den Sinn, und die Dinge rückten sich zurecht. In den letzten zweitausend Jahren hatten sich die Methoden verfeinert, immerhin.

Traubenketchup

Beim Abtauen hatte Pisperwitz das Gläschen im hintersten Winkel seines Kühlschranks zunächst für gewöhnliche Grillsoße gehalten. Dann hatte er erkannt, dass es sich um das Traubenketchup handelte. Er machte sich wenig aus Ketchup und hatte es seinerzeit als eine Art Souvenir in der Dorfmetzgerei gekauft; mit Wildschweinbratwurst schmeckte es immerhin nicht schlecht, das wusste er von vergangenen Winzerfesten dort an dem Flüsschen. Nun aber fühlte er sich, als hätte er unvermutet einen Krug Falernerweins aus einer antiken Schutthalde geborgen, mehr noch: als wäre plötzlich der Bronzearm einer Götterstatue in Erde und Geröll erkennbar geworden. Er empfand in diesem Moment nur Trauer; nichts von Finderglück. Pisperwitz stellte sich vor, der überlebende Plinius wäre an den Golf von Neapel zurückgekehrt und ginge durch die Ausgrabungsstätten unterhalb des Vesuvs.

Das Ketchup-Gläschen stammte aus der Zeit davor, der unwiederbringlichen. Keinem Zeitgenossen, der diesen Namen verdiente, hätte man an diesem Punkt erklären müssen, was da geschehen war. Die Ereignisse des letzten Sommers hatten es immerhin bis in außereuropäische Nachrichtensendungen geschafft. Pisperwitz rang alle paar Wochen mit sich, ob er sich nicht einfach ins Auto setzen und in das schwer heimgesuchte Dorf fahren sollte … Eine kurze Internetrecherche, denn Fotos und Filmsequenzen über Neuanfänge nach der Katastrophe gab es mittlerweile in einiger Anzahl, brachte ihn jedes Mal davon ab. Seine größte Sorge war, dass ihm der Ort hierüber gleichgültig werden könnte. Die Menschen, die dort ihr Leben verloren hatten, taten ihm leid, aber er kannte keines der Todesopfer persönlich. Ihm graute davor, wie der Wiederaufbau in der verwüsteten Kulturlandschaft vonstatten gehen mochte. Nichts ist schwerer zu ersetzen als Patina. Kein Arkadien ohne sie.

Pisperwitz und der Supervulkan

Gebannt las Pisperwitz in den neuesten Meldungen von der Halbinsel Reykjanes. Bisher gab es keine Explosionen, und die Lava ergoss sich auf einer ziemlich kleinen Fläche in die unbewohnte Landschaft; doch wer wusste schon, was die nächsten Monate bringen würden. Nach Jahrhunderten war das Vulkansystem dort wieder aktiv geworden. Tausend Jahre wie ein Tag, dachte Pisperwitz. Dabei zeigten sich die Gewalten der Tiefe in Island noch von ihrer gemütlichen Seite. Vor sein geistiges Auge traten der Vesuv und die Campi Flegrei, näherhin die Solfatara, die er vor vielen Jahren einmal besichtigt hatte; nicht auszudenken, was dort, mitten im Ballungsgebiet –

Plötzlich ein Lärm aus dem Badezimmer: ein Gemisch aus dumpfem und schepperndem Geräusch. Als Pisperwitz die Tür öffnete, sah er den Inhalt des Hängeschranks auf den Fliesen liegen. Dessen Boden hatte sich gelöst. Verärgert räumte Pisperwitz die Sachen in einen Korb und beschloss, nach den Kaufunterlagen des Schranks zu suchen – vielleicht galt noch eine Garantie. Nach einiger Zeit fand er das Dokument zwischen anderen Unterlagen. Nichts zu machen mit einer Reklamation, doch nun staunte Pisperwitz ehrfürchtig: Er hatte dem Schrank nie viel Beachtung geschenkt, ihn einfach nach Maßen und Farbe ausgesucht und die Serie von namensähnlichen Schränken daraufhin durchgesehen. Matterhorn, Fichtelberg und weiß der Geier was hatten nicht gepasst. Der Name des Schranks aber war: Uturuncu.

