Seit drei Jahren bringt Angelika Striedinger Wissenschafter*innen mit Politiker*innen in den Dialog. Sechzehn dieser Gespräche wurden nun in einem Buch veröffentlicht. Sie bieten einen komprimierten Einblick in aktuelle Debatten, lebhaft und gut verständlich aufbereitet. In diesem Beitrag beschreibt Striedinger, warum konstruktiver Austausch auf Augenhöhe zwischen Wissenschaft und Politik so wichtig ist, und wie dieser Austausch dabei helfen kann, gegenseitiges Verständnis zu erzeugen und eigene Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.
I. Einleitung
Wir treffen uns im Sitzungssaal des Parlamentsklubs unter einem überdimensionalen Kreisky-Portrait. Oder im Büro des Professors, der Gewerkschafterin, der Stadträtin. Manchmal bei uns im Karl-Renner-Institut; oft auch online auf Zoom. Und einmal bei einer schattigen Bank im Volksgarten, nahe dem Deserteursdenkmal. Eine Person aus der Wissenschaft, eine Person aus der Politik, und ich als Moderatorin. Einleitend umreiße ich noch einmal den Zweck dieses Gesprächs: Wir wollen Wissenschafter*innen und Politiker*innen, die ähnliche Themenfelder bearbeiten, miteinander in Kontakt bringen – und zwar in qualitativ hochwertigen Kontakt, bei dem sie die Sichtweisen und Expertisen der anderen Person kennenlernen, und auf den sie bei Gelegenheit zurückgreifen werden. Wir wollen inhaltlichen Austausch anregen: Die Wissenschafterin soll erfahren, wie sich laufende politische Prozesse entwickeln; die Politikerin soll Einblick in neue Forschungsergebnisse bekommen.
Eine Überlegung dabei: Wissenschaftliches Wissen ist nicht nur hilfreich, um sachlich richtige politische Entscheidungen zu treffen, in dem Sinne dass diese Entscheidungen zu den gewünschten Effekten führen. Sondern wissenschaftliche Erkenntnisse geben oft auch Einblick in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat seine Wissenschaft daher als „Kampfsport“ bezeichnet.[1] Damit beschrieb er die Rolle, die die Sozialwissenschaften für die Politik haben sollen: Zu zeigen, wie Macht, Geld, Ansehen, Lebenschancen in der Gesellschaft verteilt sind; zu erklären, welche Mechanismen dahinterstecken – und durch diese Einsichten zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen.
II. Wie sehr soll Politik auf Wissenschaft hören?
Ein ähnlicher Anspruch treibt viele der Wissenschafter*innen an, die wir zu unseren Dialogen eingeladen haben. Entsprechend groß ist ihre Frustration darüber, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse und Einschätzungen von der Politik ignoriert werden, wie folgende Zitate aus den Gesprächen ausdrücken:
„Wenn man einen Report hat, in dem der Stand der österreichischen Klimawissenschaft zusammengefasst ist, dann ist das etwas, was man als Politik ernst nehmen sollte. Wenn das ignoriert wird, dann deswegen, weil man es nicht zur Kenntnis nehmen will.“ (BOKU-Professor Christoph Görg über den Klima- und Energieplan, im Gespräch mit Bürgermeister Rainer Handlfinger)
„Würde die Politik evidenzbasiert vorgehen und sich von sachgerechten Motiven leiten lassen, würde sie auf die Wissenschaft und Forschung hören: Die Ursache des Problems liegt oft in der patriarchalen Gesellschaftsstruktur und in überkommenen Männlichkeitsbildern.“ (Juristin Alexia Stuefer über Sexualverbrechen, im Gespräch mit der Nationalratsabgeordneten Selma Yildirim)
