„Wir müssen mit dem Herzen schauen …“ Interview mit SPÖ-Parteivorsitzender Pamela Rendi-Wagner Geführt von HEMMA PRAINSACK und THOMAS BALLHAUSEN

Im Interview mit PAMELA RENDI-WAGNER, das die ZUKUNFT-Redakteur*innen HEMMA PRAINSACK und THOMAS BALLHAUSEN mit ihr geführt haben, werden „Message Control“ und das „System Kurz“ ebenso diskutiert, wie die Aufgaben und Zukunft der Sozialpolitik. Ein Gespräch über Politikverdrossenheit, Parallelen zwischen den Berufen der Ärztin und Politikerin und nicht zuletzt darüber, welche Rolle Bildung in der Etablierung eines politischen Bewusstseins spielt …

Hemma Prainsack: Am 27. Mai 2019 hast Du dem damals amtierenden Bundeskanzler der Republik Österreich das Misstrauen ausgesprochen, da sich Sebastian Kurz in einer in der 2. Republik noch nie dagewesenen Achtlosigkeit gegenüber dem Parlament verhalten und die Regierungsführung ohne demokratischen Dialog mit den Oppositionsparteien fortgesetzt hat. Nur knapp zweieinhalb Jahre später musste er zurücktreten, nachdem Chats und strafrechtliche Ermittlungen bekannt wurden. Wie geht es Dir damit in Hinblick auf unsere politische Zukunft?

Rendi-Wagner: Ich stehe für eine konstruktiv-kritische Oppositionsarbeit. Das bedeutet, dass ich mich aktiv mit Vorschlägen einbringe – etwa im Kampf gegen Corona. Manches davon wurde aufgegriffen und umgesetzt, wie die Teststrategie. Gleichzeitig zeigen wir als SPÖ klar und deutlich auf, wenn etwas schiefläuft. Angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe gegen den ehemaligen Bundeskanzler Kurz und sein engstes Umfeld war rasch klar, dass wir nicht zur Tagesordnung übergehen können. Und die ÖVP hat – auch aufgrund unseres Drucks – rasch eingesehen, dass Kurz als Kanzler nicht mehr tragbar war. Jetzt geht es darum, die Machenschaften der Türkisen aufzuarbeiten und für dieses Land zu arbeiten. Die Pandemie und die akute Teuerung sind derzeit die größten Herausforderungen.

H. P.: In der Vergangenheit hast Du das System Kurz mehrfach exakt benannt und ganz nachvollziehbar beschrieben, wie mit Message Control und Stilisierung der Person Kurz die Bevölkerung geblendet wird. Nun hat die WKStA mit dem Aufdecken der „Österreich-Affäre“ Beweise für das gewissenlose Machtstreben durch die Kurz-Seilschaften geliefert. Du hältst hier entschieden dagegen und forderst eine Politik des Anstandes, also eine Sozialdemokratie, die wieder sichtbar und spürbar ist. Wie kann das gelingen?

P. R-W.: Ich möchte das Leben aller Menschen verbessern. Den Türkisen geht es genau ums Gegenteil: Ihnen geht es um sich selbst und die eigene Macht. Darum haben sie zum Beispiel auch 2016 den geplanten Ausbau der Kinderbetreuung in ganz Österreich verhindert. Um selbst an die Macht zu kommen, das zeigen die Chats, durfte die rot-schwarze Regierung keinen Erfolg haben. Beim Lesen dieser Nachrichten stockt einem der Atem. Dieser bewusst herbeigeführte Stillstand muss ein Ende haben. Denn wir müssen uns den drängenden Herausforderungen widmen: Es braucht dringend Maßnahmen gegen die Teuerungswelle, eine rasche, rückwirkende Steuersenkung für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, eine Pflegeoffensive und den Ausbau der Ganztags-Kinderbetreuung inklusive Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem 1. Lebensjahr. Ich stehe für Ehrlichkeit und Anstand, für eine Politik, die sich ganz der Sacharbeit für die Menschen widmet.

H. P.: In den letzten Jahren wurden durch globale Krisen Ängste und Befürchtungen geschürt. In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, dass in Österreich Politikverdrossenheit entsteht. Kannst Du uns als Politikerin und Klubvorsitzende eine Einschätzung darüber geben, wie wir die Bürger*innen zu mehr Teilhabe und Verantwortungsbewusstsein motivieren können, um ein soziales und demokratisches Miteinander zu ermöglichen?

P. R-W.: Grundsätzlich sind die Österreicher*innen sehr an Politik interessiert. Das merke ich nicht nur, wenn ich unterwegs bin, Betriebe oder Veranstaltungen besuche. Das sehen wir auch im Bereich der sozialen Medien, wie viele sich an Debatten zu unterschiedlichen Themen beteiligen. Zu Politikverdrossenheit kommt es immer dann, wenn sich die Politik nur mit sich selbst beschäftigt – vor allem, wenn es um Skandale und Affären geht. Wie etwa gerade der Machtmissbrauch des türkisen Systems. Verantwortungsbewusstsein muss dahingehend vor allem die Politik selbst zeigen, mit gutem Beispiel vorangehen und den Grundstein für ein offenes, ehrliches und anständiges – eben ein demokratisches – Miteinander als Basis für Vertrauen und Teilhabe der Bevölkerung schaffen.

