Kulturelle Emanzipation und Konstruktion von Identität. Ihre Einflüsse auf den hegemonialen Konsens – von Julian Kroyer

Mit seinem Beitrag macht Julian Kroyer deutlich, dass die heutige Regierungsmentalität des Neoliberalismus in direkter Kontinuität zu Kolonialismus und Imperialismus steht und damit nur als Endmäander der kapitalistischen Produktionsweise fassbar wird.

I. Einleitung

Der hier folgende Beitrag soll Möglichkeiten der kulturellen Emanzipation im Zeitalter des Neoliberalismus skizzieren und – mit Hilfe einer Analyse der Konstruktion von Identität – anhand eines Textes von Tsenay Serequeberhan Handlungsmöglichkeiten gegen das hegemoniale kapitalistische System aufweisen. Die Grundlage einer solchen Perspektive bietet uns Herbert Marcuse mit seinem Werk Der eindimensionale Mensch (1967), das gegenwärtig aktueller denn je erscheint. Denn nach wie vor geht es um die Entwicklung einer vermeintlichen Gleichstellung aller Individuen, die in ihren sozialen Mustern und im Verhältnis zu ihrer Umwelt allerdings häufig egoistisch und konsumorientiert agieren. Dabei kann festgehalten werden, dass die Globalisierung ein komplexer Prozess ist, der widersprüchliche Auswirkungen auf Kultur- und Machtverhältnisse hat.

II. Gramsci und die Kompromissfähigkeit der Herrschenden

Eine Möglichkeit, die Prozesse der Globalisierung zu verstehen, bietet sich mit Gramscis Konzept der Hegemonie, das den Zusammenhang beschreibt, nachdem die hegemoniale Klasse einer Gesellschaft durch einen Prozess der „intellektuellen und moralischen Führung“ versucht, die Zustimmung der subalternen (untergeordneten) Klasse zu gewinnen. Dabei ist die flächendeckende Indoktrination einer Kultur nach den Vorstellungen der Herrschenden nicht vollends möglich, da Kultur stets subjektiv aus materiellen und sozialen Erfahrungen innerhalb der subalternen Klasse produziert wird.

Unter diesen Voraussetzungen agiert Kultur mithin als dynamisches Konstrukt und äußert sich in den ständigen Abfolgen sozialer Praktiken (Sprache, Religion, soziale Gewohnheiten, Kunst, Kulinarik, Musik usw.), die uns auch als Individuum definieren und uns in einem gegebenen Lebenssinn bestätigen.[i] Der Widerstand der Zivilgesellschaft kann die hegemonialen Grenzen der herrschenden Klasse indes nicht sprengen, solange sie nicht auch in Besitz der hegemonialen Instrumente ist. So muss sich der Widerstand oft beugen und in „das System“ eingliedern, um einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen.[ii] Die Integration verkörpert damit einen reformistischen Mechanismus, der den gesamtgesellschaftlichen Konsens mit den in den Vordergrund gerückten Bedürfnissen der Zivilgesellschaft ergänzt. Diese Kompromissfähigkeit ist für die Herrschenden eine eminente Voraussetzung, da sie primär daran interessiert sind, einen gesellschaftlichen Konsens zu bewahren, der ihre Interessen wiederspiegelt. Denn die Überwindung dieser Klasseneinigung könnte das Übergewicht hegemonialer Einflussnahme zugunsten der subalternen Klasse bedeuten.

III. Kultur als Disziplinierungs-mechanismus

So versuchten etwa die Kolonialmächte (seit dem 19. Jahrhundert) z. B. durch das Aufzwingen ihrer jeweiligen Sprache Kontrolle über die indigene Bevölkerung zu erringen. Kultur fungierte in diesem Fall als Disziplinierungsmechanismus[iii] zur Reglementierung der indigenen Lebensweise nach Vorstellung der Autorität (also der kolonialen Invasoren). Aus der Perspektive der Kolonialmächte war es „nur“ die Einführung einer Sprache, für die indigene Bevölkerung war es jedoch eine neue Sprache, die von nun an als Handels- und Kommunikationssprache zu gelten hatte. Da Kultur aber kein statisches Konstrukt ist, welches über Individuen gestülpt werden kann, entwickelte sich aus dem Resultat des hegemonialen Kampfes eine neue Sprache. Das dominierende Element manifestierte sich in der kolonialen Sprache, während durch Betonungen, das Ausfallen von Wörtern und Wortneuschöpfung die koloniale Sprache indigen ergänzt wurde, wodurch es gelang durch Widerstand und kulturelle Emanzipation die vorherrschenden Verhältnisse zu adaptieren.[iv]


Map of Colonial Africa
(c) Wikimedia Commons (author: Zoozaz1)

IV. Tsenay Serequeberhan

Tsenay Serequeberhan präsentiert in seinem Text Philosophy and Post-colonial Africa. Historicity and Thought[v] eben diese Erkenntnisse und sieht die Lösung der Problemlagen zwischen kolonialem und indigenem Blick in der hermeneutischen Konstruktion einer neuen Identität, welche abseits der konsensualen Grenzen funktionieren und überleben muss. Er beschreibt eingangs die von Europa erschaffene Verdoppelung Afrikas in das in Afrika „Geschehene“ und das in Afrika zu „Unternehmende“. Dabei wurde, so der Autor, diese historische Kraftlosigkeit des kolonialen Blicks auf einen gesamten Kontinent projiziert. Eine Kraftlosigkeit, die durch eine nicht vorhandene Historizität des Neokolonialismus seitens der Europäer begründet sei.

