Vernunft, Freiheit und Universalismus – Kants Grundlegung der Aufklärung und der Menschenrechte – VON WOLFGANG WEIN

Zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit unternimmt es WOLFGANG WEIN, grundlegende Begriffe der Aufklärung in ihrer dringlichen Aktualität zu diskutieren. Dabei wird im Blick auf Vernunft, Freiheit und Universalismus nicht nur deutlich, wie stark wir nach wie vor von der Aufklärung getragen werden, sondern auch, was angesichts der gegenwärtigen Diskussionen der politischen Philosophie als heutige Aufklärung begriffen werden muss.

I. Einleitung

Die Medien westlicher Demokratien sind übersät von Begriffen wie Gleichberechtigung, Freiheit oder Emanzipation und berufen sich in Debatten häufig auf „die Menschenrechte“, aber kaum jemand kennt noch die ursprünglichen Begründungen und Argumentationsketten der Grundlagen, auf welchen die vorgebrachten Begriffe ruhen. Ziel meines Essays ist es daher, die geistigen Bausteine dieser essenziellen Konzeptionen in lesbarer Form darzustellen und dabei auch auf ihre Entstehungsgeschichte einzugehen. Denn es ist viel einfacher diese Grundpfeiler der Aufklärung zu verteidigen, wenn man versteht, worauf deren Geltung beruht. Ich werde hierbei auch zu zeigen versuchen, dass die Anordnung der drei Begriffe im Titel der Arbeit – Vernunft, Freiheit und Universalismus – nicht zufällig ist, sondern dass Kants Philosophie der Vernunft ein architektonisch perfekt durchdachtes Gebäude ist, wo Stockwerk für Stockwerk auf einem soliden Fundament errichtet ist und eine Konzeption durchgängig logisch mit der nächsten verknüpft ist. Daraus lassen sich Ketten logischer Urteile und Argumente formen, welche nicht wie die heute üblichen Narrative (von lat. narrare = erzählen) und Framings künstlich zurechtgemachte Erzählungen sind, wo aus Logos wieder Mythos wird, kurzfristig wirksame Erzählungen, welche einer ideologischen Zweckrationalität instrumentell dienen.

II. Von der Vernunft

Man muss mit der Vernunft beginnen. Denn wir werden sehen, dass ohne ein adäquates Verständnis des menschlichen Verstandes- und Vernunftvermögens eine logische Fundierung von Freiheit und Universalismus gar nicht möglich ist. Eine Verfassung der Freiheit und des Universalismus kann durch Gefühle, Instinkte, Triebe, Glaube oder Traditionen nicht begründet werden, sie kann nur auf allgemeingültigen, vernünftig einsehbaren Argumenten ruhen. Aus diesem Grund haben die Feinde der Aufklärung mit feinem Gespür immer zunächst versucht die Philosophien der Vernunft zu verfolgen, zu beschädigen oder zumindest zu unterminieren. Descartes Werke wurden 1663 von der Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, ebenso Kants Kritik der reinen Vernunft 1827. Während der Nazi-Herrschaft wurden etwa bei Heidegger beide Denker verabscheut.[1] Nietzsche ist der konsequenteste und deklarierteste Antipode der Vernunftphilosophie und war deshalb der Lieblingsphilosoph Hitlers und der nationalsozialistischen Philosophie insgesamt. Die Postmoderne übernahm freudig die von Heidegger fundamental zugespitzte Feindschaft Nietzsches gegenüber der Vernunft. So meinte beispielsweise Michel Foucault 1977 provokant: „La torture, c’est la raison!“. Die Konsequenz dieses Ansatzes verdeutlicht sich in Nietzsches berühmtem „Kerbholzwort“: „Nichts ist wahr – alles ist erlaubt“[2]. Ich möchte hier kurz ein weiteres Zitat Nietzsches anführen, weil dies am besten illustriert, wie eine Denkwelt ohne Vernunft, nur aus Gewalt, Trieb und Rasse aussieht: Für Nietzsche sind in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) die Guten die Herrenmenschen,

„nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von sozialem Zwang, (…) sie treten in die Unschuld des Raubtiergewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermute und seelischem Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei (…). Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen.“[3]

Seitenweise Zitate zu „Rasse“ oder „Züchtung“ möchte ich den Leser*innen ersparen, aber noch ein Beispiel geben:

„Daß Deutschland reichlich genug Juden hat, daß der deutsche Magen, das deutsche Blut Not hat (und noch auf lange Not haben wird), um auch nur mit diesem Quantum »Jude« fertig zu werden … Keine neuen Juden mehr hineinlassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Österreich) zu die Tore zusperren!“[4]

Hieraus ersieht man in sehr plastischer Weise, was Destruktion der Vernunft bedeutet: wenn nichts objektiv bestimmbar ist und – wie Nietzsche es nennt – nur das „Urteil des Gaumens“ und die Stimme des Blutes oder Macht des Stärkeren, Grausameren gilt, also tierische Impulse der Herrenmenschen, dann kann auch nichts wahr sein, weil der „Intellekt“ für Nietzsche nur ein verächtliches Instrument in den Diensten der Macht ist. Regeln der Vernunft werden als ein typischer Versuch der Schwachen, der Herdenmenschen gewertet, ihre Schwäche zu bemänteln. Und wenn es keine festlegbaren, argumentativ einsehbaren Regeln gibt, dann ist folglich alles erlaubt, es gilt das Faustrecht und man kann Staaten einfach mit Gewalt annektieren. Die rastlose Arbeit der Vernunftdestruktion der letzten vierzig Jahre in postmodernen und woken Elfenbeintürmen im Verein mit den technischen Möglichkeiten von Fake News und Deep Fakes zeigt, dass der derzeitige Zustand der Welt, anhand des Kerbholzworts Nietzsches, plötzlich völlig verständlich wird. Genauso sieht eine Welt aus, in der die vernünftige Weltsicht zu weiten Teilen zerstört wurde und folglich Faustrecht, Terror und Krieg herrschen, weil niemand mehr „zur Vernunft kommen“ kann.

III. Descartes und der Dualismus

Aus diesem Grund ist die Verteidigung der Vernunft seit jeher die erste Priorität der Aufklärung. Der eigentliche Begründer des modernen Denkens und des westlichen Erfolgsmodells war René Descartes, weshalb er in der Philosophie der Gegenwart eifrig gemobbt wird. Er hatte drei grundlegende Einsichten, welche im Wesentlichen von Kant übernommen wurden. Erstens erkannte er beim Nachdenken über geometrische Probleme in seinen grundlegenden Regulae ad directionem ingenii[5], dass wir mittels unseres Verstandes objektiv richtige Lösungen finden können, welche nicht erlernt sind, sondern aus uns selbst, aus dem uns angeborenen Verstand stammen müssen. Diese und mathematische Berechnungen lassen sich gleichzeitig auf physikalische, astronomische Probleme und alle wissenschaftlichen Bereiche erfolgreich anwenden. In seinem Discours de la methode[6] führte Descartes dann aus, dass wissenschaftlicher Erfolg durch ein exaktes methodisches Vorgehen gesichert werden muss. Zweitens entdeckte Descartes, dass wir nie von unserem Denken getrennt werden können, sodass selbst dann, wenn wir an unserer Existenz zweifeln, dieser Zweifel nicht ohne Denken und dem Bewusstsein, dass Ich es bin, der zweifelt, möglich ist.

