Der Beitrag von BERNADETTE WEBER geht auf das grundlegende Problem unserer Gesellschaften, nämlich die ungleiche Verteilung von Ressourcen, ein und betont dabei, dass wir einen pragmati(sti)schen Zugang benötigen, um politisch für Gleichheit zu sorgen.
I. Einführung
Seit ihrer Präsenz in Davos, im Januar 2024, hat die Millionenerbin Marlene Engelhorn auch weit über unsere Staatsgrenzen hinaus für Diskussionen gesorgt. Mit ihrer Kampagne zur Besteuerung von Superreichen – „Tax the rich!“, „Taxmenow“ – vertritt sie eine klare Botschaft: Es sollte nicht die Aufgabe der (super-)reichen Einzelperson sein, ihr Vermögen gerecht zu verteilen, sondern jene der politischen Gemeinschaft. Nicht die Philanthropie des moralisch denkenden Individuums soll eine gerechtere Welt sicherstellen, sondern ein gut fundiertes, rechtliches System. Engelhorn hat dieses Jahr bekannterweise einen Großteil ihres Erbes verschenkt. Doch nicht sie selbst wollte entscheiden, wie es verteilt werden sollte. Ein Rat aus fünfzig in Österreich lebenden Menschen, die durch ein Zufallsprinzip sowie statistische Methoden auserkoren wurden, sollte diese Aufgabe im demokratischen Setting übernehmen. Um eben genau das zu tun, was demokratisch geformte, politische Normen, ihrer Ansicht nach, veranlassen sollten.
Die Reaktionen auf diesen Akt des öffentlich kommunizierten Verzichts, waren quer durch Europa und die sozialen Medien kontrastär. Neben emotionsgeladenen Aussagen des Zuspruches und der Ablehnung – wie etwa „Die will doch nur Aufmerksamkeit!“, und „gute Taten werden in Stille vollbracht!“ – fühlten sich viele Lesende und Medienkonsumierende offensichtlich dazu animiert, einen der grundlegenden Gedanken Engelhorns an sich zu debattieren: Ist es die moralische Verantwortung der einzelnen Wohlhabenden, ihren Besitz unter weniger reichen Menschen zu verteilen? Ist es das Recht des Einzelnen, darüber zu entscheiden, was mit dem möglichen „Überfluss“ des Eigentums geschieht? Oder ist es Aufgabe, Verantwortung (oder vielleicht sogar ein „Recht“) der politischen Gewalt? Anders ausgedrückt: Ist Umverteilung eine Frage der Moral oder der Politik? Diese Frage knüpft sich an eine breitere, aktuelle Debatte der Ethik und Politischen Philosophie, rund um die Frage, was es heißt, moralisch und politisch besser zu werden.
II. Umverteilung und der moralische Fortschritt
In der westlichen Ethik und Moralphilosophie der vergangenen zehn Jahre hat sich ein zunehmendes Interesse für die Idee des moralischen Fortschrittes entwickelt. Dies könnte daran liegen, dass Menschen – Forschende nicht ausgeschlossen – besonders in Krisenzeiten daran glauben wollen, dass bestimmte Umstände (wieder) besser werden können. Moralischer Fortschritt wird in der zeitgenössischen Philosophie weitflächig als (eine Instanz oder Tendenz von graduellen) Verbesserungen der Moral – des moralischen Denkens, moralischer Handlungen, moralischer Normen und Systeme etc. – innerhalb einer Gesellschaft verstanden. Eine Gesellschaft, die wiederum aus handelnden und denkenden Individuen besteht, die definieren und interpretieren, was moralisch ist und ihr Verhalten mehr oder weniger danach ausrichten.
Während sich viele philosophisch Forschende damit beschäftigen, was moralischer Fortschritt konkret bedeutet und ob es einen solchen überhaupt geben kann – denn, ja, sehr vieles spricht empirisch und konzeptionell dagegen –, dominiert in der Ecke des philosophischen Pragmatismus eine andere Frage: Anhand welcher Mittel und Methoden kann ein moralischer Fortschritt umgesetzt werden? Pragmatistisch Denkende setzen also voraus, dass ein moralischer Fortschritt prinzipiell möglich ist, dass er nämlich eine Ressource statt eines universellen, linearen und möglicherweise gegebenen teleologischen Entwicklungsganges der Menschheitsgeschichte ist, und fragen sich was getan werden muss, um ihn zu realisieren. Dieser pragmati(tis)sche Ansatz beruht nicht zuletzt auf einem der Väter des Pragmatismus, John Dewey, für den jedes moralisch-soziale Arrangement in jedem Fall verbesserungsfähig ist, und somit – aus moralischer Sicht – verbessert werden muss. Verbesserungen von moralisch relevanten Gegebenheiten werden somit zu einer moralischen Verantwortung, wenn betroffene Individuen und Gruppen die Macht und Möglichkeiten haben, etwas dafür zu tun. Für viele zeitgenössische Vertreter*innen des Pragmatismus bedeutet dies vor allem die Notwendigkeit, ständig auf bestehende gesellschaftlich-moralische Probleme einzugehen und konkrete Lösungen zu finden. Doch um welche Art von Problemen geht es hierbei?