Auch ist es eben diese Duplizität, welche mit der Inszenierung von technologischer und wissenschaftlicher Hilfe ein paternales Machtverhältnis konstruiert und in Afrika umsetzt und „realisiert“. So wird, wie Serequeberhan betont, den ehemaligen kolonialen Subjekten des imperialen Europas, insbesondere im Raum der Subsahara, durch politische, wirtschaftliche, kulturelle und historische Beherrschung, das technokratische Gestell der europäischen Moderne aufgezwungen. Damit soll ein Typ Mensch hergestellt werden, dem Arbeit zum wesentlichen Identitätsmerkmal und unverzichtbaren Dauerhabitus geworden ist. Neoliberale Grunddogmen wie Leistung und Selbstvermarktung haben sich also bereits hier in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens gedrängt, die Fähigkeit der Empathie und die Verbundenheit zu sozialen Interaktionen scheinen unbedeutender zu sein als einst, ein kolonialistischer Prozess, der in seiner Substanz eine kulturelle Enteignung zur Folge hatte.

Eine Möglichkeit sich aus dieser kulturellen Okkupation zu befreien sieht Serequeberhan in der Reinkarnation des subjektiven Seins an sich, die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der eigenen Identität, die in ihrer Beeinflussung äußere Umstände emanzipiert überleben kann. Er besteht darauf die kulturelle Befreiung in den Kontext einer afrikanischen Historizität zu setzen, um durch die Interpretation von Quellen der vor- und kolonialen Zeit sich das anzueignen, was in der Kontextualität der spezifischen Geschichte Afrikas möglich sei. Die Aufarbeitung und Reflexion der eigenen Geschichte innerhalb der vorherrschenden Verhältnisse steht im Mittelpunkt dieses Prozesses, sowie die Verarbeitung und Integration in kulturelle Abfolgen und Bedeutungen.

5. Harlem Renaissance

Diese Idee erinnert an die Vorstellungen der Harlem Renaissance (1920er), die sich primär durch die Begründung einer neuen unabhängigen Identität auszeichnete und deren Grundpfeiler auf der hermeneutischen Interpretation älterer afrikanischer Quellen (Texte, Bilder, Musik) in Kombination mit urbaner kultureller Emanzipation basierten.

ALAIN LOCKE THE NEW NEGRO Estford (USA): Martino Fine Books 506 Seiten | € 22,10 ISBN: 978-1614278023 Erscheinungstermin: März 2015

Es war dies der Versuch eine gegenhegemoniale Gesellschaftsform zu etablieren, die in ihrer Substanz stets den Anspruch der stetigen Weiterentwicklung des Individuums stellte. Alain Locke, der zu den berühmtesten Vertreter*innen der Harlem Renaissance zählt, legte in seinem Sammelband The New Negro: An Interpretation[vi] die Entwicklung des schwarzen Mekkas[vii]und literarische Beispiele einer emanzipierten Reflexion der eigenen Historie dar.

6. Conclusio

Die Absonderung des Individuums vom vorherrschenden System ist – gerade angesichts der neoliberalen Orientierung am Individuellen – physisch und psychisch nicht ohne weiteres möglich, da wir ökonomisch an eben dieses System gebunden sind. Dennoch haben wir die Möglichkeit, uns innerhalb dieser Umstände kulturell zu lösen und gegen die Hegemonie der herrschenden Klasse zu optieren und zu agieren. Mithilfe der Konstruktion einer neuen widerständigen Identität, muss die Kompromissfähigkeit an ihre demokratiepolitische Grenze, also an ihr Äußerstes getrieben werden, um durch die Bündelung von kulturellen Emanzipationen ein gesamtgesellschaftliches Umdenken zu bewirken. Diese Emanzipation und Identitätskonstitution kann sich auf die jahrhundertelang entwickelten Widerstandsformen gegen den Kolonialismus, Imperialismus, Kapitalismus und mithin auch Neoliberalismus stützen. Die Ausgestaltung einer solchen neuen Identität ist dabei nach wie vor abhängig von den Interessen der „organischen Intellektuellen“ der jeweiligen Klasse. Denn diese Kopfarbeiter*innen bilden die jeweilige Hegemonie und können sie in den zivilgesellschaftlichen Diskurs integrieren.

JULIAN J. ERNESTO KROYER ist Student am Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien und Angestellter.

[i] Fiske, John (2010): Understanding popular culture, London: Taylor & Francis Ltd.

[ii] Gramsci, Antonio (1999): Gefängnishefte, 10 Bände, Hamburg: Argument.

[iii] Weber, Max (2017): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Stuttgart: Reclam.

[iv] Storey, John (2015): Cultural theory and popular culture: An introduction, London: Taylor & Francis Ltd.

[v] Serequeberhan, Tsenay (1994): Philosophy and Post-colonial Africa. Historicity and Thought, in: Ders (Hg.): The Hermeneutics of African Philosophy. Horizon and Discourse. New York/London: Routledge, 13–30.

[vi] Locke, Alain (2015): The New Negro: An Interpretation, Connecticut: Martino Fine Books.

[vii] Locke, Alain (1980): Harlem: Mecca of the New Negro, Baltimore: Black Classic Press.