In ihrer prägnanten Erzählung überblendet die Autorin ZARAH WEISS die Lesbarkeit von Landschaften, (Charakter-)Eigenschaften und Körpern. Spot On a Long Road reflektiert mit den Mitteln der Literatur und ihrer Geschichte, was es bedeuten kann, eine Gegend oder auch einen Menschen kennenzulernen – oder gar zu kennen.
Niemand ist auf der breiten, erdigen Straße, die Wiesen neben uns verdorrt und gelb, nur einzelne Vorgärten gepflegt; ein Surren liegt in der Luft.
Ich habe Gänsehaut an den nackten Beinen, die Klimaanlage des Campervans läuft auf Hochtouren; ich ziehe die Beine an und schlinge meine Arme um sie, blicke aus dem Fenster, „So verrückt, dass Du hier schon mal warst, vor acht Jahren“, sage ich noch einmal zu Alex, weiß nicht, wie oft ich es schon zu ihm gesagt habe, seitdem wir in den kleinen australischen Ort eingefahren sind; dieser Ort inmitten der Steppe.
Einmal ganz herumgefahren sind wir in Schrittgeschwindigkeit, am Ortsausgang markiert ein Schild die nächste Stadt: noch 70 km.
Wenn wir später weiterfahren, wird da erst einmal 70 km nur Steppe sein, immer tiefer ins Land hinein, so kommt es mir vor, dabei ist es nur ein winziges Stück. Alice Springs ist immer noch eine Tagesreise vom Ayers Rock entfernt, hat Alex erzählt, und diese unendliche Weite, die sich da auftut, lässt mich ganz erhaben fühlen; wir fahren und fahren und sehen niemanden, nur Weite. Dafür bin ich doch hergekommen, für diese Erfahrung, nicht für die Städte, sondern, um die Größe und Weite zu spüren.
Im Radio laufen irgendwelche Dance-Charts, Alex hat sein Handy angeschlossen und ich habe nicht protestiert; ich kurbele das Fenster etwas herunter, es ist mir doch zu kalt. Langsam strecke ich einzelne Finger aus dem Fenster, dann schließlich die ganze Hand, den ganzen Arm. Alex schaltet die Klimaanlage aus und starrt geradeaus, sieht nicht auf die Häuser, die langsam an uns vorbeiziehen, die leere Straße.
„Wovor hast Du am meisten Angst?“, fragt er mich.
Ich drehe ruckartig den Kopf herum, starre ihn an, er wirft mir nur einen flüchtigen Blick zu, fährt weiter, ganz langsam. Noch nicht einmal aus dem Fenster schauen die Leute, um zu sehen, wer hier so elendig langsam durch ihren Ort fährt.
Wovor habe ich am meisten Angst? Davor, allein zu sein im Leben vielleicht? Davor, eine wichtige Person zu verlieren? Vor Kriegen, Hass, dem Wandel der Welt? Davor, eigentlich nicht gut in dem zu sein, was ich liebe, wodurch ich mich definiere, eigentlich gar nicht zu meinem eigenen Lebensplan zu passen? Davor, unglücklich zu sein, für immer, passiv, im Stillstand? Ich ringe nach Worten, um das ihm zu erklären und eigentlich denke ich, ist es wieder nur eins von seinen Spielen, seine Art, die eigene beste Freundin näher kennenzulernen.
„Ja, ich weiß nicht“, sage ich leise. Wir fahren an einem Springbrunnen vorbei. Eine grüne Rasenfläche, die einzige, die nicht vertrocknet scheint.
Vielleicht eine Minute, ist es mehr, ist es weniger, sagen wir nichts, biegen wir in eine neue Straße ein; schon längst geht es nicht mehr um den Weg zur Touristeninformation, der Handybildschirm mit dem Navi in meiner Hand ist schwarz geworden. Ohne Ziel fahren wir durch die Straßen, als könnten wir den Ort vom Auto aus ganz erkunden, ganz in uns aufnehmen, als müsste Alex sich vom Auto aus überzeugen, dass er genau hier vor acht Jahren schon einmal war, an der Grenze zwischen den Blue Mountains und dem Outback, eine gute Tagesreise von Sydney entfernt.
Eine Fliege kommt laut surrend hereingeflogen, schwirrt ums Lenkrad, knallt immer wieder gegen die Frontscheibe. Ich versuche sie mit der Hand hinauszuscheuchen.
„Ich hab am meisten Angst davor, nichts zu hinterlassen“, sagt Alex plötzlich in die Stille.
Die Fliege setzt sich auf das Armaturenbrett, ich fixiere sie mit meinen Augen, atme schwer. Ich sollte jetzt das Fenster schließen wieder, sollte einen geschützten Raum schaffen für dieses kommende ernste Gespräch – hier geht es überhaupt nicht darum, spielerisch mehr von mir zu erfahren, sondern um etwas Grundsätzliches, das ihm auf dem Herzen liegt – aber ich lasse es offen, lege die Hand auf das heiße Blech der Türe.