Pisperwitz und die Inschrift

Noch im Mantel, den eilig aufgerissenen Brief auf den Küchentisch geworfen, rief Pisperwitz die Durchwahl bei der Behörde an. Sein Herz raste. Als der Sachbearbeiter sich mit aufreizend fröhlicher Stimme meldete, gerade so, als ob er einen anderen Anrufer erwartet hätte, unterdrückte Pisperwitz das Zittern in seiner Stimme. Er teilte dem Beamten mit aller ihm zu Gebote stehenden Höflichkeit mit, dass er sich die Sache überhaupt nicht erklären könne. „Darauf kommt’s auch nicht an, Herr Pisperwitz“, sagte der Beamte mit lässiger Freundlichkeit. „Schreiben Sie uns einfach einen Brief und erklären uns, wie Sie die Sache sehen.“ „Aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie mich irgend jemand für einen Einbrecher halten kann.“ „Ein formloses Schreiben reicht uns fürs erste.“ „Aber ich habe wirklich keine Ahnung, wann und wo und überhaupt – vielleicht ein – schlechter Scherz?“ „Sie meinen, eine anonyme Anzeige gegen Sie? Nein, dann hätten wir ja gar keine Akte angelegt, zumindest nicht mit Ihnen als dem Beschuldigten. Unser Haus ist von Amts wegen tätig geworden, es bedarf in solchen Fällen keiner Anzeige. Und dass Sie den Text verfasst haben, werden Sie ja nicht bestreiten, oder?“ „Welchen Text?“ „Den in der Zeitschrift.“ „Den der Anzeige?“ „Natürlich nicht.“

Die Lässigkeit war aus der Stimme des Beamten gewichen. „Nehmen Sie die Sache doch bitte ernst. Ein Ermittlungsverfahren ist kein Spaß.“ Kurzes Schweigen; dann gab Pisperwitz sich einen Ruck und sagte mit festerer Stimme: „Helfen Sie mir bitte mit einem Stichwort weiter. Wo soll ich denn eingebrochen sein?“ „Tja, wenn wir das so genau wüssten … Dann würde es ja in unserem Schreiben stehen, meinen Sie nicht?“, sagte der Beamte süffisant. „Im Übrigen darf ich Ihnen derzeit keine Akteneinsicht gewähren, und am Telefon schon gar nicht.“ Wiederum trat Stille ein. In Pisperwitz stieg Ungeduld auf. „Hören Sie“ – „Tu’ ich die ganze Zeit, keine Sorge“, gab der Beamte zurück – „So kommen wir doch nicht weiter.“ „Das wird man dann sehen. Aber gut“, fuhr der Sachbearbeiter mit gedämpfter Stimme fort, „einen kleinen Wink kann ich vielleicht geben. Wenn ein Gebäude, sagen wir: eine Kirche, baufällig ist, dann kommt man ja wohl nicht legalerweise hinein; und in letzter Minute schon gar nicht.“

Pisperwitz wurde schlagartig alles klar. Freudig aufgewühlt rief er in das Telefon: „Ja klar – die Inschrift! Dann ist ja alles in Ordnung!“ „Oh“, sagte der Beamte mit bedenklichem Tonfall, „da wäre ich mir nicht so sicher. Ganz und gar nicht.“ „Wieso nicht“, fragte Pisperwitz ebenso ernüchtert wie zuvor erregt. „In eine Kirche, die es nicht gibt, kann man auch nicht einbrechen.“ „Klar gibt es die nicht – nicht mehr“, klang es, nun wieder mit heiterem Tonfall, vom anderen Ende der Leitung her. „Sie ist ja abgerissen worden. Niedergelegt, schreiben Sie in Ihrem Text, kurz nachdem sie diese Inschrift dort abgepinnt haben.“ „Hören Sie doch mal zu, Mann“, polterte Pisperwitz in den Hörer hinein – „Tu’ ich, tu’ ich.“ Mit beherrschterer Stimme sprach der Beschuldigte weiter: „Wenn Sie meinen Text gründlich gelesen haben“ – „Wir lesen hier alles gründlich, seien Sie ganz unbesorgt.“ „Bestens, dann sollten wir die Sache schnell aus der Welt schaffen können.“ „Das liegt ganz bei Ihnen, Herr Pisperwitz.“

