Anlässlich der Eröffnung des Prague Crossroads Festivals hat MILO RAU eine aufrüttelnde Rede gehalten, die er freimütig auch der ZUKUNFT zur Verfügung gestellt hat. Wir bringen diese Rede in der englischen Originalversion und einer deutschen Übersetzung, um gerade angesichts unserer Ausgabe zu Theater auf demokratiepolitische Gefahren hinzuweisen, von denen der Kulturbetrieb gegenwärtig tief betroffen ist.
Liebe Freund:innen,
ich freue mich sehr, hier in Prag zu sein, um das Prague Crossroads Festival zu eröffnen, das, wie ich gehört habe, zu Ehren von Václav Havel gegründet wurde, einem der größten Dramatiker und Politiker, die Europa im letzten Jahrhundert gekannt hat. Es fühlt sich seltsam an, in Prag zu einem Zeitpunkt wie diesem zu sprechen: An einem Tag, an dem Donald Trump vielleicht die amerikanischen Wahlen gewinnen und erneut Präsident werden wird. Gleichzeitig feiern wir in diesem Monat den 35. Jahrestag der „Samtenen Revolution“, auch „Zarte Revolution“ genannt – und damit den Sturz der stalinistischen Diktatur in weiten Teilen Europas. Zwei Blicke in die Vergangenheit: eine gruselige Rückkehr auf der einen Seite, ein Moment historischer Hoffnung auf der anderen.
Bis vor Kurzem war die Eröffnung eines Theaterfestivals in Europa ein rein formeller Akt. Man bedankte sich bei den Sponsor:innen und ratterte die üblichen Schlagworte herunter: Demokratie, Freiheit, Vielfalt, Europa – was auch immer. Als ich mich auf diese Rede vorbereitete, musste ich deshalb an Havel und die bürokratische Sprache denken, die er für seine absurden Theaterstücke erfand. Er nannte sie „Ptydepe“: eine sinnleere Floskel-Sprache, die von einer zentralen Bürokratie für ihre Angestellten entwickelt wurde, um sie damit zu beschäftigen, überhaupt nichts zu tun.
Wie Sie wissen, komme ich aus Österreich zu Ihnen: nicht aus Havels, sondern aus Hitlers Heimatland. Zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus haben wir seit zwei Wochen einen rechtsextremen Parlamentspräsidenten. Seine erste Amtshandlung war es, den ungarischen Präsidenten Viktor Orbán nach Wien einzuladen. Ein weiterer Demagoge – Kickl, der Vorsitzende unserer rechtsextremen Partei, der Freiheitlichen Partei Österreichs, die die Wahlen gewonnen hat – und Orbán haben ein Papier unterzeichnet, in dem sie „Frieden“ – das heißt Frieden mit Russland – und die Auflösung der Europäischen Union fordern. In diesem schönen Papier wird die Zusammenarbeit von Österreich und Ungarn als „Achse“ bezeichnet – ich muss Sie nicht daran erinnern, wer zuletzt ein politisches Bündnis in Europa als „Achse“ bezeichnet hat. Aber das überrascht nicht von einer Partei, die mehr oder weniger alles verbieten will, was nicht „österreichisch“ genug ist, einschließlich meines eigenen Festivals – und sich dennoch „Freiheitspartei“ nennt.
Was immer man zu dieser neofaschistischen Sprache sagen will: Es ist kein „Ptydepe“ – sondern eine sehr klare Sprache. Eine Sprache des Hasses, eine Sprache der Macht. Sie wollen keine sich kreuzenden Straßen (Crossroads), sie wollen parallele Straßen, sie wollen kein Europa, sie wollen Nationalstaaten. Manchmal denke ich, dass wir Liberalen in den letzten Jahrzehnten, wie Havel über die sozialistischen Bürokraten sagt, „damit beschäftigt waren, überhaupt nichts zu tun“. Vielleicht waren einige von Ihnen realistischer als ich: Aber könnte es sein, dass wir zu sicher waren, dass die Demokratie tatsächlich das „Ende der Geschichte“ ist, wie der amerikanische Philosoph Fukuyama kurz nach 1989 schrieb?
DAS ENDE DER GESCHICHTE VON FRANCIS FUKUYAMA
Hamburg: Kindler, 511 Seiten | € 19,95 (Gebundenes Buch)
ISBN: 978-3463401324
Erscheinungstermin: 1. Januar 1992
Aber so sieht das Ende der Geschichte wahrscheinlich tatsächlich aus: eine Rückkehr oder sogar eine Rache der Vergangenheit an der Gegenwart. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Prag, in der Stadt, in der 1968 die Idee des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ entwickelt wurde. Sie wurde von russischen Panzern zerschlagen, aber noch 1989 hofften nicht wenige Menschen auf ein vereintes Europa, das weder sozialistisch noch kapitalistisch gewesen wäre, sondern das Beste aus beiden Systemen vereint hätte. Was wir dagegen bekamen, war die Vereinigung der alten sozialistischen und kapitalistischen Eliten – unter dem Banner des Nationalismus. Vor einigen Wochen sagte mir eine serbische Philosophin:
„Als die Berliner Mauer fiel, wurde uns zu spät klar, dass sie auf uns, die Ex-Jugoslaw:innen, gefallen war.“
Aber ich denke, sie ist auf uns alle gefallen, auf alle Europäer:innen. Als Václav Havel vor 35 Jahren Präsident wurde – ich war damals 12 Jahre alt – schien es, als hätte sich der platonische Traum erfüllt: ein Philosoph an der Macht! Aber der Mann, der so viele Jahre im Gefängnis verbracht hatte, der zensiert worden war, der so viel gelitten hatte – auch er konnte den Aufstieg des Nationalismus nicht verhindern, zum Beispiel die Teilung der Tschechoslowakei.
Das berühmteste Zitat aus der griechischen Tragödie lautet: „Leide und lerne“, aus Aischylos’ Orestie. Doch heute, da Nationalismus, Krieg, Zwietracht, Engstirnigkeit, Angst und Zensur in ganz Europa wieder auf dem Vormarsch sind, stellt sich die Frage: Was haben wir seit 1945 und 1989 gelernt? War der sogenannte europäische Traum nur jener Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert? Ob 1945 oder 1989: Ich denke, dass wir nur dann, wenn wir die Vergangenheit versuchen zu verstehen und anzunehmen, die Zukunft zurückgewinnen können. Nicht mit leeren Worten, nicht mit schönen Reden, sondern in jeder Begegnung, in jeder künstlerischen Handlung, in jedem Festival und natürlich bei jeder Wahl. „Wir müssen klare Bilder für vage Ideen finden“, lautet ein berühmtes Zitat von Godard, und ich würde hinzufügen: Wir brauchen klare Taten, wir brauchen direkte Solidarität. Wir brauchen Solidarität mit all denen, die bereits Opfer des neuen Faschismus geworden sind.
Ich weiß, dass Aktivismus genauso leer sein kann wie Worte. Ich weiß, dass das Theater vor allem ein Ort des Zweifels und der Wahrheit ist, ein Ort, an dem wir unsere Fehler eingestehen, an dem wir lachen und weinen können – über uns selbst, unsere Widersprüche, unsere Fehler, unsere Illusionen. Aber das Theater ist auch ein Ort der Revolte, der radikalen moralischen Sensibilität. Jedes Theaterstück, wie melancholisch und absurd, traurig und komisch es auch sein mag, ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft, Verzweiflung und Hoffnung aufeinandertreffen. Oder mit den Worten eines anderen Tschechen, Milos Forman, der über Václav Havel sagte:
„Wenn es einem Dramatiker gelingt, uns zum Lachen oder Weinen zu bringen, oder zu beidem, dann ist er ein Künstler. Wenn es einem Dramatiker aber gelingt, den Sturz einer Diktatur zu inszenieren, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wird, dann ist das ein Wunder.“
Lassen Sie uns dieses Wunder gemeinsam wiederholen. Lassen Sie uns eine zweite Samtene Revolution beginnen. Europa, Demokratie, Freiheit, Vielfalt: Lassen Sie uns diesen Worten wieder eine Bedeutung geben. Denn sonst werden sie bald nichts weiter sein als Poesie aus der Vergangenheit.
Vielen Dank.
Abb. 1: Milo Rau (c) Marc Driessen
MILO RAU
geboren 1977 in Bern, ist Regisseur, Autor und Dozent und war Intendant des NTGent (Belgien). Rau studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Berlin und Zürich u.a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Seit 2002 veröffentlichte er über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Seine Theaterproduktionen waren bei allen großen internationalen Festivals zu sehen, darunter das Berliner Theatertreffen, das Festival d’Avignon, die Biennale Venedig, die Wiener Festwochen sowie das Brüsseler Kunstenfestivaldesarts , und tourten durch über 30 Länder weltweit.
BIITE NEUE DOPPELSEITE WIE BEI EINEM EIGENSTÄNDIGEN ARTIKEL!
After the End of History – Opening Speech of the Prague Crossroads Festival, Prague, at the Czech National Theatre on 6th November 2024
BY MILO RAU
At the opening of the Prague Crossroads Festival, MILO RAU gave a stirring speech, which he freely made available to ZUKUNFT. We are publishing this speech in the original English version and a German translation in order to draw attention, especially in view of our issue on theatre, to the dangers of democratic politics that are currently deeply affecting the cultural sector.
Dear Friends,
I am delighted to be here in Prague to open the Prague Crossroads Festival, which I am told was founded in honor of Václav Havel, one of the greatest playwrights and politicians that Europe has known in the last century. It feels, as you might imagine, crazy to be speaking in Prague at a moment like this: It is the day when it seems that Donald Trump will win the American elections and become president again. At the same time, we are celebrating this month the 35th anniversary of the Velvet Revolution, also called the “Gentle Revolution” – and thus the fall of the Stalinist dictatorship in large parts of Europe. Two glimpses into the past: a creepy return on the one hand, a moment of historical hope on the other.
Until recently, opening a theatre festival in Europe was a purely formal act. You thanked the sponsors and rattled off the usual buzzwords: democracy, freedom, diversity, Europe – you name it. So, as I prepared for this speech, I couldn’t help but think of Havel and the bureaucratic language he created for his absurd theatre plays. He called it “Ptydepe”: a meaningless set of empty phrases, developed by a central bureaucracy, for the use by employees kept busy doing nothing at all.
As you know, I come to you from Austria: not Havel’s, but Hitler’s home country. For the first time since the fall of National Socialism, we have had a far-right parliamentary president for two weeks now. His first official act was to invite the Hungarian president, Victor Orbán, to Vienna. Another demagogue – Kickl, the leader of our far-right Party, Austria’s Freedom Party that won the elections – and Orbán signed a paper in which they demand “peace” – meaning peace with Russia – and the dissolution of the European Union. In this nice paper, the union of Austria and Hungary is called “the axis” – I don’t need to remind you who last called a political alliance in Europe an “axis”. But that’s not surprising from a party that wants to ban more or less everything that is not “Austrian” enough, including my own festival, and yet calls itself the Freedom Party.
Whatever one wants to say about this neo-fascist language: it is not “Ptydepe” – but a very clear language. A language of hatred, of power. They don’t want crossing roads, they want parallel roads, they don’t want Europe, they want national states. Sometimes I think that we liberals have been, as Havel says about the socialist bureaucrats, “busy doing nothing at all” in recent decades. Perhaps some of you were more realistic than me: But could it be that we were too sure that democracy was indeed the “End of History”, as the American philosopher Fukuyama wrote shortly after 1989?
THE END OF HISTORY AND THE LAST MAN
VON FRANCIS FUKUYAMA
New York: Free Press
464 Seiten | € 23,50 (Gebundenes Buch)
ISBN: 978-0743284554
Erscheinungstermin: 1. März 2006
But that is probably what the end of history actually looks like: a return, or even a revenge of the past on the present. I am in Prague for the first time in my life, in the city where the idea of socialism with a human face was developed in 1968. It was smashed by Russian tanks, but still in 1989, more than a few people hoped for a united Europe that would have been neither socialist nor capitalist, but would have combined the best of both systems. What we got was nothing more than the unification of the old socialist and old capitalist elites – under the banner of neo-nationalism. A few weeks ago, a Serbian philosopher told me a joke:
“When the Berlin wall fell, we realized too late that it had fallen on us, the Ex-Yugoslavs.”
But I think it fell on all of us, all Europeans. When Václav Havel became president 35 years ago – I was 12 at the time – it seemed as if the old platonic dream had been fulfilled: the philosopher in power! But the man who had spent so many years in prison, who had been censored, who had suffered so much – he too could not prevent the rise of nationalism, for example the division of Czechoslovakia.
The most famous quote from Greek Tragedy is: Suffer and learn, from Aeschylus’ Oresteia. But today, as nationalism, war, discord, small-mindedness, fear and censorship are once again returning throughout Europe, the question arises: what did we learn since 1945 and 1989? Was the so-called European dream merely that sleep of reason that produces monsters? Be it 1945 or 1989: I think that only by understanding, embracing the past can we reclaim the future. Not in empty words, not with nice speeches, but in every encounter, in every artistic act, in every festival, and of course: in every election. “We need to find clear images for vague ideas,” is a famous quote from Godard, and I would add: We need clear actions, we need direct solidarity. We need solidarity with all those who have already become victims of the new fascism.
I know that activism can be as empty as words. I know that theatre is above all a place of doubt and a place of truth, a place where we admit our failures, where we can laugh and cry – about ourselves, our contradictions, our mistakes, our illusions. But theatre is also a place of revolt, of radical moral sensitivity. Every play, however melancholic and absurd, sad and funny it may be, is a place where past and future meet, despair and hope. Or, in the words of another Czech, Milos Forman, who said about Václav Havel:
“If a playwriter succeeds in making us laugh or cry, or both, he’s an artist. But if a playwright succeeds in orchestrating the overthrow of a dictatorship without a single bullet being fired, it’s a miracle.”
Let’s make this miracle happen again. Let’s start a second Gentle Revolution. Europe, democracy, freedom, diversity: Let’s give back meaning to these words. Because otherwise, they will soon be nothing more than poetry from the past.
Thank you.
MILO RAU
born in Bern in 1977, is a director, author and lecturer and was director of the NTGent (Belgium). Rau studied sociology, German and Roman languages and literature in Paris, Berlin and Zurich with Pierre Bourdieu and Tzvetan Todorov, among others. Since 2002, he has published over 50 theatre plays, films, books and actions. His theatre productions have been shown at all major international festivals, including the Berlin Theatertreffen, the Festival d’Avignon, the Venice Biennale, the Wiener Festwochenand the Brussels Kunstenfestivaldesarts, and have toured over 30 countries worldwide.