REZENSION: „ISRAEL – TRAUM UND WIRKLICHKEIT DES JÜDISCHEN STAATES. VON THEODOR HERZL BIS HEUTE“ VON MICHAEL BRENNER – REZENSIERT VON MARIE-THERES STAMPF

Michael Brenners Aufbereitung der Entstehung Israels bietet eine sachliche Übersicht zur historischen Entwicklung des Zionismus sowie seiner konkurrierenden Gegenpositionen, die von der frühen Ideengeschichte bis zur heutigen politischen und gesellschaftlichen Lage des Staates reicht. MARIE-THERES STAMPF hat für die Leser*innen der ZUKUNFT rezensiert.

I. Einleitung

Schon im einleitenden Kapitel des Bandes Israel – Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates zeichnet Michael Brenner Die Sehnsucht nach Normalität nach, die mit dem Traum vom „eigenen Staat“ und der Normalisierung des Schicksals des jüdischen Volkes in Verbindung gebracht wurde – „ein Volk wie jedes andere“ zu werden, wird bei Brenner (zum Teil auch anekdotisch belegt) als bedeutender Aspekt der zionistischen Bestrebungen unterstrichen. Gleichzeitig aber steckt darin bereits im Keim der Widerspruch mit der sowohl religiös, aber häufig auch säkular bedienten Rhetorik der „Auserwähltheit“ bzw. „Andersheit“, die sich im historischen Zionismus beispielsweise im Anspruch niederschlägt, einen „israelischen Musterstaat“ zu errichten. Die These des Autors unterstreicht, hier verkürzt wiedergegeben, den sich ergebenden Widerspruch, in dem seiner Betrachtung nach Israel bis heute verfangen bleibt: Sowohl die aus äußerer als auch aus innerer Perspektive erfahrene „Andersheit“ des jüdischen Volkes als Diaspora-Gesellschaft konkurriert mit der angestrebten Normalität, was auch durch die besonderen, ja einzigartigen Umstände der Staatsgründung, einer Normalisierungsbestrebung schlechthin, nur wieder betont wurde. Auch die geopolitische Relevanz des – vergleichsmäßig kleinen – Staates spiegelt diese Sonderstellung, die ein Entkommen vor der Andersheit verunmöglicht: „Israel“ und „Antizionismus“ hätten in diesem Zusammenhang, so Brenner, die Begriffe „Juden“ und „Antisemitismus“ als „kulturellen Code“ abgelöst.

II. Vom ersten Zionistenkongress zur Staatsbildung

Ausgehend von einem kurzen historischen Überblick zur Geschichte des jüdischen Volkes von der Antike weg, widmet sich Brenner daraufhin konzentriert den konkreten Entwicklungen der Moderne, vor allem ab dem Wendepunktjahr 1897, in chronologischer Anordnung. So zeichnet er parallellaufende Bewegungen, die in einer vereinfachten Darstellung der Historie des israelischen Staates häufig vernachlässigt werden, im Kapitel Am Scheideweg: 1897 nach. Die ab dem 19. Jahrhundert schrittweise dringlicher werdende „Judenfrage“ führte dabei zu Lösungsbestrebungen, die die Bildung des Staates, wie Brenner konstatiert, weniger geradlinig verlaufen ließen, wie indes heute oft vereinfacht dargestellt wird: Sozialistische Bundist*innen, die eine Normalisierung durch den Klassenkampf herbeisehnten, radikale Assimilationsbefürworter*innen und der Diasporanationalismus konkurrierten dabei mit dem Zionismus, der in sich selbst wiederum in verschiedene Vorstellungen zur Staatsbildung zersplittert war. Brenner bietet dabei ein Panorama der politischen und intellektuellen Strömungen zum Thema „Judenstaat“ ab 1897, dem Zeitpunkt des Ersten Zionistischen Kongresses in Basel, und zeichnet parallel dazu in Eckdaten die erhöhte Dringlichkeit aufgrund des erstarkenden Antisemitismus nach.

ISRAEL: TRAUM UND WIRKLICHKEIT
DES JÜDISCHEN STAATES
VON MICHAEL BRENNER
München: C. H. Beck
288 Seiten | € 16,45
ISBN: 978-3406688225
Erscheinungstermin: November 2016

Im darauffolgenden Kapitel stellt er zwei Staatsmodelle vor, die bis 1917 (mit der Balfour-Deklaration als Meilenstein der jüdischen Territorialforderung) erdacht wurden: Theodor Herzls universalistisches Altneuland und Achad Ha’ams partikularistisches Hebräerland. Die Trennlinie zwischen der nationalistischen Vorstellung (Herzl) und der säkularen, doch jüdisch-kulturzentrierten Ha’ams verläuft dabei, laut Brenner, weniger scharf entlang einer Ost-West-Dichotomie, wie oft angenommen. Der Autor verweist außerdem auf grundsätzlich ähnliche, utopische Anteile (Gleichstellung der Frau, Toleranz gegenüber dem nicht-jüdischen Bevölkerungsanteil, grundsätzliche Säkularität), aber auch darauf, dass beide Modelle der Mehrheit zionistischer Jüdinnen und Juden mit traditionellen Ansprüchen nicht entsprachen.

Der nächste chronologische Abschnitt des Werks behandelt den Zeitraum von 1917 bis 1947. Mit der Zusicherung einer „jüdischen Heimstätte“ durch die Mandatsmacht Großbritannien 1917 wurde ein weiterer Schritt in der Transformation vom Traum zur Verwirklichung des jüdischen Staates gesetzt. Wie undefiniert dieser jedoch in den folgenden Jahrzehnten blieb, zeigt Brenner nicht nur anhand der vage gehaltenen Zusicherungen auf, sondern auch innerhalb der zionistischen Debatte. Die verschiedenen Lösungsansätze, die von einer autonomen Region (bis in die 1920er-Jahre vorherrschend) über eine binationale Einstaatenlösung (inklusive paritätischer Machtverteilung) bis hin zur Zweistaatenlösung und der – von Brenner in Anlehnung an Jabotinsky so genannten – „Fata-Morgana-Lösung“ der Territorialist*innen, die den Staat in einem anderen Gebiet als dem des historischen Israels schaffen wollten, konkurrierten dabei bis in die 1940er-Jahre. Durch die Bedrohung des Holocaust wurde in dem als Biltmore-Programm bekannt gewordenen Ergebnis des außergewöhnlichen Zionistenkongresses 1942 als rasche Lösung die Begrenzung der jüdischen Einwanderung nach Palästina aufgehoben und der Grundstein für den souveränen Nationalstaat gelegt, der als Konsequenz des Genozids in Europa nun zu Recht gefordert wurde.

III. Nationalstaat in Genese

Mit dem Beschluss der UNO-Vollversammlung zum Teilungsplan Palästinas 1947 bricht die nächste Epoche in der Geschichte des israelischen Staates an, die Brenner bis zum Sechstagekrieg 1967 zusammenfasst. Hier thematisiert der Autor vor allem die vielfältigen Fragen, die die Staatsgründung sowohl in Bezug auf den Diasporismus der jüdischen Mehrheit, als auch die Definition seiner zukünftigen Bewohner*innen aufwarf. Die bereits seit Beginn zionistischer Bestrebungen bekannte Problematik des Oszillierens zwischen Normalität und Besonderheit gewinnt wieder an Bedeutung: Der widersprüchliche Wunsch, ein Staat wie jeder andere und doch gleichzeitig Musterstaat zu sein, spiegelt sich auch in der Unabhängigkeitserklärung sowie in der humanitären Hilfe, die Israel leistete, aber auch in der Debatte um eine gefürchtete „kollektive Assimilation“. Gleichzeitig stellte die religiöse Definition der jüdischen Zugehörigkeit die Rückkehrprogrammatik vor juristische Präzedenzfälle, da Ethnie und Religion schwer trennbar schienen. Dem Ringen um eine eigene nationale Identität, das sich in einem staatlichen Kollektivismus niederschlug, standen individualistische Entwicklungen gegenüber. Den für Brenner „radikalsten Normalisierungsversuch“ stellen die Vorstellungen der Kanaanäer*innen in diesem Zeitraum dar, die das israelische Volk vom Diaspora-Judentum abkoppeln und mit der lokalen Bevölkerung als hebräische Ethnie verschmelzen lassen wollten.

Mit dem Sechstagekrieg wandelte sich das internationale Verständnis Israels bedenklicher Weise vom Opfer zum Täter. Eine globale Abschottung, UN-Resolutionen sowie die Herabminderung zum „Pariastaat“ waren die antisemitische Folge. In diesem Ereignis sieht Brenner eine „zweite Staatsgründung“, die zum einen das israelische Selbstbewusstsein und Sicherheitsgefühl stärkte, zum anderen die Problematik der nun unter Besatzungsmacht stehenden Palästinenser*innen mit sich brachte. Die „Wunder“-Rhetorik zum Kriegserfolg rückte die Gebietseroberungen in einen religiösen Kontext, der von nun an auch tagespolitisch relevant wurde. Gegenstimmen sahen die säkularen Ziele verraten oder äußerten ethische Bedenken gegenüber der Besetzung. Ab 1977 setzte sich dann mit der Wahl Menachem Begins ein zunehmend rechtsnationaler Kurs durch, der die Siedler*innenbewegung stärkte. Eine Entspannung auf internationaler Ebene, sowie ernsthafte Friedensbestrebungen folgten erst Anfang der 1990er-Jahre, eine Entwicklung, die laut Brenner schnell wieder abgelöst wurde, da mit dem Amtsantritt des nationalistischen Benjamin Netanjahu ein „kalter Friede“ eintrat. Im Unterkapitel Endzeitträume geht Brenner auf die höchst interessanten Außenperspektiven zum israelischen Staat ein, beispielsweise die Rolle, die das Land in evangelikalen Endzeitvorstellungen einnimmt, wodurch sich auch die komplexe Beziehung zu den USA ergibt.

IV. Zwischen Modernität und Ultra-Orthodoxie

Im letzten behandelten Zeitabschnitt ab 1995, betitelt mit Das globale Israel, behandelt Brenner die aktuellen Ein- aber auch Auswanderungsbewegungen Israels. Dabei stellt die Auswanderung – im Vergleich zu anderen modernen, demokratischen Staaten – in Israel durch die besondere Form der Staatsbildung einen von Behörden nicht gern gesehenen Spezialfall dar. Im Kapitel werden die unterschiedlichen Migrationsbewegungen und ihre Folgen auf die israelische Gesellschaft nachgezeichnet. Die neu entstehende „israelische Diaspora“ eines Staates, der das Diaspora-Dasein ablösen sollte, fördert die Diskussion um die Normalität dieser Lebensweise, die aktuell auch künstlerisch verhandelt wird, und bisweilen auch postzionistische Positionen hervorbringt. Auch auf die aktuell größten Einwanderungsgruppen aus asiatischen und afrikanischen Staaten, die ihre ethnische Zugehörigkeit aus dem Mythos der „verlorenen zehn Stämme“ ziehen, geht Brenner ein. Die dadurch resultierende zunehmende Diversität der Gesellschaft wirft ähnliche Problemstellungen wie die Migrationsdebatte in europäischen Staaten auf und fördert die Polarisierung der israelischen Gesellschaft.

Abschließend zeichnet Brenner das Bild der aktuellen sozialen, kulturellen und politischen Lage in Israel, das er in „zwei Gesichter“ geteilt sieht: Tel Aviv und Jerusalem. Die Trennlinie verläuft nicht nur, wie er aufzeigt, entlang religiöser und kultureller, sondern auch politischer Parameter. Trotzdem wäre es ein Fehler, Israel auf diese konträren urbanen Zentren zu reduzieren: Kibbuzim, Siedlungen und die Multi-Ethnizität des Landes verunmöglichen eine simple Zweiteilung. Am Ende, so konstatiert Brenner, wurde Israel nie zu einem der utopischen Ideale, die ab dem 19. Jahrhundert von Herzl, Peres oder Ha’am erträumt wurden: Es wurde ein bisschen von allem.

V. Fazit

Brenner arbeitet chronologisch die Entstehung des israelischen Staates auf und legt besonderes Augenmerk auf die Ideengeschichte zum „Judenstaat“, dessen Entwicklung von der visionären Vorstellung Ende des 19. Jahrhunderts zur heutigen, konkreten Form vom Autor sehr detailliert präsentiert wird. Dass dieser Präzedenzfall der Staatsgründung nach wie vor zwischen Normalität und Sonderstellung pendelt und wie tief diese zu verhandelnden Oppositionen in der Geschichte des jüdischen Volkes ankern, verdeutlicht Brenners pluralistische Rundschau philosophischer und politischer Meinungen. Der titelgebende Gegensatz von Traum und Wirklichkeit trifft vor allem auf den vom Autor wiederholt gezogenen Vergleich zwischen den utopischen Anteilen des frühen Zionismus und ihrer Umsetzung zu. Brenner bietet hier keine reine Abfolge historischer Ereignisse, vielmehr einen profunden Einblick in die überraschend vielfältigen Ideen zum israelischen Staat, die diesen selbst nach seiner Gründung noch begleiten.

MARIE-THERES STAMPF

ist Literaturwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Literaturgeschichte, Literatur und Nationalismus sowie Phantastik. Aktuell arbeitet sie über den Motivkomplex der Dystopie in sozio-historischen Kontexten.