Die ZUKUNFT präsentiert angesichts des Pogroms vom 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Erstarken der brutalsten Formen des Antisemitismus eine Reihe von Interviews mit jüdischen Theatermacher*innen. GIDEON MAOZ führt mit seinem Beitrag in die mehr als bedenkliche Situation im Kunstbetrieb ein, kritisiert die am deutschsprachigen Sprechtheater weit verbreitete notorische „Israelkritik“ und berichtet von den Folgen für jüdische Theaterschaffende im Schatten des Massakers.
I. Einleitung
„Der Antisemitismus, mit dem wir es heute zu tun haben, nennt seinen Namen nicht. Im Gegenteil: Will ihn haftbar machen, verleugnet er sich. […] Was sagt der neue Antisemit? […] Er sei nicht der, als den man ihn hinstelle, nicht Antisemit also sei er, sondern Anti-Zionist.“
Jean Améry, 1978: Der neue Antisemitismus
Das Theater liebt nichts mehr als den revolutionären Gestus. Ob in den Metropolen oder in der Provinz – ein Hauch frecher Pseudoprovokation gehört seit Jahren zum festen Repertoire der Sprechtheatermarketings im deutschsprachigen Raum. Und die woke Linke, ob an Universitäten oder im Kultursektor, die selbsternannten Krieger*innen für (performative) Gerechtigkeit, haben sich von den rund 120 bewaffneten Konflikten weltweit einen ganz besonders rausgepickt: den zwischen Israel und den Palästinenser*innen. Und das, obwohl Künstler*innen von Politik, geschweige denn von Weltpolitik, meist gar nicht so viel Ahnung haben. Doch kann das kaum Zufall sein. Denn im Abarbeiten an Israel trifft das Bedürfnis nach moralischer Selbstinszenierung auf altbekannte Projektionen. Ein bisschen Antisemitismus – pardon, Antizionismus – maskiert mit politischem Gewissen. Das ist anschlussfähig und die Empörung bleibt selektiv, denn Komplexitäten werden einfach wegtheoretisiert. Spätestens seit der Documenta 15 konnte der Antisemitismus im Kulturbetrieb auch dem breiten Publikum nicht mehr verborgen bleiben. Die Theater bilden da keine Ausnahme. So war das Verhältnis zu Israel schon lange vor dem 7.10.2023, dem größten Massaker an Juden*Jüdinnen seit der Shoah, die wahre Gretchenfrage am deutschsprachigen Sprechtheater, der man sich kaum entziehen konnte. Im Einklang mit dem linksakademischen Mainstream, der sich seit Jahren an postmodernen Theorien abarbeitet, wird Israel gerne zum Sündenbock für alle Probleme im Nahen Osten, wenn nicht gar in der ganzen Welt, erklärt. Die genozidale Fantasie von der „Befreiung Palästinas“ vom einzigen demokratischen Staat der Region wird nicht selten zu einem quasireligiösen Heilsversprechen verklärt, das allen vermeintlich weniger Privilegierten weltweit Erlösung bringen soll. Massenmord an Juden*Jüdinnen als Heilsversprechen? Kommt einem bekannt vor. Aber nein, mit Antisemitismus will das nichts zu tun haben.
Vor diesem Hintergrund war es für jüdische und antisemitismuskritische Theaterschaffende wenig überraschend, aber nicht minder erschreckend, wie verhalten die Reaktionen der Theater auf das genozidale Massaker vom 7. Oktober ausfielen. Während einige Kolleg*innen mit relativierenden oder gar zustimmenden Social-Media-Posts zu den Kriegsverbrechen der Hamas aufwarteten, ließ das offizielle Statement des Deutschen Bühnenvereins drei Tage auf sich warten. Das hingen sich einige Theater an die schwarzen Bretter, manche setzten es auf die Website. Zum Teil wurde es kritisiert. Am Maxim Gorki Theater in Berlin wurde ein Stück aus dem Jahr 2016 der Regisseurin Yael Ronen abgesetzt, das angesichts der neuen Realität nicht mehr den richtigen Ton traf. Das wurde von manchen absichtlich als eine Art Zensur missverstanden. Das Stuttgarter Theater hängte eine Israelfahne vor das Haus, die wiederholt beschädigt wurde. Das war es im Großen und Ganzen.
II. Linksextreme Israelis und theatralische Selbstverteidigung
Vielleicht wäre das ausreichend gewesen, würde der Nahostkonflikt behandelt wie jeder andere bewaffnete Konflikt und wäre das Verhältnis der deutschsprachigen Kulturschaffenden zu Israel so nüchtern wie zu jedem anderen Land der Welt. Doch so ist es eben nicht. Das zeigt sich auch im Umgang mit Künstler*innen: antisemitismuskritische Theaterschaffende sehen sich seit Jahren Anfeindungen ausgesetzt, während antizionistische Stimmen – darunter einige linksextreme Israelis – am Theater und in den Medien überrepräsentiert sind. Viel Engagement für die Meinungsvielfalt, aber nur so lange sie nicht allzu eindeutig der eigenen Meinung widerspricht? Esther Slevogt bezeichnet die sogenannte Israelkritik gar als „Eintrittsticket für jüdische und insbesondere israelische“ Künstler*innen in den deutschen Kulturbetrieb[1].
JUDENHASS IM KUNSTBETRIEB
REAKTIONEN NACH DEM 7. OKTOBER VON MATTHIAS NAUMANN (HG.)
Berlin: Neolfelis
214 Seiten | € 18,00 (Gebundenes Buch)
ISBN: 978-3-95808-452-0
Erscheinungstermin: 7. Oktober 2024
Ari Elbert, im Bereich Kostüm- und Bühnenbild an unterschiedlichen Theatern tätig, sieht hier eine ernste Verzerrung in der Repräsentation, denn
„die antizionistische Sichtweise macht ja vielleicht zehn Prozent der jüdischen Stimmen aus. Da reagiere ich mittlerweile auch sehr allergisch, wenn ich sehe, dass da nicht zumindest auch eine Gegenperspektive gezeigt wird, also die Perspektive von neunzig Prozent der Juden und Jüdinnen. Wenn es sich wenigstens die Waage halten würde, wäre ich ja schon zufrieden“[2].
Das gestörte Verhältnis zum jüdischen Staat zeigt sich auch in den öffentlichen Debatten, die von Kulturschaffenden, darunter zahlreiche Theaterleute, angestoßen werden. Da es in den NS-Nachfolgestaaten schwerlich vertretbar ist, antisemitische Inhalte mit Steuergeld zu fördern, sieht die bundesdeutsche Politik – leider im Gegensatz zu den Theatern und Kulturinstitutionen selbst – in Anbetracht der Zustände im Kulturbereich seit einigen Jahren Handlungsbedarf. Sobald aber auch nur die sanftesten Maßnahmen ins Spiel kommen, wie etwa rechtlich nicht bindende Selbstverpflichtungen, verfällt die Kulturelite in theatralische Selbstverteidigung. So fühlten zahlreiche Kulturschaffende durch die Resolution des Bundestages vom Mai 2019 gegen die einseitig israelfeindliche BDS-Bewegung nichts weniger als ihre künstlerische Freiheit bedroht. Als wäre israelfeindliche Agitation ein Fundament ihres kreativen Wirkens, schufen sie die Initiative Grundgesetz 5.3 Weltoffenheit, in der sie die „missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs“ in der Resolution des Bundestages anprangerten und sich selbst als Verteidiger*innen einer „weltoffenen Gesellschaft“ stilisierten.[3]
III. Definitionen und antisemitischer Boykott
Ein Aspekt störte die Unterzeichner*innen des an Pathos strotzenden Papiers an der Resolution des Bundestages freilich besonders: die Übernahme der weltweit von den meisten Antisemitismusforscher*innen anerkannten Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), welche israelbezogenen Antisemitismus als eine von mehreren Formen des Antisemitismus nennt – zugleich aber sachliche Kritik am Staat Israel, seiner Regierung und seinen Institutionen, wie an jedem anderen Land der Welt, selbstverständlich als legitime Meinungsäußerung schützt.
Maßnahmen gegen Antisemitismus als Widerspruch zu demokratischen Werten und als widersprüchlich zur Freiheit überhaupt, darzustellen, ist in den letzten Jahren zu einem wiederkehrenden Motiv im Feuilleton geworden. So wird die deutsche Staatsräson, angesichts der Geschichte solidarisch zu Israel zu stehen, auch immer wieder in zynische Anführungszeichen gesetzt. Die gefeierte israelische Theatermacherin Sivan Ben Yishai kritisierte im April im Spiegel, also einem der auflagenstärksten Magazine Deutschlands wohlgemerkt, „eine beispiellose Einschränkung der Protest- und Meinungsfreiheit“[4], als man in Deutschland endlich begonnen hatte, juristisch gegen eliminatorisch-antisemitische Parolen auf Palästinademonstrationen zu reagieren. Die Versuche von Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU), Fördermittel von einem Bekenntnis gegen Antisemitismus abhängig zu machen – eine Maßnahme, die so selbstverständlich erscheint, dass man erstaunt sein könnte, dass sie eine Neuerung darstellt – und dabei die Ablehnung eben auch von israelbezogenem Antisemitismus gemäß der IHRA-Definition erwähnte, regte sich erneut heftiger Widerstand. Eine anonyme Gruppe mit dem Namen Strike Germany rief Ende 2023 zum Boykott deutscher Kulturinstitutionen auf, indem sie wahrheitswidrig behauptete, in Deutschland gebe es ein „bedingungsloses Bündnis mit Israel“. Auch schämten sich die Initiator*innen nicht, von „Repression“[5] gegen Palästinenser*innen in Deutschland zu reden, „als wären palästinensische und propalästinensische Stimmen im deutschen Kulturbetrieb nicht […] prominent vertreten“[6]. Strike Germany ist eine Boykottaktion, die sich gegen die Bundesrepublik Deutschland stellt, die aufgrund ihrer tatsächlich nicht einmal halbherzigen Solidarität mit dem jüdischen Staat nun auch noch boykottiert werden soll. Strike Germany schreckt nicht vor Genozidvorwürfen angesichts Israels Verteidigungskrieg zurück und unterstellt deutschen Kulturbetrieben Komplizenschaft durch angebliche Zensur jeglicher Sympathiebekundung mit Palästinenser*innen. Das Zensurnarrativ wird durch eine intransparente Urheber*innenschaft der Initiator*innen der Gruppe unterstrichen. Übliche Verdächtige wie Annie Erneaux und Judith Butler haben sie bereits bejubelt.
Im September dieses Jahres, einem Jahr in dem sich die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland verdoppelte, wiederholte Chialo sein Ansinnen, dem Antisemitismus im Kultursektor entgegenzutreten und sah sich extremen Anfeindungen ausgesetzt: eine Farbattacke auf sein Haus wurde durchgeführt, er wurde als Rassist beschimpft und bedrängt. Milo Rau, der neue Direktor der Wiener Festwochen, seines Zeichens Mitinitiator oben erwähnter Initiative Grundgesetz, hat sein Faible für die sogenannte Israelkritik gleich in sein Festwochen-Programm fließen lassen. Bereits im Vorhinein hatte er mit Besetzungsentscheidungen für Kontroversen gesorgt, als er die berüchtigten „Israelkritiker*innen“ Yanis Varoufakis und Annie Erneaux in sein fiktives (und natürlich nicht demokratisch legitimiertes) Festwochen-„Parlament“ setzte.
IV. Wiener Festwochen in Sachen Antizionismus
Das kecke Marketing der Festwochen schreckte nicht vor der Ästhetisierung von Terror zurück. So warben die Festwochen 2024 mit hipsterigen Leuten in farbenfrohen Sturmmasken. Farbwahl: Watermelon-Rot, Grün und Schwarz. Ach ja: und Feigenblatt-Lila. Wie sehr man die Diskursverweigerung der Gruppen unterschätzt hatte, die man sich für die „Wiener Prozesse“ ins Haus geholt hatte, zeigte das hilflos-beschwichtigende Verhalten der Organisator*innen, die sich bereits ab der Eröffnungsfeier von sich als propalästinensisch bezeichnenden Aktivist*innen vorführen ließen und sich offenbar keinerlei Methoden für den Fall einer einseitigen Vereinnahmung ihrer „sozialen Plastiken“ ausgedacht hatten. Unter anderem hatte man einer obskuren Nischengruppe mit dem Namen Judeobolschewiener:innen eine Plattform gegeben, in altbekannter Opfer-Täter-Umkehr, Genozidvorwürfe gegen Israel zu formulieren.
Das Rahmenprogramm der Festwochen wiederholte, was das Sprechtheater landauf landab seit Jahren versucht: die scheinbare Aufwertung der Kunst zu einem gesellschaftspolitischen Instrument. Das entspricht zwar nicht der Kernaufgabe des Theaters, soll aber wohl davon ablenken, dass das Sprechtheater in Bezug auf seine gesellschaftliche Relevanz in Wahrheit ein ausgewachsenes Problem hat. Das zeigen diverse Studien; eine davon wurde 2023 im Auftrag des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport durchgeführt. Sie zeigt auf, dass im Jahre 2022 73 % der Österreicher*innen kein einziges Mal im Theater waren. Die durchschnittliche Anzahl der Besuche der übrigen 27 % betrug hierbei nicht einmal drei im Jahr.[7] Theater als demokratische Plattform taugt also kaum, zum einen, da es kein repräsentativer Ort ist, aber auch weil Kunst per se nur sehr begrenzt dazu geeignet ist, gesellschaftspolitische Fragen differenziert zu diskutieren. Und das wissen die Theaterleitungen nur zu gut und machen deshalb statt Kunst eine Art Pseudoaktivismus, die eben ganz spezifisch der Zielgruppe entspricht, die es konsumiert und wohl ein Alleinstellungsmerkmal formulieren soll. Ist dies der verzweifelte Versuch eines reformbedürftigen Systems, sich selbst zu rechtfertigen? Behauptet die Kulturpolitik, allein sie kümmere sich um Minderheiten aller Art, um ihre eigene Existenzberechtigung zu sichern und die fortlaufende Finanzierung zu rechtfertigen? Der vielbeschworene gesellschaftliche Anspruch ist längst zu einem oberflächlichen Image verkommen, maßgeschneidert für die letzten verbliebenen Theatergänger*innen. Diese gut situierte, akademisch geprägte, irgendwie linke Zielgruppe genießt den revolutionären Gestus auf und neben den Bühnen – wohl weil er ihr im Alltag fehlt, aber auch nicht genug, um ihn wirklich zu leben. Die performte Revolution genügt, man ist froh, wenn das Aufbegehren nach knapp zwei Stunden ein Ende hat. Das ist alles nicht ganz ernst gemeint.
V. Postmodernismus = Postkolonialismus = Postzionismus
Zum Glück, muss man sagen. Denn da die Kulturszene in weiten Teilen von jenen postmodernen Theorien – wie etwa der postkolonialen Theorie – angetan ist, haben diese auch am deutschen Sprechtheater seit gewiss einer Dekade, fast unwidersprochen, mal mehr, mal weniger explizit, Konjunktur. Dass diese Theorien durch eine vereinfachte Opfer-Täter-Systematik und simplifizierte Darstellungen komplexer historischer und politischer Umstände uralte Ressentiments insbesondere gegen jüdische Menschen wiederbeleben, ist nicht neu. Postmoderne Ideologien heben Machtstrukturen und Unterdrückungsverhältnisse hervor und neigen dazu, vereinfachende Dichotomien zwischen „Unterdrückern“ und „Unterdrückten“ zu schaffen. Solche Vereinfachungen mögen in der Theorie nützlich sein, um Strukturen sichtbar zu machen, doch ihre unreflektierte Übertragung auf die Realität birgt erhebliche Probleme. So wird in diesem Schema Israel oft als „westliche“ Kolonialmacht dargestellt, welches seltsam vertraut an das alte antisemitische Stereotyp von der jüdischen Weltherrschaft erinnert. Die wunderliche Obsession mit diesem Konflikt wird häufig durch die Behauptung seiner universellen Bedeutung erklärt: in ihm offenbare sich ein grundlegendes, archetypisches Prinzip. Schematische Begriffe verengen das Verständnis des Konflikts auf ein schlichtes Narrativ, in dem Israel entgegen jeder Logik als „koloniales Projekt“, seine Bevölkerung realitätsfern als „Weiß“ und seine Kultur als „westlich“ etikettiert werden. Dass über 21 % der Israelis muslimische und christliche Araber*innen sind, dass fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels aus dem Nahen Osten und Nordafrika stammt, teils gewaltsam aus diesen Regionen vertrieben wurde; dass Israel als antikoloniales Projekt den britischen Kolonialanspruch im Mandatsgebiet Palästina beendete und das Land von westlicher Kontrolle befreite, muss in dieser Lesart unbeachtet bleiben. Die historische und geopolitische Realität des Nahostkonflikts wird auf simple Schlagworte reduziert, wodurch die Vielfalt israelischer Identitäten und Erfahrungen vernachlässigt wird. Gleichzeitig fällt man den ohnehin massiv gefährdeten progressiven Bewegungen in der arabischen Welt in den Rücken. Die Anerkennung der Komplexität würde am Ende gar eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Machtverhältnissen im gesamten Nahen Osten erforderlich machen, Fragen nach Minderheiten- und Frauenrechten in muslimisch geprägten Gesellschaften aufdrängen und andere unangenehme Themen heraufbeschwören wie etwa Kritik am arabisch-muslimischen Kolonialismus. Für Differenzierungen soll da kein Raum sein und so wird die singuläre Natur dieses Konflikts, die ihn in vielerlei Hinsicht von anderen bewaffneten Konflikten in der Welt unterscheidet, schlicht wegpoetisiert. Kaum Raum bleibt auch für jüdische Stimmen, die das antizionistische Argument stören könnten.
VI. Die woke Linke und die jüdische Identität
Will das Theater seinem eigenen Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz gerecht werden, so muss es sich vor allem anderen zu den demokratischen Werten bekennen, von denen es selbst so profitiert. Nur so kann es sich von der Einflussnahme durch antisemitische Akteur*innen, ob von rechts oder von links, schützen, was historisch bedingt gerade in Österreich und Deutschland von besonderer Wichtigkeit, und in Anbetracht der Herausforderungen für unsere Demokratie angesichts des wachsenden Erfolgs linksantisemitischer Ideologien und rechtspopulistischer Bewegungen weltweit dringend notwendig wäre. Pseudorevolutionärer Impetus kann schädlich wirken, besonders wenn er durch Steuergelder finanziert wird – also jene Mittel, die einem durchaus funktionierenden System entstammen, das von der absoluten Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wird. In Wahrheit funktioniert dieses Marketing ohnehin nicht, denn immer weniger Leute wollen das sehen, was da auf den Bühnen unternommen wird, da kann die Markenidentität des jeweiligen Stadttheaters auch noch so selbstbewusst-frech daherkommen. Niemand wird sich nach einem radikalen „Systemwechsel“ sehnen, solange unklar ist, was danach kommen soll. Hier könnte das Theater seine Stärke neu entfalten. Anstatt unsere Demokratie schlechtzureden, ein System, das lebendig und aktiv gestaltbar ist, sollte das Theater wieder beginnen, Visionen zu entwickeln, die gesellschaftlich anschlussfähig sind und dieses wertvolle Gut, unsere Demokratie, schützen und fortführen. Die woke Linke hat sich in großen Teilen von demokratischen Idealen abgewandt und zeigt dies mitunter unverhohlen, ein Blick in die sozialen Medien genügt um sich davon zu überzeugen. Sie ist daher weit von denen entfernt, die sich aktiv an unserer Demokratie beteiligen und dieses System wertschätzen. Solange die Theater den Antisemitismus in den Betrieben nicht reflektieren und Antizionismus nicht als eine Spielart des Antisemitismus verstehen wollen, müssen sie es sich gefallen lassen, dass die Politik entsprechend Einfluss nimmt – schließlich leben die Theater von steuerzahlenden Menschen, welche die theatralen Angebote oft aus gutem Grunde meiden.
Wir leben in einer Zeit, in der Antisemitismus wieder anschlussfähig geworden ist, Attacken auf jüdische Menschen und Institutionen zu einer täglichen Routine geworden sind. Jüdische Perspektiven sind daher in ganz Europa wieder besonders gefährdet und verdienen es, gehört zu werden. Diese Stimmen können Geschichten von außergewöhnlicher Resilienz und Überlebenswillen erzählen, die in herausfordernden Zeiten von unschätzbarem Wert sind. Ihre Erfahrungen und Einsichten tragen nicht nur zur Diversität des Diskurses bei, sondern können auch wichtige Aspekte über Solidarität, Identität und den Umgang mit Widrigkeiten vermitteln, die für die gesamte Gesellschaft von Bedeutung sind. Wie die Schauspielerin Nadine Quittner sagt:
„Wir können Empathie wecken indem wir Geschichten erzählen, vielleicht auch von dieser ganz besonderen Art der Einsamkeit, die wir erleben.“[8]
Theater muss seine ästhetische Kraft wieder finden: durch eine Besinnung auf seine Kernkompetenz, dem Erzählen von Geschichten, die nicht allein politischen Zwecken dienen, sondern universelle menschliche Erfahrungen vermitteln. So kann es sich vielleicht wieder als relevanter, unabhängiger Kulturraum behaupten, der mehr ist als bloße politische Agitation.
VII. Ein Gesprächsprojekt für die ZUKUNFT
Um jüdischen Stimmen aus dem Kultursektor Raum zu geben, finden Sie auf den folgenden Seiten dieser Ausgabe der ZUKUNFT transkribierte Gespräche mit jüdischen Künstler*innen, die im Theaterbereich in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig sind – sowohl im Sprech- als auch im Musiktheater, auf und hinter der Bühne. Diese von Gideon Maoz geführten Interviewbeiträge sollen die Vielfalt jüdischer Perspektiven beleuchten und Einblicke in Gedanken jenseits verhärteter politischer Fronten ermöglichen. Bring them Home now! Schalom!
Tania Golden ist Schauspielerin, Sängerin und Regisseurin in Wien. Sie sieht in der Theaterkunst Möglichkeiten, gesellschaftliche Ressentiments zu bekämpfen, indem man durch Humor und Satire, Ungerechtigkeiten bloßstellt.
Shlomit Butbul ist Sängerin und Schauspielerin in Wien, sie sieht im Antisemitismus vor allem eine Angstreaktion, die gesellschaftlicher Unsicherheit entspringt.
Ari Elbert ist im Bereich Kostüm und Bühnenbild in Braunschweig tätig, arbeitet auch für die queere jüdische Organisation Keshet und engagiert sich vermehrt im politischen Bereich für eine demokratischere Theaterlandschaft.
Nadine Quittner ist Schauspielerin und steht zur Zeit vor allem in Münster auf der Bühne. Nach dem 7.10. ist ihr bewusst geworden, wie wichtig ihr jüdischer Hintergrund für sie eigentlich ist.
GIDEON MAOZ
ist Schauspieler und Theaterpädagoge. Nach seinem Schauspielstudium an der Kunstuni Graz (2008-2012), in dessen Rahmen er in seiner Diplomarbeit bereits linken Antisemitismus thematisierte, wurde er 2014 als „Bester Nachwuchs“ für den Nestroy-Theaterpreis nominiert. Im Jahr 2022 schloss er einen Master in Arts Education an der MUK Wien ab und erhielt ein Sonderstipendium für seine Arbeit über die Rolle des Theaters im Österreich der Nachkriegszeit. In seiner Arbeit verbindet er künstlerische und pädagogische Ansätze, insbesondere durch den Einsatz theatraler Techniken zur Förderung gruppendynamischer Prozesse. So entwickelte er für die Deutsche Bühne Ungarn ein Klassenzimmerstück über Verschwörungsdenken (Was wir zu wissen glauben). Als Schauspieler war er an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland tätig, darunter das Schauspielhaus Wien, Schauspielhaus Graz, Theater Konstanz, Werk X Wien, Theater Meiningen und Ernst Deutsch Theater Hamburg.
[1] Vgl. Slevogt, Esther (2024): Die große Kälte. Der 7. Oktober 2023 und das Theater, in: Naumann, Matthias (Hg.): Judenhass im Kunstbetrieb. Reaktionen nach dem 7. Oktober 2023, Berlin: Neofelis, 95–118.
[2] Siehe das Interview mit Ari Elbert in dieser Ausgabe der ZUKUNFT, X.
[3] Vgl. das „Plädoyer“ der Initiative online unter: https://www.humboldtforum.org/wp-content/uploads/2020/12/201210_PlaedoyerFuerWeltoffenheit.pdf (letzter Zugriff: 01.11.2024).
[4] Vgl. Yishai, Sivan Ben (2024): „Wir fragen uns, in welchem Land wir eigentlich leben“, in: spiegel. de, online unter: https://www.spiegel.de/kultur/gaza-und-israel-kritik-sivan-ben-yishai-ueber-die-unterdrueckung-kritischer-intellektueller-a-509eec2e-f99b-4fc5-8e41-e7431feef450 (letzter Zugriff: 01.11.2024)
[5] Vgl. den diesbezüglichen Aufruf von Strike Germany online unter: https://www.sozonline.de/2024/04/strike-germany/(letzter Zugriff: 01.11.2024).
[6] Vgl. Slevogt, Esther (2024): Die große Kälte, 109f.
[7] Vgl. Schönherr, Daniel/Glaser, Harald (2023): Kulturelle Beteiligung in Österreich. Besuch von Kulturveranstaltungen, Kultureinrichtungen und -stätten, Endbericht einer Grundlagenstudie von SORA – Institute for Social Research and Consulting, vgl. den Bericht online unter: https://www.boja.at/sites/default/files/wissen/2023-05/2023_05_22264_Kulturelle_Beteiligung_in_OEsterreich_Endbericht.pdf (letzter Zugriff: 01.11.2024).
[8] Siehe das Interview mit Nadine Quittner in dieser Ausgabe der ZUKUNFT, X.