„In Ordnung. Mein Text gibt eine fiktive Inschrift wieder, in einer fiktiven Kirche, deren Standort ich eben deshalb so vage angegeben habe.“ „Es könnte aber auch ganz anders gewesen sein. Wie gesagt, das wird man dann sehen.“ Abermals kurze Stille. Pisperwitz gab sich nun alle Mühe, den Ärger in seiner Stimme auszuschalten und ihre freundliche Färbung wiederzugewinnen: „Es handelt sich einfach um so eine Art – gelehrten Scherz. Die vermeintliche Inschrift stammt von mir, und die Lokalisierung in dieser von mir ausgedachten Kirche war als Signal an die Leser gedacht, dass das Ganze – ja, dass es halt ein Scherzgedicht ist. Nicht mehr und nicht weniger.“ „Nicht mehr und nicht weniger“, wiederholte der Beamte. „Letztlich eine uralte literarische Technik“, fügte Pisperwitz mit wiedergewonnener Selbstsicherheit hinzu. Am anderen Ende der Leitung atmete der Sachbearbeiter tief durch. Das werde ich gleich auch tun, dachte Pisperwitz. „Herr Pisperwitz, eine uralte Technik, sagen Sie? Das macht es doch umso schlimmer. Höchste Zeit, dass wir uns das genauer anschauen.“

Pisperwitz und das Recruiting

Pisperwitz hatte zwei Tage mit sich gerungen, ob er zum Hörer greifen sollte. Ihm war völlig klar, dass er die gegen ihn getroffene Entscheidung nicht würde rückgängig machen können. Ebenso deutlich klang bereits in seinem inneren Gehör, wie ungreifbar und nichtssagend die Antworten der anderen Seite ausfallen würden. Als er schließlich doch bei der Personalabteilung anrief, geschah es wohl nur deshalb (Pisperwitz zweifelte selbst ein wenig über sein Motiv), um der inneren Unruhe Herr zu werden.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Dame vom „Recruiting-Team“. Selbstverständlich könne Herr Pisperwitz ihr ein Feedback zum Online-Auswahlverfahren geben, sehr gerne sogar, das sei jederzeit eine Bereicherung für die Arbeit des Teams. Pisperwitzens Kognition wusste sehr genau, dass auf diese Worte nichts zu geben war; ein anderer Teil seiner Persönlichkeit ließ es sich allerdings recht gerne gefallen, derart eingewickelt zu werden. Er versuchte, etwas Zeit zu gewinnen, indem er betont seufzend Atem holte, ein gedehntes „Also gut“ hervorbrachte und sich unterdessen innerlich sortierte. Dann brachte er seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass der angeblich doch aufgabenspezifische und passgenaue Test keine einzige Fachfrage enthalten habe. „Nichts zu TYPO3, nichts zu XML!“ Kurze Pause. Darauf die Replik: „Das setzen wir doch voraus.“ Und nach einer weiteren Pause, nun wieder in dem anfänglich-süßlichen Tonfall: „Möchten Sie uns sonst noch etwas mitteilen, Herr Knisperwitz?“ Er verzichtete darauf, die Dame zu korrigieren, bevor seine Zeit ablief. „Ja, möchte ich. Definitiv. Diese“ – er schaffte es gerade noch, das Wort Sekten-Methoden zu unterdrücken – „diese Selbsteinschätzungsfragen im letzten Teil – die waren wirklich der Gipfel.“ „Warum, wenn ich fragen darf?“ „Ich weiß zwar sehr genau, dass Sie das nicht hören wollen“ – „Wir sind für jede Kritik offen und dankbar“ – „Umso besser. Diese Unzahl von Fragen! Und vor allem solche, die eindeutig unter die Gürtellinie gehen. ‚Fühlen Sie sich von Kritik leicht verunsichert?‘ ‚Halten andere Menschen Sie für einen Sympathieträger?‘ ‚Halten andere Menschen Sie für schlagfertig?‘ Was tut das denn zur Sache für diese Stellenausschreibung?“ „Unsere Recruiting-Experten sehen das anders, Herr – Pisperwitz. Vielleicht müssen Sie da auch – an sich – noch arbeiten?“ Hier legte Pisperwitz grußlos auf. Die innere Unruhe war, er hätte es sich denken können, stärker als zuvor.

Nachdem er einige Minuten vor seinem Schreibtisch auf- und abgeschritten war, fiel ihm, zu seiner grimmigen Belustigung und ohne dass er danach gesucht hätte, die Antwort ein: Aber nicht für Sie.