„Die Sprachwissenschaft rennt Sturm, wir schreiben lange, differenzierte wissenschaftliche Gutachten, es gibt eine Sitzung – und Bildungsminister Faßmann kommt in die Sitzung hinein und sagt: ‚Es gibt auch andere Experten. We agree to disagree.‘“ (Sprachwissenschafterin Ruth Wodak über Deutschförderklassen, im Gespräch mit der Nationalratsabgeordneten Sabine Schatz)
Diese Wortmeldungen, ebenso wie Bourdieus Kampfsport-Metapher, fokussieren auf eine Richtung im Austausch zwischen Wissenschaft und Politik, nämlich den Informationsfluss von Wissenschaft hin zu Politik. Dabei drängt sich die Frage auf: In welchem Ausmaß und bei welchen Angelegenheiten soll die Politik wissenschaftlichen Empfehlungen folgen? Einerseits wird von politischen Entscheidungsträger*innen erwartet, sich an den Einsichten von Expert*innen zu orientieren, statt an Machtkalkül und Bauchgefühl. Andererseits wird eine Expertokratie als undemokratisch abgelehnt; Interessens- und Zielkonflikte können oft nicht wissenschaftlich geklärt werden sondern brauchen politisches Ausverhandeln. Und aus der Wissenschafts- und Technikforschung wissen wir, dass auch die Herstellung wissenschaftlichen Wissens nicht rein objektiv erfolgt, sondern von gesellschaftlichen Glaubenssätzen und den sozialen Prozessen wissenschaftlichen (Zusammen-)Arbeitens geprägt ist.[2] Jedenfalls aber gilt die Vorstellung, dass es in Politik und Bevölkerung ein Wissensvakuum gebe, das die Wissenschaft einfach nur mit Fakten auffüllen müsse, mittlerweile als reichlich naiv.[3]
Wir betrachten daher die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik nicht als Einbahnstraße, sondern als Verhältnis des gegenseitigen Austausches. Unsere Aufgabe sehen wir hier in einer Übersetzungsarbeit in beide Richtungen. Wissenschaftliche Forschung kann an Relevanz gewinnen, wenn Wissenschafter*innen besseren Einblick in die Abwägungen, Herausforderungen und Wissensbedürfnisse von Politiker*innen gewinnen. Politisches Handeln kann zielgerichteter und wirkungsvoller werden, wenn es auf den Erkenntnissen wissenschaftlicher Analysen aufbaut.
III. Was in der persönlichen Begegnung passiert
Wenn in Kommentarspalten von Zeitungen und in populärwissenschaftlichen Artikeln das Verhältnis von Wissenschaft und Politik besprochen wird, so geschieht das häufig rund um Begriffe wie „Spannungsverhältnis“[4], „schwieriges Verhältnis“[5], „Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen“[6]. Wie unsere Gespräche aber zeigen, sind die Trennlinien zwischen Wissenschaft und Politik oft eher unscharf und die Gesprächspartner*innen haben durchaus einen gemeinsamen Bezugsrahmen. Manchmal ist rein aus dem Gesagten nicht erkennbar, wer spricht. Beispiele dafür sind das ping-pong-artige Nennen von Steuervermeidungspraxen im Gespräch zwischen dem Ökonomen Konstantin Wacker und der EU-Abgeordneten Evelyn Regner, oder auch die abwechselnden Beschreibungen des neuen Selbstbewusstseins von Migrant*innen durch Politikwissenschafter Vedran Džihić und SPÖ-Integrationssprecherin Nurten Yılmaz.
Politiker*innen arbeiten eben auch mit wissenschaftlichem Wissen. Sie holen Beratung und Expertise von Wissenschafter*innen ein, gewinnen einen guten Ein- und Überblick über den aktuellen Wissensstand in ihren jeweiligen Themenbereichen und werden schließlich selbst zu Expert*innen. Wissenschafter*innen wiederum sind eben auch politische Menschen. Sie verfolgen das politische Geschehen, denken über politische Strategien nach, sammeln Alltagseindrücke und interpretieren diese politisch.
Interessanterweise ist es bei vielen unserer Gespräche zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik so, dass die Wortmeldungen der Gesprächspartner*innen zu Beginn recht eindeutig ihren jeweiligen Rollen als Wissenschafter*innen oder Politiker*innen entsprechen. Erst im Gesprächsverlauf werden die Unterschiede undeutlicher, die Trennlinien unschärfer. Darin liegt ein Effekt der direkten Interaktion, des persönlichen Austauschs. Im Bemühen, Kommunikation zu ermöglichen, lassen sich die Gesprächspartner*innen aufeinander ein und greifen dabei auf ihre jeweils passenden eigenen Wissensvorräte zurück:[7] Wissenschafter*innen auf ihr politisches Wissen, Politiker*innen auf ihr wissenschaftliches Wissen, beide auf ihre Alltagserfahrungen. Die direkte Interaktion fördert dadurch das gegenseitige Verständnis von Menschen, die sich in den unterschiedlichen Welten von Wissenschaft bzw. Politik bewegen.
Darin liegt eine Absicht hinter der Gesprächsreihe: Wir schaffen damit Räume, in denen gegenseitiges Verständnis erzeugt und Übersetzungsarbeit geleistet werden kann, in denen Wissenschaft und Politik einander durch Einsichten bereichern können. Wissenschaftliches und politisches Wissen sehen wir dabei nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern als unterschiedliche, sich ergänzende Wissensformen. Unser Anliegen ist es, Gespräche und Begegnungsräume so zu gestalten, dass sie einen Austausch auf Augenhöhe fördern.
IV. Widersprüchliche Sachzwänge
Es geht uns allerdings nicht nur darum, das gegenseitige Verständnis zu verbessern. Sondern wir wollen auch die Momente der Innovation und Horizonterweiterung nutzen, die sich genau aus den Verschiedenheiten dieser Welten, und in deren Begegnung, ergeben.
Worin liegt diese Verschiedenheit? Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert das im Buch enthaltene Gespräch zu Klimapolitik zwischen Christoph Görg, Professor für Soziale Ökologie an der BOKU in Wien, und Rainer Handlfinger, Bürgermeister in Obergrafendorf (NÖ). Das Interessante daran: Beide formulieren Notwendigkeiten, die sie als logische Folge aus den gegebenen Sachzwängen ableiten – diese Sachzwänge und die daraus folgenden Notwendigkeiten sind allerdings unterschiedlich und teils widersprüchlich.
Der Wissenschafter sagt, dass gerechter Wohlstand nicht mehr durch Wirtschaftswachstum erreicht werden kann, und dass außerdem die Emissionen sinken müssten; es brauche daher tiefgreifenden Wandel: „Wir bräuchten ein viel höheres Wirtschaftswachstum um bestehende soziale Probleme lösen zu können, aber das erreichen wir nicht mehr. Es löst also nicht die Probleme, und manche sozialen Probleme verschärfen sich gerade durch diese Fixierung auf ökonomisches Wachstum. Davon müssen wir wegkommen. Es braucht einen strukturellen Wandel. Es reichen nicht nur einzelne Maßnahmen, einzelne technologische Innovationen, sondern wir brauchen eine Veränderung der gesamten Produktions- und Lebensweise.“
Der Politiker ist sich der klimapolitischen Notwendigkeiten durchaus bewusst, agiert aber innerhalb der Sachzwänge des politischen Alltags. Er steht als Bürgermeister im Wettbewerb mit anderen Gemeinden um die Bevölkerung, er muss lokale Arbeitsplätze schaffen und Steuereinnahmen generieren: „Was wir an Wohnraum schaffen müssen, damit wir die Bevölkerung halten können, ist Wahnsinn. Und da gibt es ganz einfach Zwänge im Wettbewerb mit anderen Gemeinden, die wir erledigen müssen, wo wir wissen, es ist nicht ökologisch, jede Siedlungsstraße ist das Gegenteil von ökologisch. Wir müssen natürlich im Wettbewerb mit den anderen Gemeinden versuchen, Schritt halten zu können.“ Und er muss wiedergewählt werden. „Das ist der Punkt: Schaffen wir mit dem technologischen Fortschritt eine ökologische Wende oder müssen wir mit Verzicht arbeiten? Da sage ich, ich hoffe sehr stark auf den technologischen Fortschritt.“
Die Sachzwänge und Selbstverständlichkeiten des Wissenschaftlers führen zu einer großen Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise, jene des Politikers zur Hoffnung auf technologischen Fortschritt um möglichst wenig an unserer Lebens- und Wirtschaftsweise ändern zu müssen.