Für den Pragmatisten Philip Kitcher stellt das aktuell größte moralische Problem die ungleiche Verteilung innerhalb von Gesellschaften, Generationen und der Welt dar. Moralisch ist für ihn jede Aktion (und das damit verbundene Gedankengut sowie die Institutionen), die einen Einfluss auf das Wohlbefinden anderer hat. Wir sprechen also von einem moralischen Fortschritt, wenn Leid unter den Teilhabenden eines bestimmten gesellschaftlichen Systems reduziert oder Wohlbefinden vermehrt beziehungsweise gesteigert wird.
An dieser Stelle kann eingeworfen werden, dass solche Verbesserungen nicht unbedingt von moralisch-orientierten Entscheidungen und Aktionen hervorgerufen werden, sondern möglicherweise auch von politisch-ökonomischen Unternehmungen, psychologischen und gesundheitlichen Faktoren und auch von zufälligen, positiven Änderungen im Umfeld – und das ist korrekt.
Was die Idee des moralischen Fortschritts letztendlich ausmacht und warum er als eigenständiges Konzept ernstgenommen werden sollte, ist, dass er weitgehend voraussetzt, dass sich nicht nur soziale Arrangements und Aktionen auf moralisch wünschenswerte Art graduell verbessern lassen, sondern auch das Bewusstsein der Menschen innerhalb einer Gesellschaft. Der moralische Fortschritt verlangt, dass sich nicht nur die menschlichen Handlungen und Normen in eine moralisch wünschenswerte Richtung bewegen, sondern dass sich Handelnde, wenn sie zurückblicken, fragen: „Wie konnten wir nur so blind sein, nicht zu sehen, dass unser früheres Denken und Handeln moralisch falsch war?“ Die Bewusstseinsänderung ist ein relevanter Aspekt. Denn nur wenn Menschen erkennen, dass die ungerechte Verteilung der Ressourcen moralisch verwerflich ist, kann man erwarten, dass sie sich möglicherweise längerfristig für Änderungen einsetzen.
Wenn es nun die moralische Verantwortung der Einzelnen ist, auf Probleme (sofern sie sich derer bewusst ist) mit positiv einschlägigen Aktionen zu antworten, um zu einem moralischen Fortschrittes beizutragen, und wenn die ungerechte Verteilung das größte moralisch-soziale Problem unserer Zeit ist, muss das konkret heißen, dass sozial Teilhabende moralisch dafür verantwortlich sind, eine gerechtere Umverteilung in die Wege zu leiten. Engelhorn ist, dieser Ansicht nach, (nur) ihrer moralischen Verantwortung nachgegangen, und zwar auf eine inklusive, demokratisch orientierte Weise. Doch bedeutet das dann, dass sich die staatlich-politische Gewalt aus der Affäre ziehen könnte?
III. Politischer Fortschritt und die Schaffung moralisch wünschenswerter Rahmenbedingungen
Die Idee des „politischen Fortschritts“ hat im akademischen Diskurs wesentlich weniger Aufmerksamkeit bekommen. Die Philosophin Lea Ypi hat sich dieses Versäumnises angenommen und begonnen, ihn zeitgenössisch zu definieren. Dazu hat sie den Begriff der Gerechtigkeit ins Zentrum ihrer Theorie gestellt, während sie moralischen Fortschritt, im Kern, als eine Expansion von Altruismus versteht. Ypi spricht von einem politischen Fortschritt, wenn die politischen Einrichtungen, die wir schaffen, Gerechtigkeit zunehmend widerspiegeln. Auch wenn politische Erfolge heute auf unterschiedliche Weise (ökonomisch, industriell, machtspezifisch etc.) definiert werden, so lehrt uns die lange Geschichte der politischen Philosophie nicht zuletzt, dass politische Institutionen, welche eine Form kollektiver Autorität ausüben, (ethisch) dazu verpflichtet sind, eine koordinierte und kontinuierliche Form der Zusammenarbeit unter den Menschen zu garantieren. Wenn wir von politischen Aufgaben und Zielen sprechen, geht es demnach vor allem darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen jede im Staat lebende (bzw. vom politischen System abhängige) Person möglichst gut leben und einen Beitrag leisten kann. Insbesondere demokratisch-orientierte Systeme unterstützen diese Vision der politischen Ordnung, laut der es nicht nur um den Erfolg der politischen Gemeinschaft als Ganzes, sondern um den möglichst größten Erfolg aller darunter Lebenden geht und, infolgedessen, um ein ausgewogenes Macht-und Chancenverhältnis, das eine inklusive und möglichst faire Teilnahme und Teilhabe ermöglicht. Wenn wir all dies akzeptieren, erscheint es in der Tat sinnvoll, politischen Fortschritt auf der Basis von zunehmender Gerechtigkeit zu verstehen und weiter, wie Ypi erklärt, als eine Evolution politischer Regelwerke (sowie unserer Normen darüber, wie Macht ausgeübt werden soll) auf der Basis von Gerechtigkeitsprinzipien.