Pisperwitz und das offene Fenster

Pisperwitz setzte seinen Abendspaziergang fort und ließ das Haus mit dem weit geöffneten Fenster hinter sich. Ihn erfüllte tiefe Befriedigung, ja ein Gefühl des Trostes und der Geborgenheit. Minutenlang hatte er den Klängen gelauscht, die aus dem Fenster im dritten Stock bis hinunter zur Straße gedrungen waren. Konnte man sie als Musik bezeichnen? Sie hatten sein Gehör beleidigt, fast körperlich verletzt, aber Pisperwitz erkannte ihre Notwendigkeit an. Er hätte nicht verlässlich sagen können, ob es sich hier um Death Metal, Dark Metal oder eine andere Stilrichtung handelte, die am strahlenden Mittsommerabend durch die als Vorhang eingehängte, rostrote Wolldecke brach. Wie musste sich das in den Nachbarwohnungen anhören? Der Urheber – Pisperwitz dachte kurz an eine Urheberin, verwarf den Gedanken aber – der Urheber war vermutlich eine Plage für das ganze Haus. Doch was ging das ihn an? Der lautstarke Unbekannte war sein Alliierter, und seit wann konnte man sich Alliierte aussuchen?

Mehrere Wochen lang hatte Pisperwitz kein Lebenszeichen von ihm wahrgenommen: das Fenster geschlossen, nichts zu hören und kein Vorhang zu erkennen. War sein Verbündeter etwa verzogen? Hatte er vielleicht die Waffen gestreckt? Pisperwitz hatte sich bei diesem Gedanken plötzlich sehr einsam gefühlt; auch das Wort „Verräter“ war ihm in solchen Momenten durch den Kopf gegangen. Das bewirkte jetzt, an diesem Sommerabend, einen Anflug von schlechtem Gewissen in ihm, der sein Wohlgefühl aber nicht vertreiben konnte. Was sie beide vereinte, war etwas Großes, für das es sich lohnte zu kämpfen. Pisperwitz hatte zuletzt vor, na vielleicht sechs Jahren jemanden angeschrien. Damals hatte ein achtloser Radfahrer seinen Autospiegel beschädigt. Er hatte sich für seinen Wutausbruch entschuldigt, und sein Kontrahent hatte mit einem milde dahingelächelten „Kein Problem“ geantwortet. Den Schaden hatten sie irgendwie reguliert. Seitdem schien es aber im Viertel, nein in der ganzen Stadt umzugehen: Keine Zumutung des Alltags vermochte die Leute noch aus der Fassung zu bringen. „Alles gut.“ „Kein Problem.“ „Alles gut.“ Bei Pisperwitz hatte sich das beklemmende Gefühl eingestellt, er sei der letzte Mensch in dieser Stadt, der noch zum Zorn fähig war. Als er vor etwa zwei Jahren das Fenster entdeckt hatte, war ihm das Herz aufgegangen.

An diesem Mittsommerabend beschloss er, hierauf ein Gläschen Portwein zu trinken.

Pisperwitz und der Haarschnitt

„Gel oder irgend etwas?“ „Danke, nein.“ Kurzes Schweigen der Friseuse, überspielt von zwei, drei präzisierenden Schnitten an den Spitzen entlang. „Wirklich kein Gel?“ „Wirklich nicht.“ „Haben Sie noch nie Gel genommen?“ „So ist es.“ „Noch nie? Die würden aber ganz anders liegen, mit Gel.“ Pisperwitz überlegte einen Moment, ob er sich diese Aufdringlichkeit nun verbitten sollte, doch die Erinnerung an frühere, identische Erlebnisse in anderen Salons hielt ihn davon ab; und im nächsten Augenblick erschloss sich, wieder einmal, die ganze Heillosigkeit der Situation und ging ihm nahe. „Anders sein ist der Tod“, dachte er, während die Rasierklinge ein letztes Mal sanft über seinen Nacken glitt.

Cornelius van Alsum

wurde 1976 am Niederrhein geboren. Studium der Fächer Geschichte, Latein und Mittellatein in Bonn und Perugia. Berufstätig im Bereich der historischen Forschung und Lehre. Er lebt in Bonn, schreibt Lyrik, Aphorismen, Essays und Erzählprosa und übersetzt Gedichte sowie Prosatexte. Literarische Veröffentlichungen in Audioformaten, Anthologien und Zeitschriften. Cornelius van Alsum ist Begründer und Herausgeber der Internet-Literaturzeitschrift kalmenzone.

https://www.kalmenzone.de