V. Was in der Konfrontation unterschiedlicher Selbstverständlichkeiten passieren kann
Wenn widersprüchliche Selbstverständlichkeiten aufeinandertreffen, so kann dies zu gegenseitigem Unverständnis führen – ich kann nicht wirkungsvoll einordnen, wovon die andere Person spricht, und es hat für mich keine Bedeutung. Es kann aber auch Konflikte nach sich ziehen – wenn ich verstehe, was die andere Person meint, und diese Weltsicht explizit ablehne. Oder, und das wollen wir im besten Fall erreichen: Es kann bewirken, dass ich meine eigenen, als selbstverständlich angenommenen „Tatsachen“ hinterfrage.
Wenn wir Wissenschafter*innen und Politiker*innen miteinander ins Gespräch bringen, schaffen wir damit einen Rahmen, in dem unterschiedliche Logiken und Selbstverständlichkeiten aufeinandertreffen. Wenn sich die beiden Gesprächspartner*innen aufeinander einlassen, kann das wiederum dazu führen, dass sie ihre eigenen Logiken, ihre eigenen Selbstverständlichkeiten, Sinn- und Legitimitätsquellen infrage stellen. Genau durch solche Momente werden Horizonte erweitert und Neues wird denkbar.
ANGELIKA STRIEDINGER leitet den Bereich „Wissenschaft und Politik“ im Karl-Renner-Institut. Die inhaltliche Expertise der promovierten Soziologin liegt bei sozialer Ungleichheit, Geschlechterverhältnissen, Wissenschaftspolitik und Organisationsentwicklung. Zuvor war sie in der Österreichischen Hochschüler*innenschaft und in der Internationalen Bildungsgewerkschaft tätig.
[1] Carles, Pierre (2009): Pierre Bourdieu: Soziologie ist ein Kampfsport (Dokumentarfilm), Berlin: Suhrkamp, online (bestellen) unter: https://www.absolutmedien.de/film/883/Pierre+Bourdieu%3A+Soziologie+ist+ein+Kampfsport (letzter Zugriff: 27.10.2022).
[2] Zusammenfassend siehe Felt, Ulrike/Nowotny, Helga /Taschwer, Klaus (1995): Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York: Campus.
[3] Nowotny, Helga (2021): Wege aus der Pandemie: zur Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft, Policy Brief, online unter: http://www.helga-nowotny.eu/downloads/helga_nowotny_b359.pdf (letzter Zugriff: 27.10.2022).
[4] Demokratie21 (2020): „Expert*innen Rundruf – Wie wenig Wissenschaft braucht die Politik als Entscheidungsgrundlage?“, #2, Juni 2020, online unter: https://demokratie21.at/expertinnen-rundruf/ (letzter Zugriff: 27.10.2022).
[5] Androsch, Hannes (2020): „Wissenschaft und Politik – ein schwieriges Verhältnis“, Gastkommentar APA Science, online unter: https://science.apa.at/power-search/308263508015001606610.06.2020, (letzter Zugriff: 27.10.2022).
[6] Mayntz, Renate (1996): „Politik und Wissenschaft – ein Spannungsverhältnis, in: Spektrum der Wissenschaft 5/96: 34, online unter: https://www.spektrum.de/magazin/politik-und-wissenschaft-ein-spannungsverhaeltnis/823031 (letzter Zugriff: 27.10.2022).
[7] Für entsprechende Beiträge aus der Sozialpsychologie siehe Blumer, Herbert (1969): Symbolic Interactionism. Perspective and Method. New Jersey: Prentice Hall.
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