Gerechtigkeit bezieht sich auf viele Elemente der sozialen Partizipation, insbesondere aber auf die Verteilung der Ressourcen, die mit Machtaufteilung und politisch-gesellschaftlicher Teilhabe einhergeht: Wer mehr besitzt, hat in der Gestaltung der politischen Normen und Regeln gewöhnlich wesentlich mehr zu sagen. Ein wahrhaft demokratisches System kann demnach durch eine gerechtere Verteilung der Ressourcen gefördert werden. Die Sicherung einer solchen politischen Ordnung geht auch mit dem moralischen Verständnis des zeitgenössischen Pragmatismus einher, da ein demokratischer (freier, interessierter, wahrheitstreuer und vor allem inklusiver) Austausch über Normen, moralisch wünschenswerte Bedingungen fördern kann. Gerechtigkeit ist in der Tat nicht zuletzt auch ein moralisches Konzept.
Das Problem, wenn wir uns, wie oben angedeutet, darauf verlassen, dass sich Individuen für die Kreation gerechterer, sozialer Umstände einsetzen ist, dass Menschen nicht durch und durch moralisch sind, geschweige denn dementsprechend handeln. Unsere Gedanken und Aktionen sind nicht selten widersprüchlich und altruistische Taten werden oft von individuellen Bedürfnissen behindert, wenn äußere Umstände einen größeren Egoismus fordern: In Krisenzeiten sowie unter von Angst regierten Zuständen wird bekanntlich mehr auf sich selbst geschaut. Eine inklusive Moral sei ein „Luxusgut“, haben die Philosophen Allen Buchanan und Russell Powell geschrieben. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, kennen wir seit jeher von Bertolt Brecht. Doch auch überdurchschnittlich wohlhabende Menschen, die, so kann angenommen werden, weniger von Existenzbedrohungen betroffen sind, scheinen sich oft nicht damit auseinanderzusetzen, inwiefern eine Verteilung ihrer Ressourcen eine moralische Pflicht sein könnte. Wir leben eben in keiner Welt, in der eine gerechte Verteilung der eigenen Ressourcen zur Genüge moralisch abverlangt wird. Vielmehr wird Besitz – zumindest, wenn uns sein Ursprung gerechtfertigt erscheint – als ein persönliches Recht angesehen, welches der moralischen Pflicht etwas davon abzugeben, weit überlegen ist. Wenn wir uns die aktuelle globale Situation ansehen, in der die Scheren zwischen Arm und Reich zunehmend auseinandergehen, in der, laut Oxfam, seit 2020 1 % der Weltbevölkerung fast zweimal so viel besitzt wie der Rest, und in der dieser Trend weiter anzusteigen scheint, müssen wir wohl zugeben, dass, in Bezug auf Gerechtigkeit, ein Fortschritt nicht nur ausbleibt, sondern dass sich Gegebenheiten – nicht zuletzt, auf globaler Ebene – zu verschlechtern scheinen. Es scheint also, als könnten wir uns auf ein persönliches moralisches Verantwortungsgefühl der Menschen nicht verlassen.