Pamela Rendi-Wagner © Visnjic


H. P.: Als Ärztin hast Du den Hippokratischen Eid geleistet und bist zu Menschlichkeit, Empathie und Ehrlichkeit gegenüber den Patient*innen verpflichtet. Ebenso musst Du ein möglichst realistisches Urteil über das Befinden der Patient*innen geben können. Welche Schnittmengen findest Du hier in der Politik wieder?

P. R-W.: Es gibt viele Schnittmengen zwischen der Politik und dem Arzt-Beruf. Es ist kein Zufall, dass die SPÖ vor über 130 Jahren von einem Arzt, Viktor Adler, gegründet wurde. Auch ich habe mich ganz bewusst entschieden, Ärztin zu werden. Weil es mir schon immer wichtig war, den Menschen zu helfen. Und ich habe mich ganz bewusst dazu entschieden, in die Politik zu gehen. Weil ich weiß, dass ich als Ärztin nie so vielen Menschen helfen kann wie durch kluge Politik. Das ist meine Überzeugung: Für die Menschen da zu sein, ihre Sorgen ernst zu nehmen und für sie zu arbeiten. Diese Haltung würde ich auch anderen Parteien dringend empfehlen, die durch ihre Skandale und Misswirtschaft viel Vertrauen zerstört haben. 

Thomas Ballhausen: Welche Rolle hat die Bildung bzw. sollte die Bildung bei der Entwicklung und guten Fundierung eines politischen Bewusstseins spielen? Welche Defizite oder auch Optionen der Verbesserung sind für Dich dahingehend zu benennen? Welche Funktion kann oder soll eine Diskussionszeitschrift wie die ZUKUNFT, die gleichermaßen anspruchsvoll und zugänglich sein will, dabei (wieder) übernehmen?

P. R-W.: Bildung ist einer der zentralen Schlüssel für alles im Leben. Auch für die Etablierung eines politischen Bewusstseins. Um diese beiden Bereiche zu verknüpfen, halte ich es für sehr wichtig, politische Bildung als eigenständiges Schulfach zu etablieren. Positionen bewerten und abwägen, Fakten einordnen, eine eigene Meinung entwickeln und zu vertreten – all das muss elementarer Bestandteil unseres Bildungssystems sein. Zu einer vielfältigen politischen Debattenkultur gehört aber natürlich noch weit mehr. Dafür ist gerade der Einsatz und das Engagement einer aktiven Zivilgesellschaft unabdingbar. Die ZUKUNFT leistet hier einen wertvollen Beitrag für eine positive, inklusive Debattenkultur, die für eine demokratische Öffentlichkeit unabdingbar ist.

H. P.: In einem Interview hast Du gesagt: „Wir müssen mit dem Herzen schauen, nicht nach links und schon gar nicht nach rechts, sondern nach vorn, wo die Zukunft ist.“ Was sind die wichtigsten Themen, die unsere Bewegung in Zukunft besetzen sollte?

P. R-W.: Genau, das habe ich in meiner Rede am Parteitag 2018 in Wels gesagt, als ich zur SPÖ-Vorsitzenden gewählt wurde. Und das zählt heute auch aufgrund der Erfahrungen der Pandemie genauso wie damals. Es geht um Themen wie Bildung, Sozialstaat, Gesundheit aber auch Verteilungsgerechtigkeit. Dafür müssen wir Hebel in Bewegung setzen. Das Ziel ist klar: das Leben jedes und jeder Einzelnen zu verbessern. Das können wir als Bewegung nur gemeinsam erreichen.

H. P.: Und abschließend eine Frage meiner 13-jährigen Tochter: Wie hast Du es geschafft, in die Politik zu kommen und was würdest Du ihr mitgeben, wenn sie ebenfalls politisch aktiv werden möchte?

P. R-W.: In die Politik gekommen bin ich über das Gesundheitsministerium, wo ich lange Jahre die Sektion für öffentliche Gesundheit geleitet habe. Dort habe ich als Krisenmanagerin eng mit den Minister*innen zusammengearbeitet, um die Bevölkerung vor den Auswirkungen der Atomkatastrophe von Fukushima oder der Ebola-Pandemie zu schützen. Über das Amt der Gesundheitsministerin bin ich dann in den Nationalrat gekommen und so Parteichefin der SPÖ geworden. Deiner Tochter würde ich den gleichen Leitsatz wie allen Mädchen mit auf den Weg geben: Im Zweifel immer Ja sagen, wenn sich Chancen ergeben.

PAMELA RENDI-WAGNER

studierte ab 1989 Medizin an der Universität Wien und ist Fachärztin für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin. Unter Christian Kern war sie 2017 Bundesministerin für Gesundheit. Im November 2018 wurde sie als erste Frau zur Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt.

HEMMA PRAINSACK

ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie derzeit zum Sensationsfilm im Umbruch zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Zuvor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunks und war bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video tätig.

THOMAS BALLHAUSEN

lebt als Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).