In seinem Beitrag entwirft WOLFGANG MARKYTAN eine radikale Kritik am Wiederaufleben feudaler Herrschaftsverhältnisse in der Gegenwart. Er zeigt, wie digitale Konzerne und politische Ohnmacht den Weg für einen neuen Feudalismus ebnen – und wie demokratische Gegenmacht heute neu gedacht werden muss.
I. Legitimation von Ausbeutung: Der Feudalismus als politisch-theologisches Herrschaftsmodell
Feudalismus war kein „natürlicher“ Ordnungszustand, sondern ein historisch gewachsenes Herrschafts- und Ausbeutungssystem, das auf struktureller Gewalt, sozialer Hierarchisierung und ökonomischer Abhängigkeit beruhte. Vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit zementierte er die Macht von Königen, Adel und Kirche, während die breite Bevölkerungsmehrheit – vor allem Bauern, Handwerker*innen und Dienstbot*innen – entrechtet, wirtschaftlich ausgebeutet und politisch entmündigt wurde. Der zentrale Mechanismus bestand im sogenannten Lehnswesen: Land – die ökonomische Grundlage jeder Existenz – wurde von oben nach unten weitergegeben, nicht nach demokratischen oder meritokratischen Prinzipien, sondern allein auf Basis von Geburt, Loyalität und persönlicher Abhängigkeit.
Feudalismus war mehr als bloße politische Zersplitterung: Er war Ausdruck eines umfassenden Systems der Reproduktion von Ungleichheit. Die rechtliche Stellung des Einzelnen war nicht das Ergebnis von Verträgen oder Gleichheit vor dem Gesetz, sondern abgeleitet aus seinem Stand. Bildung, Eigentum, Rechtsprechung und sogar die religiöse Deutungshoheit waren fest in der Hand der herrschenden Klassen. Die Kirche verlieh dieser Ordnung eine theologische Legitimation und stabilisierte sie ideologisch: Armut galt als gottgewollt, soziale Mobilität als sündhaft, Aufbegehren als ketzerisch. Dieses System war nicht reformfähig, weil es auf der Exklusivität von Privilegien und der systematischen Unterdrückung basierte. Die Überwindung des Feudalismus war daher kein „natürlicher Fortschritt“, sondern Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe: bäuerlicher Revolten, städtischer Aufstände, der Aufklärung und der revolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Erst durch diese kollektiven Auseinandersetzungen konnten grundlegende Rechte – wie politische Partizipation, Bildung, rechtliche Gleichheit – überhaupt erstritten werden. Der Feudalismus war somit der erklärte Gegner jeder emanzipatorischen Politik – und bleibt es in seiner modernen Gestalt bis heute.
Dabei war Feudalismus nicht nur ungerecht, er war auch instabil. Hinter der scheinbaren Ordnung verbargen sich strukturelle Spannungen, die das System immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs führten. Die Macht war dezentral verteilt, was zu endlosen Auseinandersetzungen zwischen Fürsten, Bischöfen und Königen führte – oft auf dem Rücken der Bevölkerung. Die systematische Unterdrückung der Mehrheit durch eine kleine, privilegierte Elite erzeugte Unzufriedenheit, Aufstände und soziale Verwerfungen. Bauernkriege, Stadtaufstände, die Reformation – sie alle waren Ausdruck eines elementaren Widerstands gegen eine Ordnung, die die Würde und Selbstbestimmung des Menschen verneinte. Zugleich erzeugte das System künstliche Gegensätze und ideologische Trennlinien: zwischen Adel und städtischem Bürgertum, zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen kulturellem Anspruch und sozialer Realität. Feudalismus war kein innovationsfreundliches System – er blockierte Fortschritt, band Gesellschaften an überkommene Normen und verschloss sich dem Gedanken der sozialen Mobilität. Die Befreiung von dieser Herrschaftsform war kein Automatismus, sondern das Resultat verlustreicher Kämpfe und tiefer gesellschaftlicher Konflikte. Die Feudalordnung wich erst, als revolutionäre Bewegungen, aufklärerische Denker*innen und soziale Kräfte von unten sie zum Einsturz brachten.