Politik ist notwendig, so bezeugt Ypi, um die Grenzen des Altruismus zu überschreiten. Wenn Individuen sich der Förderung von Gerechtigkeit nicht genug annehmen, muss also die (demokratisch orientierte) Politik eingreifen. Dies kann einerseits implizieren, dass wohlhabende Personen, anhand von Gesetzen, dazu verpflichtet werden, Abgaben zu tätigen, die der Gemeinschaft bzw. ärmeren Mitmenschen zur Verfügung gestellt werden. Es kann aber auch bedeuten, dass durch politische Aktionen ein gesellschaftliches Gerüst geschaffen wird, in dem die moralische Verantwortung zur gerechten Verteilung gefördert wird. Politischer und moralischer Fortschritt gehen insofern einher: Einerseits muss die politische Organisation auf ein Moralbewusstsein antworten, das eine größere Gerechtigkeit als erstrebenswert empfindet und Normen dazu fordert. Andererseits können politische Arrangements dazu beitragen, dass anhand einer faireren Verteilung der Ressourcen innerhalb der Gesellschaft (politische) Macht ausbalanciert wird. Somit können Bedingungen geschaffen werden, die Kooperation unter den Menschen verstärkt sichern, und die die Ambition eines gerechteren Zusammenlebens sowie das Verständnis darüber langfristig fördern. In der Annahme, dass eine absolute Gerechtigkeit utopisch bleibt, ist der (politische und moralische) Akt der Gerechtigkeitsschaffung immer im Prozess und somit zu jeder Zeit, aus pragmatisch-moralischer Sicht, notwendig.
IV. Conclusio
Zu fragen, ob Umverteilung ein Thema der (persönlichen) Moral oder der Politik ist, heißt einen zentralen Punkt zu übersehen: Wenn sich sowohl politische als auch moralische Fortschritte nach dem Verständnis der Gerechtigkeit beurteilen lassen, so betrifft das Problem der Umverteilung beide Seiten der Medaille. Umverteilung als politische Aufgabe ernst zu nehmen, bedeutet nicht, Individuen von der moralischen Verantwortung zu befreien, über ihre Ressourcen auf gerechte Weise zu walten. Es wird immer Menschen geben, die mehr besitzen als andere und sich somit – aus moralischer Sicht – Gedanken machen müssen, inwiefern sie auf gerechte Weise über ihr Wohlhaben walten sollten. Politische Maßnahmen zur gerechteren Verteilung können jedoch, darüber hinaus, einen sozialen Kontext gestalten, in dem sich die Scheren zumindest wieder ein wenig schließen und in dem sich mehr Menschen dieser Verantwortung annehmen können. Engelhorn ist insofern im Recht zu fordern, dass die politische Gemeinschaft sie besteuern soll, um langfristige moralisch wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen. Sollten ihre Forderungen gehört werden, bedeutet das jedoch nicht, dass sich die Einzelperson der moralischen Verantwortung entziehen kann, weiterzudenken. Die gerechte Verteilung von Ressourcen unterliegt, zumindest aus pragmati(sti)scher Sicht, einer permanenten Notwenigkeit zur Verbesserung moralischer Arrangements: Ein Fortschritt, der nur vonstatten gehen kann, wenn sowohl die teilhabenden Menschen als auch die politische Gemeinschaft ihren möglichen Beitrag leisten.
BERNADETTE WEBER
hat Dokumentarfilm, Ethik und Politische Philosophie studiert, und schließlich in Philosophie promoviert. Sie ist als Regiesseurin und in der Produktion von Dokumentarfilmen, sowie journalistisch, zwischen Österreich, Italien und Spanien tätig. (Ihr Fokus liegt auf gesellschaftlichen Themen, Kunst sowie eindrucksvollen Lebensgeschichten.)
Literatur
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Bubola, Emma (2022): “She’s Inheriting Millions. She Wants Her Wealth Taxed Away”, in The New York Times, Oct. 21, 2022.
Buchanan, Alan/Powell, Russell (2016): “Toward a Naturalistic Theory of Moral Progress”, in: Ethics, Vol. 126, No.1 (October 2015), 37–67.
Kassam, Ashifa (2024): “‘I’m creating the tax I would want to pay’: Austrian heiress Marlene Engelhorn on why she is giving away 90% of her wealth”, in: The Guardian, 23. January 2024.
Kitcher, Philip (2021): Moral Progress, Oxford: Oxford University Press.
Reder, Michael et al. (2019): “Interview with Philip Kitcher”, in: Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspektive 3, “Moralischer Fortschritt”, 145–155, Reder et al. (Hg.), Freiburg/München: Karl Alber.
Sauer, Hanno et al. (2021): “Moral progress: Recent developments”, in: Philosophy Compass 2021.
Wilson, Catherine (2019): “Moral Progress: Cognitive Mechanisms and Social Change”, in: Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspektive 3, “Moralischer Fortschritt”, 28–49, Reder et al. (Hg.), Freiburg/München: Karl Alber.
Ypi, Lea (2023): “Cos’è il progresso politico”, in: Astérisque. L’illuminismo nel XXI secolo, Rom: Castelvecchi.
Ypi, Lea (2017): Global Justice and Avant-Garde Political Agency, Oxford: Oxford University Press.