Rückkehr des Krieges – Rückkehr des Kriegers? VON CONSTANTIN WEINSTABL

In diesem Beitrag beschäftigt sich CONSTANTIN WEINSTABL mit (neo)imperialistischer Politik im 21. Jahrhundert und analysiert sie und ihre Auswirkungen unter dem Aspekt der Unterscheidung heroischer/postheroischer Staaten bzw. Gesellschaften. In weiterer Folge zeigt er mögliche zukünftige Entwicklungen aufgrund dieser Politiken auf.

Schlagwörter:

Ukraine, Imperialismus, (Post)Heroismus, Werte, Außenpolitik

I. Einleitung

Die Entwicklungen der letzten Jahre – nicht zuletzt die russische Invasion in der Ukraine – haben gezeigt, dass der (Neo)Imperialismus des 21. Jahrhunderts nicht notwendigerweise ein nicht-militärischer ist. Dies geht entgegen des zuvor proklamierten Narrativs, dass militärischer Imperialismus, so wie er zu seinen Hochzeiten bis zum 19. und frühen/mittleren 20. Jahrhunderts praktiziert wurde, zugunsten einer rein wirtschaftlichen oder anderweitig informellen Spielart abgelöst worden war. Schlussendlich, was bedeuten Gebietsgewinne in Zeiten von „mehr privat, weniger Staat“ und der damit einhergehenden Privatisierung und Verwirtschaftlichung staatlichen Handelns? Gewiss, der Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten im Irak, mit dem zumindest impliziten Ziel der Kontrolle über die dortigen Ölfelder, geschah auch militärisch – allerdings wurde der Irak nicht zum 51. Bundesstaat der USA proklamiert. Diese Entwicklungen haben uns aber gezeigt, dass sich der Fokus offensichtlich (noch) nicht ganz in eine Sphäre verschoben hat, in der die faktische aber nicht notwendigerweise physische Kontrolle über Länder und Gebiete Trumpf ist. Doch was bedeutet es für uns, dass russische Truppen den konventionellen Krieg mitten nach Europa zurückgetragen haben? Und was können wir in Bezug auf möglicherweise noch bevorstehende, ähnliche Geschehnisse daraus lernen?

II. For What It’s Worth

Die Fragen, mit denen Europa, aber auch die USA (wenngleich in geringerem Maße), angesichts russischer (neo)imperialistischer Umtriebe nun konfrontiert sind, lauten: fühlen wir uns dazu berufen, die Ukraine in diesem Konflikt zu unterstützen? Wenn ja, sollen wir darauf hinwirken, dass sie ihre territoriale Integrität verteidigen bzw. wiederherstellen kann? Und wenn wir dies ebenfalls bejahen: unter Berufung auf welche Werte tun wir dies und wie weit sind wir bereit zu gehen? Wenngleich die erste Frage mit großer Mehrheit unter den Entscheidungsträger*innen und der allgemeinen Öffentlichkeit mit einem klaren Ja beantwortet wird, so hakt es bereits bei der Frage nach den Zielen der Unterstützung und nach dem Wertefundament. Diese Frage ist weitaus unangenehmer, als wir es uns wünschen würden, wie die öffentliche Debatte der letzten Monate zeigt – gerade für Sozialdemokrat*innen.

Viel mehr als alle anderen Konflikte der unmittelbaren Vergangenheit zwingt uns der Konflikt in der Ukraine jetzt, die Werte offenzulegen, aufgrund derer wir gewillt sind, außenpolitische Konfrontationen bis hin zu einer möglichen kriegerischen Auseinandersetzung in Kauf zu nehmen. Zumeist werden als Gründe für die Unterstützung der Ukraine in diesem Konflikt die klare Völkerrechtswidrigkeit der russischen Invasion als Verletzung des Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta (generelles Gewaltverbot), die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und der Schutz ihrer Leben und ihres bescheidenen Wohlstands sowie die generelle Erhaltung von „Frieden“ genannt.