II. Feudalismus heute: Neofeudale Tendenzen im digitalen und globalen Kapitalismus
Doch wer glaubt, mit dem Ende des klassischen Feudalismus sei das Kapitel abgeschlossen, täuscht sich. In der Gegenwart erleben wir eine bedrohliche Rückkehr seiner Prinzipien – wenn auch in neuer Gestalt. Unter dem Begriff „Neofeudalismus“ formieren sich ökonomische und politische Machtverhältnisse, die erneut auf Abhängigkeit, Exklusion und struktureller Intransparenz beruhen. Während der klassische Feudalismus auf Grundbesitz und Standesordnung basierte, gründet der moderne in digitaler Infrastruktur, Plattformökonomien und monopolistischer Kontrolle über Information, Zugang und Arbeit. Global agierende Digitalkonzerne wie Amazon, Alphabet (Google) oder Meta agieren längst nicht mehr als wirtschaftliche Akteure unter staatlicher Kontrolle – sie sind zu supranationalen Machtzentren geworden, die zentrale Bereiche der Kommunikation, des Konsums und der Arbeitswelt dominieren.
Wie einst Lehnsherren definieren diese Konzerne die Spielregeln einseitig: Wer auf ihren Plattformen sichtbar sein oder arbeiten will, muss sich ihren Geschäftsbedingungen unterwerfen – ob Content Creator, Paketdienstleisterin oder Restaurantbetreiber. Mitbestimmung, Mitgestaltung, rechtlicher Schutz? Fehlanzeige. Die sogenannte Gig Economy reproduziert dabei neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse: Menschen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen, oft scheinselbstständig, immer kontrolliert durch Algorithmen, Bewertungsmechanismen und technische Systeme, deren Funktionsweise ihnen verschlossen bleibt. Es ist ein Arbeitsmarkt ohne Tarifbindung, ohne Betriebsräte, ohne soziale Absicherung – aber mit umso größerer Disziplinierung durch Daten, Reputationsökonomie und wirtschaftliche Erpressbarkeit. Besitz – früher das Land, heute die Plattform – wird erneut zur Quelle asymmetrischer Macht.
Diese Entwicklung fällt nicht vom Himmel. Sie ist auch das Ergebnis eines politischen Rückzugs: Seit den 1980er-Jahren wurde der demokratische Sozialstaat systematisch entkernt, getrieben von der Ideologie der Deregulierung, der Marktgläubigkeit und des schlanken Staates. Dabei waren es gerade die staatlich regulierten, sozialpartnerschaftlich abgestützten Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, die historische Errungenschaften ermöglichten: gerecht verhandelte Löhne, Arbeitszeitverkürzung, Ausbau der Kranken- und Pensionsversicherungssystemen, progressive Steuerpolitik, Bildungsexpansion, Mieter*innenschutz. Der Staat handelte – zumindest in den allermeistern Fällen – im Interesse der breiten Bevölkerung, er regulierte Eigentum, zähmte Kapitalmacht und verteidigte soziale Teilhabe. Diese Balance, mühsam errungen durch gewerkschaftliche Kämpfe, antifaschistische Nachkriegspolitik und sozialdemokratische Reformprojekte, ist heute tief erschüttert.
Denn im Neofeudalismus der Gegenwart sind es nicht gewählte Parlamente oder soziale Bewegungen, die über die Grundordnung des Zusammenlebens entscheiden, sondern undurchsichtige Netzwerke aus Konzernen, Lobbygruppen und Technokratien. Monopole ersetzen demokratische Aushandlung, Marktregeln verdrängen politische Gestaltung. Die Logik lautet nicht mehr Verteilungsgerechtigkeit, sondern Effizienz – nicht Gemeinwohl, sondern Rendite. Selbst öffentliche Infrastrukturen wie Verkehr, Wohnen oder Gesundheitswesen werden zunehmend nach privatwirtschaftlichen Kriterien organisiert, oft mit katastrophalen sozialen Folgen.