Das bedeutet, dass wir denkend immer im Denken sind und dieses Denken entlang logisch strukturierter Wege sich bewegt, wenn wir urteilen, selbst dann, wenn unsere Gefühle und Impulse gleichzeitig irrational sein mögen. Dies war eine der grundlegenden Erkenntnisse, um die Vernunftfähigkeit aller Individuen für die Aufklärung zu sichern. Drittens – und das war die für unser Thema vielleicht wichtigste Einsicht, erkannte er, dass der menschliche Geist in seiner Spontaneität, Kreativität, in seiner Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und Vorstellungskraft vom materiellen Leib und der materiellen Welt „gänzlich verschieden“ [7] ist. Der Geist kann natürlich ohne das Gehirn und dessen physiologischen Vorgänge nicht existieren (Descartes führte zahllose Sektionen von Augen und Gehirnen durch und wusste das),[8] er ist aber dennoch nicht eins-zu-eins auf physikalische Vorgänge reduzierbar. Die Gedanken des Individuums sind, wie es so schön heißt – frei! Diese grundlegende Konzeption wird als Dualismus bezeichnet und ist dem heutigen Mainstream monistischer Doktrinen ein Dorn im Auge.

Denn es gibt zwei Entitäten, die materielle Welt, welche wir mittels unseres Geistes aufschlüsseln müssen, um deren Gesetze zur Geltung zu bringen und es gibt den Geist, mit seinen tausend Gedanken und Überlegungen, welcher nicht auf physikalische Kausalketten rückführbar ist. Kant hat auf diese Überlegungen aufgebaut. Jeder Mensch ist befähigt, spontan Entscheidungen zu treffen, Ansichten zu revidieren, von einem Schwerverbrecher zu einem wohltätigen Menschen zu werden. Auf dieser spontanen Fähigkeit zu entscheiden, unserem freien Willen, beruht der Begriff der menschlichen Würde, durch die kantische Einsicht nämlich, dass jeder Mensch immer als (sich selbst Ziele setzender) Zweck und nie nur als Mittel gesehen werden darf (z. B. als „Menschenmaterial“). Daraus lässt sich auch die Ablehnung der Todesstrafe ableiten. Die Würde jedes Menschen beruht auf seiner Fähigkeit sich zu jedem Zeitpunkt anders entscheiden zu können, während materielle Prozesse immer nach physikalischen Gesetzen in gleichförmigen Kausalketten ablaufen.

IV. Von der Freiheit

Man hat immer wieder Einwände gegen den Dualismus vorgebracht, wie es denn sein könne, dass der Geist unabhängig vom materiellen Körper agieren kann etc. Aus diesem Grund möchte ich zur Illustration ein kurzes Beispiel anführen. Wenn man mit dem Finger auf die Schulter eines Menschen drückt, so folgt die physiologische Kausalkette unbestritten einem kausalen Ablauf von der Stimulation der Rezeptoren in der Haut, der Weiterleitung entlang der afferenten Nervenbahnen, bis zu den entsprechenden Gehirnzentren. Doch derselbe physiologische Reiz des Fingerdrucks erzeugt im Geist des Menschen, in einer zweiten und „gänzlich verschiedenen“ (Descartes) Reaktionskette, nicht immer denselben Output, wie etwa bei einem Taschenrechner, denn der Druck des Fingers kann als Gruß, Warnung, sexuelle Belästigung, Signal, Witz, Ausdruck von Macht und vieles andere mehr verstanden werden.

Die Reaktion des Geistes darauf, eine Handbewegung, ein Nicken, eine Ohrfeige (ganz zu schweigen von den begleitenden Gefühlen und subjektiven Gedanken), ist erneut nicht physikalistisch oder mechanisch vorherzusehen. Es ist die Form einer kausalen Abfolge gewahrt, sie trägt aber nicht den simplen Charakter eines Stimulus-Response-Modells, von welchem der Materialist unbewusst ausgeht! Genau weil er nur aus diesem Modell heraus denkt, unterschätzt er die Dynamik und die Freiheit des Geistes. Freiheit ist für materialistische Lehren eine unheimliche und verschwommene Entität, weil sie sich dem Basis-Überbau-Mechanismus fundamental entzieht. Kreatives, spontanes menschliches Denken maschinenartig machen zu wollen, ist eine Obsession von Materialismus und Behaviorismus, aber dies unterschätzt eben das freie „Eigenleben“ des Geistes, auf der die Freiheitskonzeption des Menschen beruht.