„Weißt Du“, fängt er jetzt plötzlich ganz schnell an zu reden und irgendwie nervt mich plötzlich die Art, wie er das sagt, ich weiß auch nicht, warum, mir wird warm, „weißt Du, ich will nicht vergessen werden. Ich hab Angst, dass ich nur mein Leben lebe und dann ist alles vorbei und ein paar erinnern sich vielleicht noch, aber die werden auch irgendwann sterben und dann bleibt nichts mehr von mir übrig. Ich möchte etwas beitragen zu dieser Welt, ich möchte etwas schaffen. Ich möchte sie vorwärts bringen, so richtig weit! Eigentlich –“, er blickt mich an – „eigentlich möchte ich berühmt sein!“
Ha, will ich machen, will lachen, kann es gerade noch herunterschlucken.
„Ja!“, er schaut wieder nach vorne, „Ich will berühmt sein, weil ich etwas geleistet habe; naja, halt auf jeden Fall nicht vergessen werde! Hast Du Dir mal überlegt, wie viele mehr tote als lebendige Menschen es gibt?“
Ich überlege ernsthaft. Wie lange gibt es die Menschheit schon, wie viele sind seitdem gestorben, wie viele mehr Menschen liegen unter der Erde als auf ihr zu laufen? Meine Finger krallen sich um das Handy.
„Aber“, sage ich, „ist es nicht schön, wenn Deine Familie und Freunde sich an Dich erinnern, wenn Du ihr Leben bereicherst, wenn sie sich ihr Leben ohne Dich nicht vorstellen können – Hey, Du bist doch wichtig für mich!“ Ich streichle einmal fest, beinahe scherzhaft über seinen Arm. „Reicht es Dir nicht, für diese Leute was zu bedeuten?“
„Ja ja. Aber ich will für alle was bedeuten“, knurrt er und drückt aufs Gas, fährt mit Vollkaracho auf einen ungeteerten Parkplatz an einem Teich. „Hier dran erinner ich mich noch!“, ruft er. „Lass uns hier mal aussteigen und rumlaufen!“ – und er hat sich schon abgeschnallt, die Türe schon aufgerissen. Er dreht sich noch einmal um: „Im Grunde habe ich Angst vor Bedeutungslosigkeit. Jaja.“ Er nickt, zufrieden mit der eigenen Antwort, die er für sich gefunden hat. „Angst vor einem bedeutungslosen Leben.“
Und raus springt er, weg ist er, läuft auf den Teich zu. Ich schnalle mich langsam ab.
Später, wir haben in einer kleinen Seitenstraße heimlich geparkt, sparen uns die Kosten für einen Campingplatz. Überall zirpen Grillen und es ist stockdunkel. Wir liegen sporadisch zugedeckt unter den Schlafsäcken, es ist zum Glück etwas abgekühlt. Ich sehe nicht einmal die eigene Hand vor Augen, hoffe, dass ich in der Nacht nicht aufs Klo muss.
Aufgeregt und entspannt zugleich, was für ein Erlebnis, hier zu liegen, am anderen Ende der Welt. Ich lüfte ein bisschen den Vorhang neben mir. Durch das Moskitonetz: der australische Himmel noch voll von den Sternen, die wir vorhin bestaunt haben.
Alex raschelt in seinem Schlafsack. „Ich glaube, Noa, ich hab echt einfach richtig Angst vor dem Tod“, sagt er plötzlich.
Ich öffne den Mund, weiß nicht, was sagen. „Aber … das brauchst Du doch nicht“, sage ich ganz platt und dumm.
„Ist aber so. Ich wünschte, es wär nicht so.“
Unser Atmen, ganz leise; Stille, Dunkelheit. „Darf ich Dich küssen?“, fragt er plötzlich. Und er weiß schon, ich sage nein, „Nein“, sage ich. Gegenseitiges Grenzenaustesten. Es ist nicht einmal aufregend. Es ist ganz selbstverständlich. Aber wir geben einander so viel preis. Ich ringe immer noch nach Worten, die ihm deutlich machen, dass ich das ernst nehme, was er sagt. Vielleicht müssten es mehr Fragen sein. Aber da streichelt er mir schon einmal kurz übers Haar, gähnt tief und dreht sich dann um, mit dem Rücken zu mir: „Morgen musst Du mal sagen, wovor Du Angst hast.“
„Ja“, nicke ich eifrig. Und ganz leise: „Danke.“
Eine Minute später ist er eingeschlafen.
ZARAH WEISS lebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien. Wiener Literatur Stipendiatin 2021. Exil-Literaturpreis 2021. Zuletzt erschien ihre Erzählung Die Kemenate (Czernin Verlag 2020).
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