Besonders dramatisch ist die Lage in autoritär oder semi-autoritären Staaten, wo die Rückkehr zu feudalistischen Mustern offen zutage tritt. Dort regieren Clans, Dynastien oder Einparteienapparate über Menschen, als wären diese ihr Eigentum. Loyalität ersetzt demokratische Legitimation, Macht wird wie ein Lehen vererbt. In vielen Regionen des Globalen Südens herrschen bis heute agrarische Abhängigkeitsverhältnisse, die faktisch an Leibeigenschaft erinnern. Die Schwäche oder bewusste Aushöhlung staatlicher Strukturen öffnet hier Oligarchen, Großgrundbesitzern oder internationalen Konzernen Tür und Tor – mit verheerenden Konsequenzen: Rechtlosigkeit, Landraub, gewaltsame Vertreibung, systemische Armut.
Diese globalen Entwicklungen zeigen eines mit aller Deutlichkeit: Feudalismus ist nicht Geschichte, sondern Gefahr. Er kehrt zurück – nicht mit Schwert und Kette, sondern mit Serverfarmen, Mietplattformen und Shareholder-Boni. Wer das nicht erkennt, riskiert die schleichende Entkernung demokratischer Errungenschaften und die Rückkehr einer Ordnung, in der Macht nicht durch Recht, sondern durch Besitz und Zugriff organisiert ist.

DIGITALER KAPITALISMUS. MARKT UND HERRSCHAFT IN DER ÖKONOMIE DER UNKNAPPHEIT VON PHILIPP STAAB
Berlin: Suhrkamp 345 Seiten | € 17,99 (Gebundenes Buch)
ISBN: 978-3-518-07515-9 Erscheinungstermin: 1. November 2019
III. Demokratie gegen Feudalismus: Für eine neue politische Ordnung im 21. Jahrhundert
Umso dringlicher ist es, dieser Entwicklung eine neue demokratische Gegenkraft entgegenzustellen – nicht als nostalgische Rückkehr zu früheren Ordnungsmustern, sondern als bewusste politische Neugründung demokratischer Handlungsfähigkeit im 21. Jahrhundert. Der erste Schritt dazu ist die Wiederherstellung eines aktiven, steuernden Gemeinwesens, das sich seiner Verantwortung nicht entzieht, sondern sie offensiv wahrnimmt. Die Vergesellschaftung kritischer Infrastrukturen – also derjenigen Bereiche, die das alltägliche Leben aller Menschen strukturieren, wie Mobilität, Energie, Kommunikation, Wohnen und Gesundheitsversorgung – ist dabei keine ideologische Forderung, sondern eine demokratische Notwendigkeit. Infrastrukturen, auf die alle angewiesen sind, dürfen nicht privaten Gewinninteressen unterworfen bleiben, sondern müssen nach den Prinzipien des Gemeinwohls organisiert, kontrolliert und entwickelt werden.
Ebenso zentral ist die demokratische Kontrolle über die digitalen Märkte, die heute weitgehend in der Hand transnationaler Tech-Konzerne liegen. Plattformen, auf denen öffentliche Debatten stattfinden, Arbeitsbeziehungen organisiert und Konsumverhalten gesteuert wird, sind längst zu neuen politischen Räumen geworden – nur ohne politische Kontrolle. Es braucht demokratisch legitimierte Institutionen auf nationaler wie internationaler Ebene, die Plattformregeln, algorithmische Entscheidungen und Datenökonomien nicht nur beobachten, sondern verbindlich gestalten. Das bedeutet: vollständige Transparenz über algorithmische Logiken, offene Schnittstellen für gemeinwohlorientierte Alternativen, Mitbestimmungsrechte für Nutzer*innen und Arbeiter*innen, öffentliche Einsicht in kommerzielle Datenverwertung – kurz: eine demokratische Rückeroberung des digitalen Raums.
Dazu gehört auch eine neue Verständigung über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Der Staat darf sich nicht länger als Dienstleister*in der Wettbewerbsfähigkeit oder als Moderator*in von Marktkrisen verstehen, sondern muss wieder politisch gestaltende Akteur*in werden – mit dem klaren Mandat, Ungleichheit zu bekämpfen, demokratische Verfahren zu stärken und soziale Sicherheit als Grundlage individueller Freiheit zu garantieren. Das erfordert eine Re-Regulierung zentraler Lebensbereiche, eine Umverteilung wirtschaftlicher Macht und eine neue Definition des Eigentumsbegriffs: Eigentum ist nicht länger nur privatrechtlicher Anspruch auf Verfügung, sondern umfasst auch eine politische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, in der es entsteht. Wer von öffentlicher Infrastruktur profitiert, wer Daten sammelt, Arbeitskraft nutzt, soziale Netzwerke formt, muss sich öffentlichen Regeln, demokratischer Kontrolle und sozialer Rechenschaft unterwerfen.
Ein Projekt dieser Größenordnung verlangt Mut. Es verlangt den Bruch mit der technokratischen Illusion, wirtschaftlicher und technologischer Wandel vollziehe sich alternativlos. Es verlangt den Bruch mit der Ideologie der Unpolitischen, die Herrschaft im Gewand vermeintlicher Neutralität ausüben. Und es verlangt klare Begriffe: Dass Freiheit mehr ist als Markt, dass Teilhabe mehr ist als Zugang, dass Gleichheit mehr ist als Chancengleichheit. Die demokratische Gegenmacht zum Neofeudalismus muss in der Lage sein, neue Formen kollektiver Selbstbestimmung zu schaffen – in der Wirtschaft, im digitalen Raum, in der Organisation von Arbeit und Versorgung. Sie muss die Regeln des Zusammenlebens zurück in die Hände der Vielen legen. Es geht nicht nur darum, die alten Feudalherren von den Burgen zu vertreiben – sondern darum, ihre digitalen Erben zu entmachten, bevor sie ihre Herrschaft erneut als „Ordnung“ maskieren. Demokratie muss wieder bedeuten: die Verfügung über die eigenen Lebensverhältnisse in gemeinsamen, öffentlich kontrollierten Räumen. Nur so lässt sich verhindern, dass das 21. Jahrhundert nicht zur Epoche des Rückfalls wird – sondern zu einer Zeit der demokratischen Erneuerung.
IV. Die Vielen gegen die neuen Herren: Gegen Neofeudalismus hilft nur organisierter Widerstand
Die historische Überwindung des Feudalismus war ein emanzipatorischer Bruch – die Verteidigung gegen seinen Wiedereinzug in digitaler Verkleidung ist die zentrale politische Aufgabe der Gegenwart. Was auf dem Spiel steht, ist nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft selbst. Wer die Macht über Infrastruktur, Kommunikation, Arbeit und Wissen in wenigen Händen duldet, riskiert eine autoritäre Refeudalisierung unserer Lebensverhältnisse. Die Antwort darauf kann nur ein neues demokratisches Projekt sein: eines, das Eigentum und Macht neu verteilt, Gemeingüter schützt, digitale Räume zurückerobert und staatliche Eingriffe im Sinne der Mehrheit nicht als Makel, sondern als Ausdruck politischer Souveränität versteht. Gegen den Neofeudalismus hilft kein Management – sondern nur organisierter Widerstand, politischer Gestaltungswille und die Wiederaneignung öffentlicher Macht. Es ist Zeit, sich nicht länger mit den Trümmern einer ausgehöhlten Demokratie zu arrangieren – sondern sie neu aufzubauen: solidarisch, gerecht, unbestechlich. Für eine Zukunft, in der die Vielen regieren – und nicht die Wenigen verfügen.
WOLFGANG MARKYTAN
ist Bundesbildungsgeschäftsführer der SPÖ und seit über zwei Jahrzehnten in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Als regelmäßiger Leser und Beitragsautor der Zukunft publiziert er zu politischen, historischen und gesellschaftlichen Themen – stets mit dem Anspruch, emanzipatorische Errungenschaften sichtbar zu machen und „Teile der guten alten Zeit“ kritisch in die Gegenwart zu überführen, ohne dabei Fortschritt und Wandel geringzuschätzen.