Diese bahnbrechenden Erkenntnisse Descartes’ hat Kant in wesentlichen Zügen übernommen, auch wenn er sich an einigen Stellen von ihm kritisch abgrenzt. Kant geht so wie Descartes vom „Faktum der Wissenschaft“ (Hermann Cohen) aus, also dass der forschende Geist gesichertes Wissen methodisch schaffen kann und formuliert daraus die Frage, wie „synthetische Urteile a priori“ möglich sind. Seine Strategie ist dabei folgende: all unser begriffliches Denken vollzieht sich in Begriffen, Urteilen und Schlüssen. Wir haben in unserem Bewusstsein Vorstellungen, deren Quelle Sinneseindrücke bzw. Anschauungen sind, denn unser Gehirn in seiner knöchernen Kapsel, kann ja die Dinge um uns herum nicht angreifen. Diese Vorstellungen werden aber durch die raum-zeitliche Formierung unserer Wahrnehmung gestaltet, deshalb sind sie für uns kein impressionistischer Wirrwarr. Folglich stehen uns zum Erkennen diese strukturierten Vorstellungen zur Verfügung, plus denjenigen, welche aus unserem Inneren kommen. Urteile bringen nun unsere Vorstellungen in logische Formen, indem den Subjekten Prädikate, bzw. den Gegenständen Merkmale zugeordnet werden (Der Stein ist warm).

Das Formieren der Vorstellungen mittels der Urteile, macht die Welt wahrheitsfähig, denn die Behauptungen sind nun objektiviert und können empirisch überprüft werden (durch das Licht der Sonne wird der Stein warm). Kant hat nun in mühseliger Denkarbeit jene Denkfunktion herausgefiltert – er nennt sie Kategorien -, mittels welcher wir die Vorstellungen von den Gegenständen so „zusammendenken“, also synthetisieren, dass neue Erkenntnis möglich wird. Diese Kategorien sind unsere Funktionen zu denken, welche in unserem Bewusstsein immer schon vorhanden sein müssen und ohne welche wir nur einen ungeordneten Strom von Vorstellungen hätten. Wir haben dergestalt „a priori“, also vor jeder Erfahrung schon Denkfunktionen, welche die eintreffenden Vorstellungen systematisch ordnen, also synthetisieren und dabei neue, notwendige und allgemeine Erkenntnisse gewinnen. Bei Descartes sind diese einfachsten Denkschritte, die einfachen Naturen, potenziell (!) angeboren, Kant hält sich hier bedeckt und geht nur davon aus, dass diese Kategorien zwar a priori vorhanden sein müssen, aber logisch aus unseren Urteilsformen erschlossen sind.

Man kann sich das so vorstellen wie bei einem Computer: damit überhaupt einströmende Daten verarbeitet werden können, müssen zuvor ein Betriebssystem und Programme „a priori“ installiert sein, sonst wäre es ja nur ein Datenspeicher und könnte nicht z. B. logische Schachprobleme lösen. Das ist mit synthetische Urteile a priori gemeint, denn wenn wir Dinge nur analysieren, dann zergliedern wir gespeicherte Daten, aber es entsteht keine neue Erkenntnis. Neue Erkenntnis gewinnt man nur durch synthetische Urteile, sie bereichern unser Wissen. Diese synthetischen Urteile a priori führen dann aber, und das ist jetzt für unser Thema der Springpunkt, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit mit sich. Und es ist genau diese Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, mittels logischer Kategorien und Urteilen, welche die Basis für die Entwicklung des kantischen Vernunftbegriffs und dann normativer Gesetze der Moral sowie auch der Konzeption der Freiheit legen und von da die Menschenrechte sichern.