Die allgemeine Gültigkeit der völkerrechtlichen Norm des Verbots eines Angriffskrieges ist per se unstrittig – allerdings ist es die konkrete Anwendung auf diesen Fall nicht, zumindest nicht nach offizieller russischer Diktion bzw. der ihrer Sympathisant*innen. Vonseiten der Russischen Föderation wird im Fahrwasser der Begründung für die NATO-Intervention im Kosovo 1999 (vgl. Petritsch 2018: 78ff) angeführt, dass hier wie bereits 2014 bei der Besetzung der Krim „humanitäre“ Motive hinter der „Spezialoperation“ in der Ukraine stehen. Dies wird ergänzt um die Begründung, dass die Ukraine zur Sicherung der russischen nationalen Sicherheit „entnazifiziert“ werden müsse. Wenngleich es nach allgemeiner Lesart definitiv eine starke Neonaziszene in der Ukraine gibt, stellt die Charakterisierung der Ukraine als „Nazistaat“ in jedem Fall eine unzutreffende, überbordende Verallgemeinerung dar. Außerdem wäre der Vollständigkeit halber anzumerken, dass es in Russland ebenso prominente nazistische Umtriebe gibt, die vom Kreml nicht mit dem gleichen Eifer bekämpft werden.

Was die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und die Bestrebungen zur Friedenserhaltung in Europa angeht, so sind dies Grundideen und -ziele, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Kern des europäischen Projekts, der fortschreitenden Integration im Rahmen der Europäischen Union gehören. Über das Ausmaß der Einschränkungen und Bürden, die wir für die Verteidigung dieser Werte bereit sind in Kauf zu nehmen, gehen die Meinungen allerdings auseinander.

Grundsätzlich wurden ukrainische Flüchtende von Anfang an mit mehr Wohlwollen und weniger xenophoben Anfeindungen begrüßt, als dies noch 2015 der Fall war, als es hauptsächlich Flüchtende aus dem Nahen Osten, Westasien und Nordafrika nach Europa schafften. Anstoß wurde zumindest anfangs höchstens daran genommen, dass ukrainische Flüchtende größtenteils gut gekleidet und in kostspieligen Autos wahrgenommen wurden. Wie auch 2015 wurde hier allgemein darauf vergessen, dass im Kriegsfall nur Personen mit gewissen Ressourcen die Flucht schnell und leicht gelingt. Was 2015 das Mobiltelefon des syrischen Flüchtenden war, ist 2022 der SUV mit ukrainischem Nummernschild. Doch je länger die öffentliche Hand geflüchtete Ukrainer*innen unterstützen wird, desto mehr wird auch die Frage in den Mittelpunkt rücken, wie diese Unterstützung angesichts der Beschwernisse der autochthonen Bevölkerung zu rechtfertigen ist.

III. Der Weg des Kriegers

Momentan wird gerade betreffend der entsprechenden Verfasstheit der westlichen – hier vor allem der europäischen – Gesellschaften, für ihre Werte, wenn nötig militärisch und unter Einsatz der Leben ihrer Bürger*innen, einzustehen, eine Debatte geführt, die in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich in Diskussionen im Kontext asymmetrischer Konflikte und von Terrorismus verortet war: ist der als postheroisch verstandene Westen in der Lage, sich gegen einen heroischen Feind durchzusetzen und wenn ja, wie?

Wie umfangreich von Münkler dargelegt (u. a. Münkler 2006: 310ff), ist Heroismus in diesem Kontext als erhöhte Opferbereitschaft mit dem Ziel des Erwerbes gesellschaftlicher Ehre zu verstehen, allerdings nicht im Sinne einer Tauschbeziehung, sondern um der Tat/des Opfers selbst willen. Heroische Kämpfer, das waren in den Debatten seit den 1990er-Jahren meist islamistische Gotteskrieger, gegen die westliche Nationen in Somalia, Afghanistan, im Irak und in Nordafrika zu Felde zogen, die Terroranschläge in New York, Madrid, London oder Paris verübten und gegen die Abschreckung wenig nützte, da sie bereit waren, für „ihre“ Sache zu sterben. Im Gegensatz dazu werden entwickelte, westliche Staaten zumeist als postheroisch charakterisiert, gekennzeichnet durch eine eben sinkende (kriegerische) Leidens- und Opferbereitschaft (Münkler 2006: 310) und – daraus resultierend – danach strebend, ohne eigene Opfer Krieg zu führen (Luttwak 2001; xii).

US-amerikanische Autor*innen sehen diesen Postheroismus vordringlich in Europa verwirklicht. So verweist z. B. Kagan darauf, dass die USA für Europa das Kant’sche Paradoxon – Garantie des „ewigen“ Friedens ohne Aufstieg einer despotischen Weltregierung – dadurch gelöst hätten, dass die USA seit dem Zweiten Weltkrieg die Sicherheit Europas garantiert hätten, weswegen sich Europa auf Diplomatie, Handel und die Pflege internationaler Beziehungen auf der reinen Basis des Völkerrechts konzentrieren hätte können (Kagan 2004: 64f, 67). Interessanterweise spricht Kagan auch die Thematik der Verteidigungsausgaben an und stellt bereits vor fast 20 Jahren fest, dass die von den europäischen Staaten gegen Erhöhungen der Verteidigungsausgaben vorgebrachten „strukturellen Sachzwänge“ angesichts einer drohenden Invasion wahrscheinlich nicht mehr von Belang wären (Kagan 2004: 182).

Doch so sehr sich die USA gerne als letzte westliche Bastion des Heroismus darstellen, so ist bei genauerer Hinsicht augenscheinlich, dass die Charakteristika der postheroischen Gesellschaft auch auf die USA zutreffen. So führten die Erfahrungen des Vietnamkrieges, als die Medienberichterstattung über die Zahl der gefallenen US-Soldaten die öffentliche Meinung schlussendlich gegen den Krieg Stellung beziehen ließ, dazu, dass es in den folgenden militärischen Auseinandersetzungen zu einer klaren Priorität wurde, Gefallene auch um den Preis der Nichterreichung von taktischen oder strategischen Zielen tunlichst zu vermeiden. Eine solche Kriegsführung unter Aufwendung von solchen technologischen und schlussendlich finanziellen Ressourcen zur Vermeidung von Verlusten war u. a. im Golfkrieg 1991 in Form von massiven Panzer- und Luftwaffenangriffen (shock and awe-Taktik) zu beobachten bzw. führten schon verhältnismäßig geringe Verluste 1983 in Beirut und 1993 in Mogadischu zu einem Rückzug der US-Truppen (Münkler 2005: 50). Angesichts dieser Ereignisse wäre es im Sinne der oben dargelegten Definition nicht korrekt, die USA als heroische Gesellschaft zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich bei den USA wohl um eine postheroische Gesellschaft, die allerdings beträchtliche Ressourcen für heroische Gemeinschaften (ihre Streitkräfte) aufwendet – somit sind diese Gemeinschaften per se heroisch im Sinne der oben genannten Definition, die Gesellschaft als solche ist es aber nicht (vgl. Münkler 2006: 328, 340).

Zu dieser Einschätzung trägt auch ein wesentlicher Aspekt eines auf gesellschaftlicher oder staatlicher Ebene gepflegten Heroismus, also einer Opferung von Leben für eine Sache um deren selbst willen, bei: um ohne Rücksicht auf die Anzahl der Gefallenen Krieg führen zu können, müssen genug Freiwillige vorhanden sein – zynisch würde man sie Menschenmaterial nennen. Doch dies ist auch in den USA nicht der Fall, genau wie in Europa sind dort die Geburtenraten im Sinken begriffen. Somit ist die Chance höher, dass der/die Gefallene ein Einzelkind oder zumindest nicht eines von vier, fünf oder sechs Kindern ist, anders als dies in der Vergangenheit bei kriegsführenden Nationen der Fall war, und daher viel mehr „emotionales Kapital“ verkörpert (Luttwak 2001: 71). Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Gesellschaften der zuvor genannten „Gegner des Westens“ im Nahen Osten, Westasien und Nordafrika durch youth bulges aus, definiert als Gesellschaften mit einem besonders hohen Anteil von Jugendlichen (hier relevant: jungen Männern), die entweder destabilisierend wirken können oder aber – wenn militärisch eingesetzt – ein erhebliches Potenzial zur Eroberung anderer Länder oder zur Feindesabwehr besitzen (Heinsohn 2006: 13f, 73f).

IV. (Post)Heroische Dreiheit

Umgelegt auf die aktuelle Situation stellt sich somit die Frage, inwiefern der aktuelle Konflikt des Westens (und der Ukraine) mit Russland durch diese Linse der Unterscheidung heroisch postheroisch gesehen werden kann bzw. inwieweit dieses Potenzial auch in anderen (zukünftigen) Konflikten schlummert. Zumindest im offiziellen Auftreten unterscheiden sich der russische Staat und die russische Gesellschaft von ihren westlichen Gegenübern durch eine weitaus nähere Verortung in Richtung Heroisches. Nach den Roaring Nineties und den in diesem Jahrzehnt angesichts Turbokapitalismus und Oligarchisierung in Russland stattgefundenen Entwicklungen sehnten sich viele zurück nach einerseits wirtschaftlicher Stabilität, aber andererseits auch nach dem (außen)politischen Gefühl, der Mittelpunkt eines Imperiums zu sein. Mit solchen Ansprüchen geht zumeist eine höhere Bereitschaft dazu einher, für den Stolz des Vaterlandes Opfer zu bringen, und seien es auch das eigene Leben oder das der eigenen Kinder. Jedoch war es gerade das Beispiel der sowjetischen Kriegsführung in Afghanistan, das Luttwak zu der Feststellung bewegt, dass postheroisches Verhalten nicht auf entwickelte Demokratien beschränkt ist (Luttwak 2001: 70). Wenn es sich bereits damals bei der sowjetischen nicht um eine heroische Gesellschaft handelte, wie sieht das dann heute angesichts von seitens des Staates unterdrückten Protesten gegen den Bruderkrieg und teilweise geringer Moral der Kämpfenden aus? Unter den derzeitigen Umständen wird Russland bestenfalls als eine postheroische Gesellschaft zu charakterisieren sein, in der die staatliche Führung gestützt auf heroische Gemeinschaften und mittels intensivem Heroenkult um die Gefallenen vergangener Kriege das Idealbild einer heroischen Gesellschaft erzeugen will. Insofern unterscheidet sich das heutige Russland von der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges, als heroische Opferbereitschaft wirklich das ganze Land durchzog.

Dies ist eine Parallele zur derzeitigen Situation in der Ukraine, welche sich sicher auch aus der Tatsache erschließt, dass sie (wie anfangs auch die Sowjetunion) einen Abwehrkampf gegen ausländische Aggressor*innen führt. Hier kann definitiv von einer Heroisierung der gesamten Gesellschaft gesprochen werden, wenn Präsident Selenskyj im Kampfanzug offizielle Termine absolviert, sich massenhaft Freiwillige zu den Streitkräften melden und der Tod zur Verteidigung der Heimat idealisiert wird. Mit der heroischen Aufladung steigt allerdings auch die Polarisierung innerhalb der ukrainischen Gesellschaft (eine weitere Parallele zur Sowjetunion der 1930er-und 1940er-Jahre). Dies ist evident angesichts der kürzlichen Entlassung mehrerer Spitzenbeamt*innen und die Einleitung von hunderten Verfahren wegen angeblichen Hochverrates und Kollaboration von ukrainischen Entscheidungsträger*innen in den von Russland besetzten Gebieten.

Schlussendlich ist nochmals darauf hinzuweisen, dass der Westen – sowohl Europa als auch die USA – definitiv als postheroisch zu lesen ist. Die Frage, die sich stellt, ist allerdings, wie weit sich Europa und die USA angesichts der Situation in der Ukraine in Richtung Heroismus bewegen (wollen), da anders als in anderen Konflikten, an denen westliche Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges beteiligt waren, wieder das Damoklesschwert des Einsatzes von Nuklearwaffen russischer Provenienz mitten in Europa über den Köpfen der Protagonist*innen hängt.

V. Auf eine heroische Zukunft!

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht die allgemein postheroische Disposition des Westens noch nicht so weit in Abrede, dass ernsthaft über den Einsatz von NATO- oder EU-Soldat*innen in der Ukraine debattiert wird – zumindest wird dies von allen Seiten heftig dementiert. Allerdings werden im großen Stil Waffen von europäischen und US-amerikanischen Rüstungskonzernen an die Ukraine geliefert, ohne welche die russische Invasion wahrscheinlich bereits vollkommen erfolgreich gewesen wäre, und Präsident Selenskyj wird nicht müde zu betonen, dass mehr Waffen benötigt werden, um Positionen zu halten und die Invasor*innen zurückzudrängen. Die öffentliche Debatte darüber, ob/welche (schweren) Waffen geliefert werden sollen bzw. inwieweit die NATO z. B. Truppen an ihrer Ostgrenze verstärken soll, sind wesentlich von der Abwägung zwischen einer möglicherweise kriegsentscheidenden Unterstützung der Ukraine und der Befürchtung, Präsident Putin einen vermeintlichen Vorwand für einen Angriff auf NATO-/EU-Territorium zu liefern, geprägt.

Zum eigentlichen Lackmustest droht jedoch aktuell zu werden, wie viel uns die Solidarität mit der Ukraine, die Verteidigung ihrer territorialen Integrität und des Friedens vor Ort und die Versorgung ukrainischer Flüchtender in EU-Ländern angesichts der steigenden Energie- und Lebenserhaltungskosten der autochthonen Bevölkerung wert ist. Ohne Zweifel ist der neuerliche Ukrainekonflikt nicht unbedingt Ursache aller aktuell diskutierten Preissteigerungen (hier tragen u. a. auch Probleme in Lieferketten und die anhaltende COVID-Situation das Ihrige dazu bei), aber Sanktionen gegen Russland und Widerstand gegen Putins Position sind preisgünstigen und zuverlässigen Gaslieferungen aus Russland auch nicht gerade zuträglich. Allerorts wagen sich mittlerweile Entscheidungsträger*innen aus Politik und Wirtschaft, Interessenvertretungen und Denker*innen mit Kassandrarufen aus der Deckung, dass wir uns spätestens im Herbst auf Rationierungen von Gas und anderer Energie einstellen müssten, was zynisch als „Frieren für den Frieden“ tituliert wird.

Somit zeichnet sich ab, dass die von westlichen Bevölkerungen für die Ukraine zu bringenden Opfer fürs Erste – vorbehaltlich eines Eingreifens westlicher Truppen in der Ukraine und/oder möglicher militärischer Vergeltungsschläge vonseiten Russlands – wirtschaftliche und solche einer möglichen Minderung unser aller Lebensqualität wären. Das ist mit den zuvor skizzierten Opfern einer wahrhaft heroischen Gesellschaft in Form von Leib und Leben ihrer Bürger*innen nicht zu vergleichen. Jedoch sind die Einschnitte tiefer als alle anderen, die wir in den letzten Jahrzehnten für die Umsetzung unserer Werte und Positionen in einem außenpolitischen Konflikt erdulden mussten. Eine vergleichbare Situation hatte sich in unmittelbarer Vergangenheit, z. B. während des Arabischen Frühlings, nicht in dieser Härte und Konsequenz gestellt.

Die Art und Weise, wie mit dieser Situation umgegangen wird; wie weit die Solidarität für die ukrainische Bevölkerung reicht und welche Opfer wir dafür in Kauf nehmen; und welche weiteren Schritte wir zur diplomatischen, wirtschaftlichen und – als ultima ratio – militärischen Unterstützung setzen, wird nicht nur diesen Konflikt, sondern auch unsere eigene Verfasstheit und unseren weiteren Weg als Wertegemeinschaft – so wir noch eine sind – entscheidend beeinflussen. Ende Juni wurde der Ukraine der Status eines EU-Bewerberlandes zuerkannt und Präsident Selenskyj sieht die Zukunft seines Landes eindeutig in der NATO, was seit 2019 auch ein Verfassungsziel der Ukraine ist. Wenngleich dies als zunehmend unrealistische Option erscheint, so hat die aktuelle Bedrohung durch Russland doch schon dazu geführt, dass die vormals neutralen Staaten Finnland und Schweden NATO-Beitrittsgesuche gestellt haben.

Die Fronten in Europa verhärten sich also mit Blick auf russische (neo)imperialistische Bestrebungen und auch im Falle einer Niederlage Russlands in der Ukraine – wie auch immer diese aussehen mag – bzw. eines Einfrierens des Konfliktes werden die Maßnahmen zur Umsetzung politischer Ziele eine verstärkt geopolitisch-konfrontative Note haben. Angesichts dessen muss sich der Westen, muss sich Europa, die Frage stellen, wie wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit den Konsequenzen unseres außenpolitischen Handelns und dem Vertreten von Werten auf globaler Ebene umgehen wollen, z. B. mit einer möglichen Entflechtung globalisierter Handels-, Wirtschafts- und Politbeziehungen infolgedessen. Aktuell ist es definitiv nicht im Sinne Russlands, Energielieferungen nach Europa wesentlich herunterzufahren. Vielmehr sollten wir uns auf Manöver und Geplänkel wie zuletzt den Stopp der Gaslieferungen durch die Nordstream-1-Pipeline einstellen. Würde uns Ähnliches drohen, wenn die Volksrepublik China sich entscheidet, nach Taiwan zu greifen, und europäische Staaten dies verurteilen? Was für Effekte hätte dann u. a. die Entscheidung der Volksrepublik, Exporte von Waren oder Rohstoffen nach Europa einzustellen oder entschieden zu drosseln?

Die Antwort auf diese Frage kann – bei gleichzeitiger Vertretung der diskutierten Werte – in einem Zeitalter zunehmender Multipolarisierung globaler politischer und wirtschaftlicher Beziehungen nur eine ordentliche Portion Heroismus und die Bereitschaft zum Tragen entsprechender Konsequenzen unseres Handelns mit globalen Implikationen sein. Derselbe Heroismus, den wir benötigen werden, um Einschränkungen unserer Lebensstandards hinzunehmen, wenn wir die notwendigen Schritte setzen wollen, um globalen Problemen wie der Klimaerwärmung entschieden entgegenzutreten. Die Anwendbarkeit des Zitats „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ (Schmitt 2015: 51) ist angesichts dieser Herausforderungen drastisch eingeschränkt.

Literatur

Heinsohn, Gunnar (2006): Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Zürich: Orell Füssli.

Kagan, Robert (2004): Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, München: Wilhelm Goldmann.

Luttwak, Edward (2001): Strategy. The Logic of War and Peace, Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press.

Münkler, Herfried (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Münkler, Herfried (2005): Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.

Petritsch, Wolfgang (2018): Epochenwechsel. Unser Digital-Autoritäres Jahrhundert, Wien: Christian Brandstätter.

Schmitt, Carl (2015): Der Begriff des Politischen, Berlin: Duncker & Humblot.

CONSTANTIN WEINSTABL
hat an der Universität Wien und der Universiteit Leiden Rechtswissenschaften mit den Schwerpunkten Rechtsphilosophie und Völkerrecht sowie an der University of Hull Politikwissenschaften mit dem Fokus Strategy and International Security studiert. Er ist Mitglied der Redaktion der ZUKUNFT.