Editorial 04/2021: Bildung – Eliten – Selektion  – VON ALESSANDRO BARBERI UND BIANCA BURGER

Dass unser Bildungssystem der Tendenz nach die Stärksten stärkt und die Schwächsten schwächt, ist ein mehrfach festgestellter Umstand, an dem dennoch nur sehr wenig geändert wurde. Nach wie vor entscheiden Bildungsabschlüsse – auch angesichts der oft diskutierten österreichischen „Titelwirtschaft“ – über den sozialen Weg eines Menschen und sind so auch Markierungspunkte für die (hierarchische) Position im sozialen Raum. Damit ist auch kursorisch darauf verwiesen, dass die Redaktion der ZUKUNFT sich mit dieser Ausgabe zu Bildung – Eliten – Selektion zu den Grunderkenntnissen der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus bekennt, dessen Einsichten in dieser Ausgabe an mehreren Stellen diskutiert werden.

So hält schon Florian Rainer einleitend fest, dass Bildung ein Begriff mit universaler Funktion ist, der den Menschen in all seinen Erfahrungen in der jeweils vorgefundenen Welt und Gesellschaft beschreibt. Dabei kann Bildung nicht frei von anderen gesellschaftlichen Praktiken gedacht werden, da selbst die Möglichkeit dieser Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen vererbt wird. Im Rekurs auf Bourdieu betont der Bildungswissenschafter deshalb, dass es nach wie vor Die feinen Unterschiede sind, die wir über Generationen hinweg weitergeben. Auch deshalb ist es nicht möglich, sich allein zu bilden, weshalb auch hier angesichts von Eliten und Selektion das politische Versprechen von gemeinsamer Gleichheit in Zeiten der Ungleichheit klar vor Augen steht. So verbinden wir mit Bildung zurecht die Hoffnung auf Veränderung ungleicher Lebensbedingungen. Bildung und Ungleichheit stellen mithin ein widersprüchliches Verhältnis dar, das Rainer hier deutlich herausarbeitet.

In diese Kerbe schlägt dann auch der Beitrag von Tiantian Tang, die eingehend erläutert, wie die soziale Ungleichheit des digital divide im Rahmen algorithmischer „Personalisierung“ verstanden werden kann. Ebenfalls im Rekurs auf Bourdieu verfolgt die Autorin dabei die brisante These des zero level divide, nach der auch die selektiven Unterschiede beim Umgang mit personalisierten digitalen Medien sich aus der Ausgangsdifferenz verschiedener sozialer Gruppen ergeben. Deshalb machen neue Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) auch neue Betrachtungsweisen und Forschungen notwendig, um Partizipation und Mitbestimmung unabhängig von Eliten und Selektion allererst zu ermöglichen. Zwischen der Vereinzelung der menschlichen Lebenswelten und den digitalen Standardisierungen können wir also nur demokratisch der Komplexität des Digitalen gerecht werden.

Das Schwerpunktthemareichert auch Erkan Osmanović an, indem er die Entstehung unseres hochgradig elitären Schulsystems historisch beschreibt und dabei Fehlentwicklungen thematisiert, die auch Eingang in die Literaturgeschichte – etwa bei Hermann Hesse oder Robert Musil – gefunden haben. Muss z. B. die Schule einzig und allein in Fächern wie Mathematik, Deutsch oder Geografie gedacht werden? Verlangt eine Welt voller Querverbindungen nicht auch, dass sich die Disziplinen im Lernstoff überschneiden? Da die Schule ursprünglich Beamt*innen für den Staatsdienst produzieren sollte, waren Individualität und Charakterbildung nicht vorgesehen – sie wurden gar verhindert. Dabei, so Osmanović, sollten Schulen doch inzwischen zu Orten des Entdeckens geworden sein, fristen aber oft genug ein Dasein als Tempel der Langeweile.

Jedes Bildungssystem steht auch in einem gesellschaftlich-staatlichen Kontext, weshalb der Beitrag von Ingrid Nowotny die Entwicklung des österreichischen Sozialstaats rekapituliert und so einen entscheidenden wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Hintergrund unseres Schwerpunktthemas vor Augen führt. Denn das Modell des österreichischen Sozialstaates ist in Krisenzeiten nach dem ersten Weltkrieg unter der Federführung der Sozialdemokratie entstanden, hat Diktatur und Wirtschaftsliberalismus überstanden und ist gerade jetzt bei der Bewältigung der Corona-Folgen unverzichtbar. Die Überlegungen von Nowotny rufen so den Stellenwert des Sozialstaates wieder ins Bewusstsein, ohne den auch ein wirklich gleiches und d. h. soziales und demokratisches Bildungssystem schlussendlich nicht gedacht oder realisiert werden kann.

In der Folge hebt Hemma Prainsack hervor, dass Bildung viele Definitionen hat und ein stark umkämpfter Begriff ist. Dabei reflektiert die Autorin im Rekurs auf Kant und Brecht mit thesenartig formulierten Denkangeboten diesen eminent wichtigen Terminus und seine Verwendung, um sich für einen zukunftsgewandten Bildungsbegriff einzusetzen. Denn es ist auch im Blick auf unser selektives Bildungssystem essenziell, Tatsachen zu hinterfragen sowie deren Gültigkeit in Frage zu stellen. Obwohl Wissen heute schon inflationär vorhanden ist, ist es gerade angesichts der Digitalisierung von größter Notwendigkeit, diesbezügliche Daten und Informationen vermittelbar aufzubereiten. Im Erkennen, dass jegliches Tun in der eigenen Verantwortung liegt und die Folge einer Besinnung ist, sieht Prainsack bereits ein mächtiges Instrument gegen jede Form von Unmündigkeit.

Auch kann die Redaktion der ZUKUNFT ihren Leser*innen wieder zwei Beiträge aus dem Bereich der Literatur präsentieren. Denn dass es auch in einem Kunststudium darum geht, den eigenen (künstlerischen) Ausdruck zu finden und zu schärfen, betonen Konrad Hempel und Claudia Lehmann. Sie plädieren daher in ihrem Beitrag zur HAMLETMASCHINE von Heiner Müller dafür, diesen Text im Studium unter verschiedenen Perspektiven sowie unter Berücksichtigung der eigenen Erfahrungen zu betrachten. Auch Verortungen in neuen Kontexten oder das Experimentieren mit neuen Formen können dabei zu künstlerischer Forschung werden. Dabei konstatieren die Autor*innen in den uns heute gegebenen Verhältnissen einen Mangel an Utopien oder Alternativen und zeigen, welche Möglichkeiten diverse Betrachtungsweisen dennoch liefern können.

Thomas Ballhausen spricht dann mit der Autorin und Literaturwissenschaftlerin Daniela Chana über Schreiben als Beruf und Alltag, die Unterschiede im Schreibprozess je nach Genre und warum der Autorin Unterhaltung und plastische Beschreibungen in ihren Texten besonders wichtig sind. Der Fokus liegt dabei auf ihrem neuen Prosa-Werk Neun seltsame Frauen, in dem die neun griechischen Musen als Ordnungsprinzip fungieren. Chana möchte dabei das Buch als eine Art Konzeptalbum verstanden wissen, in dem jede Geschichte für sich stehen kann. Liest man die Erzählungen jedoch insgesamt, ergibt sich ein eigener Handlungsstrang. Im Interview kommt zur Sprache, warum Chana Alltagssituationen faszinierender findet als Abenteuer. Zudem werden im Gespräch Themenbereiche wie das weibliche Schreiben erläutert und Textproben der Neuerscheinung unterstreichen die Gesprächsinhalte.

Insgesamt durchzieht mithin alle Beiträge der Gedanke, dass Bildung und ihre Kontexte gesamtgesellschaftlich reflektiert werden müssen. In einer elitären und selektiven Gesellschaft, die Gefahr läuft, immer nur die Stärksten zu stärken und die Schwächsten zu schwächen, wird die Beschäftigung mit Bildung einmal mehr zur politischen Aufgabe, die sich permanent und immer wieder neu stellt. Thomas Ballhausen und Bianca Burger greifen deshalb in ihrem Postskriptum mehrere Fäden unserer Schwerpunktausgabe auf, stellen sich aktuellen Herausforderungen des Bildungs- und Kulturbereichs und rufen zum ernstgemeinten Dialog auf. Es gilt, den grundsätzlich freien Zugang zu Bildung zu erhalten – die Zielsetzung soll dabei aber nicht nur die Ausbildung sein, sondern ebenso Bildung im übergeordneten Sinne. Eine Bildung also, die eine Gemeinschaft mündiger Bürger*innen anstrebt.

Darüber hinaus freut es die Redaktion der ZUKUNFT einen thematisch nicht gebundenen Beitrag von Friedrich Klocker publizieren zu dürfen, der den aktuellen Einsatz der Miliz im Rahmen der Covid-Pandemie verdeutlicht. Der Autor arbeitet dabei die strukturellen Defizite und Probleme des Bundesheeres heraus, die sich aus der Tatsache der Abschaffung der regelmäßigen Milizübungen ergeben haben und ergeben. Dabei erhebt sich grundsätzlich die Frage, ob diese Entscheidung des seinerzeitigen Ministers Platter im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen steht. Wenn also in der aktuellen Situation Verteidigungsministerin Tanner dieses Thema anspricht, so kann sie sich auf Modelle stützen, die seinerzeit, also vor Abschaffung der Milizübungen, vor allem mit Hilfe des Milizverbandes Österreich schon längst bestanden haben.

Einen herzlichen Dank wollen wir erneut Reinhard Sieder aussprechen, der von Scratched Lines bis Tabaco die Bildstrecke dieser Ausgabe mit wunderschönen Gemälden bereichert. Sein abschließender Artikel Die Refiguration des Abstrakten steht dabei in direkter Korrespondenz mit jener Bildstrecke und jenem Beitrag Sieders, die wir beide dankenswerter Weise schon in der Ausgabe 03/2021 publizieren durften. And for those who (wanna) know: Reinhard Sieder ist nicht nur ein äußerst sensibler Künstler, er ist darüber hinaus ein herausragender Kenner der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus, wodurch sich aus Sicht der Redaktion auch visuell die bildungssoziologischen Kreise schließen.

So bleibt uns zum Ende hin nur, erneut darauf zu verweisen, dass wir jüngst mit unserer Homepage www.diezukunft.at online gegangen sind und wir ab April 2021 am letzten Dienstag des Monats eine Online-Diskussion zum jeweiligen Schwerpunktthema organisieren. Die Ankündigung findet sich am Ende dieser Ausgabe …

Die Redaktion hofft, dass diese Ausgabe der ZUKUNFT zu Bildung – Eliten – Selektion ihren Leser*innen eine gute Stütze bietet, um in diesbezügliche Diskussionen einsteigen zu können und sendet ihren Leser*innen

herzliche und freundschaftliche Grüße!

ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/

BIANCA BURGER ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert. Die Historikerin und Kuratorin hat in ihrer Arbeit einen sexualgeschichtlichen Schwerpunkt, arbeitet aber auch zu regionalgeschichtlichen sowie interdisziplinären Themen.

Inhalt

6 Bildung und das Versprechen der Gleichheit
VON FLORIAN RAINER
8 Digital Divide
VON TIANTIAN TANG

12 Unterm Rad der Bildung
VON ERKAN OSMANOVIĆ
18 Sozialstaat – neu denken?
VON INGRID NOWOTNY

28 „Lerne einfach!“ Denkangebote zur Bildung
VON HEMMA PRAINSACK
30 „Mein Drama hat nicht stattgefunden“
VON KONRAD HEMPEL UND CLAUDIA LEHMANN
34 „Schreiben hat für mich mit dem Wunsch
nach Nähe zu tun“
von DANIELA CHANA UND THOMAS BALLHAUSEN
44 Coda. Ein Postskriptum
VON THOMAS BALLHAUSEN UND BIANCA BURGER
48 Zur Abschaffung der Milizübungen
VON FRIEDRICH KLOCKER

52 Die Refiguration des Abstrakten
VON REINHARD SIEDER