Indem wir selbstgesetzten, vernünftig einsehbaren Prinzipien folgen, handeln wir autonom und frei und damit immer innerhalb eines vernünftigen Rahmens. Während die Abläufe in der Natur in Gestalt kausaler Ketten gleichförmig ablaufen, kann der Mensch durch seine freie Willensentscheidung den Lauf der Ereignisse jederzeit verändern. Deshalb ist der Mensch nach Kant ein heteronomes Wesen: wo es Natur ist, folgt es den Gesetzen der Natur, als Intelligenz aber kann es selbst entscheiden. Im Grunde ist dies die Figur des Dualismus, wie schon oben beschrieben. Da aber diese Willensfreiheit der Entscheidung auf unserer Vernunft basiert, so wird der Mensch frei geboren, er kann logisch denken und entscheiden, man kann ihm diese Fähigkeiten weder absprechen noch wegnehmen, es ist Teil seines Menschseins, man kann sie nur unterdrücken oder manipulieren.

V. Kant und die Menschenrechte

Über der Struktur des Verstandes erkennt Kant jene der Vernunftideen. Die Ideenlehre wurde durch Platon begründet und ist die eigentliche Basis des einmaligen Erfolges des okzidentalen Denkens. Denn wie Max Weber feststellte, ist nur hier in Europa ein logisch-beweisendes, empirisch-wissenschaftliches Denken entstanden,[9] welches zur Entwicklung von Wissenschaft, säkularer Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz und Freiheit seiner Bürger*innen führte. Auch wenn man heute absichtlich bestimmte Fehlentwicklungen Europas über die Jahrhunderte besonders betont und aus dem historischen Zusammenhang reißt, um den Westen zu destabilisieren, so ist auch die Abschaffung und Bekämpfung der Sklaverei, die Abschaffung von Monarchien und Diktaturen und die Verkündung der universellen Menschenrechte nur hier und nirgendwo anders initiiert worden. Die Idee ist das geistige Modell, welches in der Realität nicht auffindbar ist, welches aber wie ein Kompass durch das Dickicht falscher und verführerischer Gedanken führt.

Ideen sind nur regulativ, das heißt sie gehen nicht direkt auf die Erkenntnis der Dinge, sondern weisen dem Verstand die Richtung. Man könnte sie als „Gesichtspunkte“ oder Perspektiven bezeichnen. Man wird nie in der Realität einen perfekten Kreis antreffen, weil immer etwas daran verwackelt oder unperfekt ist, aber ohne die Idee oder mathematisch ausgedrückt, die Definition des Kreises, könnte man z. B. keinen Motor konstruieren. Die Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Chancengleichheit, ja das Gesetz selbst basiert auf Ideen, welche Geltung haben, sie sind nicht, aber sie gelten, wie Hermann Lotze dies in seiner berühmten Logik stringent ausdrückte.[10] Für Kant sind die Ideen der Leitfaden seiner Morallehre. Der kategorische Imperativ sagt jedem vernunftbegabten Wesen, was sein sollte, wenn die Richtlinie des eigenen Verhaltens zu einem allgemeinen Gesetz erhoben würde – er ist der moralische Kompass. Hermann Cohen drückt das so aus: „Das Sollen ist eine Vorschrift, eine Nötigung des Wollens. Die Ethik handelt sonach vom Wollen.“[11]

Wenn man in ein Flugzeug steigt, kann im Prinzip jeder Mensch für sich wissen (zusätzlich zu den Regeln der Fluglinie), was die allgemeinen Verhaltensregeln vieler Menschen in einem beengten Raum und unter gewissen Risken sein sollten und sich daran halten, obwohl er sich vielleicht anders verhalten würde wollen. Wenn man sein Gepäck am Gang stehen lässt und dies nun jeder Passagier tun würde, als allgemeine Regel, kann sich niemand mehr bewegen, man selbst aber auch nicht mehr, es kann daher nicht richtig sein. Die deutsche Floskel: „stellen Sie sich vor, wenn das jeder machen würde…“, folgt diesem Gedanken. Damit ist die Bedeutung der Vernunft für die Entwicklung der aufklärerischen Ideen und der Freiheitsbewegungen deutlich geworden. Oliver Sensen fasst dies so zusammen:

„Kant’s morality is all about freedom. It is grounded in freedom, and requires the protection of freedom. One should treat free beings as if they are free. (…) Different accounts of the good life are permitted, as long as one’s freedom can coexist with everyone’s freedom in accordance with a universal law.“[12]

Wie kam es nun zur Deklaration der Menschenrechte? Nach der französischen Revolution von 1789 kam es im Sommer dieses Jahres im französischen Nationalkonvent zu einer umfassenden Debatte über die bürgerlichen Rechte und Freiheiten. In diese waren wichtige Gedanken der großen französischen Denker, wie Montesquieu, Rousseau, der Enzyklopädisten Diderot, Helvetius, d’Alembert, der englischen Tradition von Hobbes, Locke, Hume, sowie der Virginia Declaration of Human Rights, George Masons und natürlich der United States Declaration of Independence von 1776 eingeflossen. Generell spielten auch viele Elemente des Naturrechts eine Rolle.[13] Während es zunächst nur um die Bürger Frankreichs ging, und die Unterschiede zur Verfassung und der Situation in Amerika diskutiert wurden, kam in der Debatte der Gedanke auf „für alle Zeiten und alle Völker zu sprechen“.[14] Der Beitrag Immanuel Kants für die universalistische Fassung der Menschenrechte kann dabei nicht überschätzt werden, denn insgesamt war der gesamte ideelle Rahmen für die Argumentation und Definition der Menschenrechte in Kants Schriften bereits vollständig dargelegt worden. Erwähnt seien die berühmtesten, wie Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), die Kritik der praktischen Vernunft (1788), sowie später Zum ewigen Frieden (1795) und Die Metaphysik der Sitten (1797).[15]

Kant stand generell eine Welt gleichberechtigter, freier Individuen vor Augen, in vernünftig geordneten Staaten, die ihrerseits wieder in einem friedlichen Austausch miteinander leben sollten und nicht widervernünftig gegen die Interessen der Menschen handeln, also Raubkriege führen. Betrachtet man jeden Menschen jederzeit als einen Zweck, so dürfen auch Staaten die Menschen niemals nur als Mittel betrachten („Menschenmaterial“). Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung des Staates ist bei Kant allerdings die Idee der Pflicht. Genau hier beginnt unsere Gesellschaft gegenwärtig aus dem Ruder zu laufen, weil nur noch über die Rechte der Bürger*innen gesprochen wird, aber kaum noch über deren Pflichten. Aus dieser Asymmetrie entsteht eine Schieflage bei vielen Sachfragen, welche Kant rigoros kritisieren würde. Du möchtest im Falle eines Angriffs verteidigt werden, dann musst Du aber auch etwas zur Verteidigung deines Landes beitragen! Bei allen Überlegungen über die Rechte der freien Bürger geht bei Kant stets der Begriff der Pflicht voran, das darf nie übersehen werden. Kant wird in diesem Zusammenhang ein gewisser Rigorismus vorgeworfen, welcher aber bei näherer Betrachtung entschärft werden kann.[16]

VI. Vom Universalismus

Der entscheidende Schritt und das entscheidende Konzept hinter den allgemeinen Menschenrechten ist nun der Universalismus. Er impliziert, wie Sybille Tönnies sehr klar ausführte, dass der Begriff vom Menschen ein abstrakter ist:

„Der abstrakte Mensch, der weder Mann noch Frau, weder weiß noch schwarz, weder Unternehmer noch Arbeiter ist, sondern ein eigenschaftsloses Gedankengebilde, ist ein Ergebnis des gesellschaftlichen Fortschritts. Er wurde erstritten von denen, die für einen Staat gekämpft haben, der sich nicht identifiziert, der nicht nach bestimmten Merkmalen diskriminiert.“[17]

Dieser über Jahrhunderte errungene Fortschritt wird heute massiv attackiert von den aus der Postmoderne gewucherten Strömungen der Identitätsideologie. Diese werfen dem Universalismus Hohlheit und westliche Überlegenheitsattitüde vor und betonen plakativ die Differenz ihrer jeweiligen Kultur, ihrer (fundamentalistischen) Religion, ihrer Ethnie, ihres Geschlechts, ihrer Herkunftsländer oder anderer Merkmale, mit denen sie sich „identifizieren“. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass ein Überhandnehmen solcher Identitätsideologien zu einer massiven Spaltung der Gesellschaft führen wird, zu gewaltsamen Zusammenstößen und letztlich zum Bürgerkrieg, wie es ja schon Thomas Hobbes im Bild des „Krieges aller gegen alle“ im 17. Jahrhundert beschrieben hat. Manche mögen auch ein Interesse an diesen Entwicklungen haben und sie subtil schüren. Der über Jahrhunderte errungene Fortschritt der Menschheit steht dabei auf dem Spiel, denn sobald man wieder beginnt rassische Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht oder fundamentalistische Religion als Identifikationspunkt der jeweiligen Ideologie hervorzukehren, tritt eine Differenz zu anderen Rassen und Religionen ins Bewusstsein und der errungene Fortschritt, eben von all diesen Unterschieden abzusehen und den Menschen als freien, zwecksetzenden, abstrakten zu respektieren – unabhängig (!) von all diesen jeweiligen Merkmalen, geht verloren.

Karl Kraus hat einmal in einem seiner gefürchteten Bonmots polemisch über die Psychoanalyse, welche er ablehnte, sinngemäß gesagt: die Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält. Ähnliches lässt sich im übertragenen Sinn über die sogenannte Critical Race Theory (CRT) sagen, denn sie bewirkt, dass man plötzlich wieder über rassische Merkmale spricht oder diskutiert, wo dies bereits komplett überwunden war. Plötzlich kreisen die Gedanken wieder um „Rasse“, Geschlecht oder Ethnie wie zuvor bei Nietzsche. Wenn es aber hart auf hart geht, stellen sich allerdings alle gerne in jenen Ländern unter, welche am Universalismus der Menschenrechte festhalten und alle, nämlich alle, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Ethnie, ihres sozialen Status und sonstiger Merkmale aufnehmen und gut versorgen.

VII. Conclusio

Ich hoffe in dieser kurzen Skizze gezeigt zu haben, dass eine friedliche, gerechte, freie und humane, kurz eine aufgeklärte Gesellschaft nur dann Bestand haben kann, wenn sie die Vernunft zu ihrer Grundlage und ihrem geistigen Medium macht, welche bei allen Kritikpunkten, Modifikationen und Erweiterungen wohl am klarsten und ausführlichsten von Immanuel Kant dargelegt worden ist. Ausgehend von Kant haben prominente Denker des Neukantianismus versucht, dessen Morallehre zu modernisieren und in Philosophie, Rechtslehre und Soziologie einzuarbeiten. Hier wären vor allem zu nennen Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Wilhelm Windelband, Hans Kelsen und Max Weber. Auch die von Habermas entwickelte Theorie des kommunikativen Handelns basiert im Wesentlichen auf den Grundgedanken Immanuel Kants.

Es wurde des Weiteren erläutert, dass die Freiheit des Menschen nur aus der Spontaneität des selbstbewussten und zwecksetzenden Denkens heraus zu definieren und abzusichern ist und niemals aus naturalistischen Gegebenheiten wie dies durch den dualistischen Ansatz von Descartes und Kant ausreichend dargelegt wurde. Zuletzt haben wir gesehen, dass die Entdeckung des abstrakten Universalismus durch die gemeinsame Arbeit der aufklärerischen Denker*innen gelang und dies wiederum die Basis war, die Menschenrechte „für alle Zeiten und alle Völker“ zu formulieren. Diese epochale ideelle Leistung geschah im Europa des 18. Jahrhunderts und hat das Leben aller Menschen auf der Erde verändert und verbessert, worauf man stolz sein kann.

Literatur

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Kellerer, Sidonie (2013): Zerrissene Moderne. Descartes bei den Neukantianern, Husserl und Heidegger, Konstanz: Konstanz University Press, online unter: http://tinyurl.com/2ba38p8e (letzter Zugriff: 10.02.2024).

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Nietzsche, Friedrich (1984): Jenseits von Gut und Böse, Frankfurt am Main: Insel.

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Tönnies, Sybille (1995): Der westliche Universalismus – Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen: Westdeutscher Verlag.

Weber, Max (1986): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck.


[1] Böhm, Franz (1938): Anti-Cartesianismus: Deutsche Philosophie im Widerstand, Leipzig: Meiner; Kellerer, Sidonie (2013): Zerrissene Moderne. Descartes bei den Neukantianern, Husserl und Heidegger, Konstanz: Konstanz University Press, online unter: http://tinyurl.com/2ba38p8e (letzter Zugriff: 10.02.204).

[2] Nietzsche, Friedrich (1983): Zur Genealogie der Moral: Eine Streitschrift, München: Goldmann 1983, 136.

[3] Nietzsche, Friedrich (1983): Zur Genealogie der Moral: Eine Streitschrift, München: Goldmann 1983, 31.

[4] Nietzsche, Friedrich (1984): Jenseits von Gut und Böse, Frankfurt am Main: Insel, 165f.

[5] Descartes, René (1973): Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, Hamburg: Meiner.

[6] Descartes, René (2013): Entwurf der Methode, Hamburg: Meiner.

[7] Descartes, René (1972): Meditationen, Antwort des Verfassers auf die fünften Einwände, Hamburg: Meiner, 328.

[8] Gaukroger, Steven (1995): Descartes – An Intellectual Biography, Oxford: Oxford University Press.

[9] Weber, Max (1986): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck, 1.

[10] Lotze, Rudolf Hermann (1989): Logik. Drittes Buch. Vom Erkennen, Hamburg: Meiner, 511f.

[11] Cohen, Hermann (1877): Kants Begründung der Ethik, Berlin: Ferdinand Dümmlers Verlagsbuchhandlung, 118.

[12] Sensen, Oliver (2011): Kant on Human Dignity, Berlin/Boston: de Gruyter, 140.

[13] Eine wunderbare Übersicht über die Entwicklung der europäischen Morallehre von ca. 1500 bis zu Kant findet sich bei Schneewind, Jerome B. (2005): The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press.

[14] Gauchet, Marcel (1991): Die Erklärung der Menschenrechte – Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Hamburg: Rowohlt, 110.

[15] Zur Vertiefung der Thematik siehe: Mosayebi, Reza (Hg.) (2020): Kant und die Menschenrechte, Berlin/Boston: De Gruyter; Höffe, Ottfried (2012): Kants Kritik der praktischen Vernunft – Eine Philosophie der Freiheit, München: C. H. Beck.

[16] Geismann Georg/Oberer, Hariolf (Hg.) (1989): Kant und das Recht der Lüge, Würzburg: Königshausen & Neumann; Rose, Uwe (2023): Kants Ethik im Ganzen, Berlin/Boston: de Gruyter.

[17] Tönnies, Sybille (1995): Der westliche Universalismus – Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 218 (unter Nichtidentifikation des Staats wird nach Herbert Krüger verstanden, dass der moderne Staat sich nicht mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifiziert).