Editorial ZUKUNFT 11/2024: Künstliche Intelligenz – VON ALESSANDRO BARBERI

Angesichts der Dritten Industriellen Revolution durch Digitalisierung, Automatisierung, Computer, Kybernetik und Künstliche Intelligenz (KI) stellt sich auch im Blick auf die traditionsreiche Technologiefreundlichkeit der Arbeiter*innenbewegung die Frage nach den gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Auswirkungen der aktuellen (digitalen) Produktionsbedingungen. Wenn der Begriff der Artificial Intelligence (AI) bereits im Rahmen der Dartmouth Conference (1956) – u. a. von Marvin Minsky und Claude Elwood Shannon – geprägt wurde, so ist es zeithistorisch bemerkenswert, dass sich an den grundlegenden gesellschaftspolitischen Problemstellungen auch angesichts von Virtual Reality und ChatGPT im Grunde nicht viel geändert hat. Denn auch fast 70 Jahre später geht es um die genaue Bestimmung des Verhältnisses von Mensch(en) und Maschine(n), um die Kybernetisierung und Digitalisierung der Arbeits-, Lebens- und Bildungswelt bzw. um die Frage, ob Maschinen Bewusstsein, Gefühle oder eben Intelligenz entwickeln können.

Dabei war das Auftauchen neuer Technologien immer auch gleichzeitig mit Euphorie und Pessimismus verbunden, was auf grundlegende Problemzonen der menschlichen Geschichte und damit auch der Moderne verweist. Da es alltäglich geworden ist, davon auszugehen, dass Maschinen „lernen“ und Menschen „schalten“ steht deshalb im Sinne der sehr interessanten Diskussionen zum Digitalen Humanismus eine Neubestimmung der Grenzen aus, die das Menschliche vom Technologischen trennen. Denn wenn wir Menschen als Maschinen begreifen, wird die Freiheit menschlicher Entscheidungen schon theoretisch durch den Determinismus der Technik ausgeschaltet, was auch einer Zerstörung des Denkens und der Demokratie gleichkommt. Deshalb hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, dem Thema Künstliche Intelligenz eine eigene Ausgabe zu widmen, um verschiedene Aspekte der KI unter die Lupe zu nehmen und ihre Relevanz für unsere Gesellschaften zu diskutieren.

Dies beginnt mit einem Beitrag von David Kirsch, der vorschlägt, dem aktuellen Datenhype nicht zu glauben, um Zehn Thesen zu KI und Digitalem Humanismus in die Diskussion einzubringen. Dabei zeigt unser Autor auf, wie technologische Entwicklungen verantwortungsvoll und menschenzentriert gestaltet werden können, um den größtmöglichen Nutzen für die Gesellschaft zu erzielen. Gesichert ist auch, dass KI nicht einfach die Lösung all unserer Probleme sein kann, weil z. B. der öffentliche Sektor in unseren Demokratien nicht Silicon Valley ist und mithin auch dessen Californian Ideology kritisiert werden muss. Wenn also die Gefahr der Verschärfung von sozialen Ungleichheiten vor Augen steht, so kann doch auch betont werden, das KI ein enormes Potenzial besitzt, unsere Gesellschaft gerechter und inklusiver zu gestalten. Wir müssten es also schaffen, KI im Einklang mit den Werten des Digitalen Humanismus zu gestalten, um den technologischen Fortschritt zu einer Kraft werden zu lassen, die nicht nur Arbeitsprozesse verbessert, sondern auch soziale Gerechtigkeit und menschliche Würde garantiert und fördert.

Der Beitrag von Franz Hoheiser-Pförtner gibt in der Folge pointiert Auskunft zur derzeitigen europäischen Lage im Bereich der KI und diskutiert ausgehend vom EU Artificial Intelligence Act Erwartungen und Wünsche an die Politik. Der Artikel beschreibt damit auch die (medien-)pädagogischen Herausforderungen und Maßnahmen für Ausbildungseinrichtungen, die für eine demokratische Zukunft angesichts von KI nötig sind. Der EU Artificial Intelligence Act stellt dahingehend einen normativen Rahmen dar, um diese Herausforderungen anzugehen. Dass etwa der Digital Divide und die lebenslange Bildung gerade dann eine demokratische Rolle spielen könnten, wenn auf Open-Source-Prinzipien zurückgegriffen wird, führt unseren Autor zu der Erkenntnis, dass sich für Österreich so die Chance ergibt, seine Position als verantwortungsbewusster und innovativer Technologiestandort zu festigen, wenn die Politiker*innen sich über die Tragweite ihrer zukunftsträchtigen Entscheidungsmöglichkeiten bewusst werden.

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) betrifft den gesamten sozialen Raum, was auch der Beitrag von Gregor Kucera belegt, der die Zukunft der Kunst analysiert und hervorhebt, das KI mit Dall-E, ChatGPT und Mindjourney in Bereiche eingreift, die bislang Menschen vorbehalten blieben. Dies hat auch massive Auswirkungen auf die Kreativbranche: Was ist also Kreativität, wie wird sie von KI gekapert und wie wollen wir in Zukunft mit ihr leben und arbeiten? Es ist in diesem Zusammenhang selten, dass derartige essenzielle Fragen zum Menschsein an sich auf eine Technologie treffen, von der noch niemand weiß, ob sie die Welt zum Besseren oder Schlechteren hin verändern wird. Dabei stellt sich z. B. auch angesichts von Fake News die Frage, was eigentlich noch „stimmen kann“ und was genau eine Fälschung ist. Eben diese Unterscheidung müssen Menschen aber treffen können, da sie sonst nur allzu leicht manipulierbare Lebewesen wären, die sich auf einfache Erklärungen verlassen könnten.

Wie die Technologien der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz unser Bildungssystem zutiefst transformieren werden, ist dann Ausgangspunkt der Argumentation von Gregor O. Novak. Er geht der Rolle und Funktion der KI in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft nach, um vor allem mögliche Veränderungen im Bildungssystem und Fragen der Chancengleichheit zu diskutieren. Menschen lernen – und dies ganz im Gegensatz zu Maschinen – durch Zuhören und Zusehen, Greifen und Begreifen, Interagieren und Gebrauchen, Spielen und Spaß sowie durch Tun und Fehlermachen. Während also die Sinnhaftigkeit der Digitalisierung des Unterrichts durchaus in Frage gestellt werden kann, wird der Einsatz von KI in der Bildung diese grundlegend revolutionieren. Wer mithin denkt, dass es ausreichend ist, im Unterricht vor den Gefahren von KI zu warnen, aber die Art und Weise der Wissensvermittlung nicht ändert, der wird ebenso wie bei der Digitalisierung scheitern. Wir müssen daher Bildung im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz neu denken.

Damit auch die eher „pessimistischen“ Sichtweisen nicht zu kurz kommen, hat sich Josef Redl vorgenommen, mit seinem Artikel die Schattenseiten der Digitalisierung zusammenzufassen. Dass dabei ohne Digitalisierung heute vermutlich kaum mehr etwas funktionieren würde, ist ausgemacht. Dennoch müssen auch deren Kehrseite(n) für bestimmte Bevölkerungsgruppen und für die Gesellschaft insgesamt bedacht werden, weshalb unser Autor daran erinnert, dass es nach wie vor ein Recht auf analoges Leben gibt. Denn ältere oder schwächere Menschen können nicht ohne Weiteres mit den technologischen Entwicklungen Schritt halten, die nicht per se für mehr Inklusion, Demokratie oder Gesundheit sorgen werden. So belegen z. B. mehrere medizinische Befunde, dass die Digitalisierung eine Gefahr für die Gehirnentwicklung und die Augengesundheit darstellt. Redl mahnt deshalb ein, dass wir uns diesen dunklen Seiten der Digitalisierung in Hinkunft stärker widmen müssen, weil es sonst zu stillen, aber unabsehbaren gesellschaftlichen Verwerfungen kommen kann.

Angesichts der damit verbundenen inneren Polarisierungen unserer Gesellschaft untersucht dann Alessandro Barberi das „steile normative Gefälle“ (Jürgen Habermas) unserer liberalen Demokratien im Blick auf die normative Kraft der Ideale der Französischen und angesichts der aktuellen Industriellen Revolution. Der Beitrag setzt daher mit der Erkenntnis ein, dass unsere freien Gesellschaften es in ihrer demokratischen Verfassung auf verschiedenen Ebenen mit den Vor- und Nachteilen der Digitalisierung und der KI zu tun haben. Denn auch Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind angesichts von digitalen Kontrollmechanismen und Künstlicher Intelligenz im Rahmen des Informationskapitalismus in Gefahr. Dies wird kursorisch an der Causa Snowden erläutert, die im Sommer 2013 die fatale Rolle von Überwachungstechnologien vor Augen führte und auch heute noch von großer Brisanz und Aktualität ist. Dabei geht es nachdrücklich um eine kapitalismuskritische Perspektive, wenn vor Augen steht, dass Technologien – wie jene der KI – gegenwärtig nicht durchgängig zu humanen Zwecken eingesetzt werden.

Wie stark mithin menschliche Entscheidungen – durch den Determinismus des Maschinellen im Gegensatz zum Gemeinsamen von Creative Commons – durch ungerechte Eigentumsverteilungen bedroht sind, diskutiert dann auch Bardo Herzig, der den bemerkenswerten Band Individuelles Handeln und Gemeinwohl des renommierten Pädagogen Gerhard Tulodziecki rezensiert. Welche Faktoren nehmen angesichts der KI Einfluss auf unser Handeln in Alltag, Beruf und Freizeit? In der Aufarbeitung derartiger Fragen entwickelt Tulodziecki eine differenzierte und fundierte Handlungstheorie, die gleichzeitig als begründetes Postulat eines reflexiv eingestellten und gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts verstanden werden kann, was durchaus als Plädoyer für eine Aufklärung 2.0 aufgefasst werden muss. Dass solche Modellvorstellungen bzw. damit verbundene Leitideen als insgesamt „offener Entwurf“ zu verstehen sind, demonstriert Tulodziecki eindrücklich in der medienpädagogischen Konfrontation dieses Konzepts mit aktuellen Entwicklungen im Bereich der KI.

Des Weiteren freut es die Redaktion der ZUKUNFT erneut auf die ZEITGESPRÄCHE mit Gerhard Schmid verweisen zu können. Bereits im Juni 2020 hat die SPÖ-Bundesbildungsorganisation in Zusammenarbeit mit der SPÖ-Bundesgeschäftsstelle, dem Karl-Renner-Institut, dem Roten Rathausklub und der Wiener Bildungsakademie das neue Kommunikationsformat ZEITGESPRÄCHE gestartet. In diesem Rahmen kommt in unserer Ausgabe Marion Wisinger, Präsidentin des österreichischen PEN-Clubs, nicht nur im Blick auf das Verhältnis von Literatur, Menschenrecht und Demokratie zu Wort. Vielmehr geht es auch ihr um das Verhältnis von Medien und Demokratie und mehr noch um die problematische Verschränkung von Künstlicher Intelligenz und Social Media. Vieles muss, so auch Wisinger, im Hinblick auf die KI neu gedacht werden, weshalb gerade angesichts des Bildungsbereichs über den (digitalen) Wissenserwerb, die Wiedergabe von Wissen und vor allem die damit verbundenen Bezugsquellen diskutiert werden muss.

Ganz in diesem Sinne beschließen wir unsere Ausgabe mit einem Beitrag von Johannes Pfaundler-Spiegel, der
sich ebenfalls um Vorteile und Risiken von KI in der Bildung kümmert: Auch sein Artikel beleuchtet die Chancen und Herausforderungen des Einsatzes von KI im Bildungswesen. Ein Problembereich ist dabei die Individualisierung: KI ermöglicht personalisierte Lernprozesse, die auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen abgestimmt sind. Dabei besteht indes das Risiko, dass KI fehlerhafte oder irreführende Informationen generiert, was das Vertrauen in technologische Hilfsmittel untergraben kann. Die Nutzung von KI und Werbe-IDs in Bildungseinrichtungen wirft des Weiteren erhebliche datenschutzrechtliche Fragen auf und macht auch die Förderung von Sozialer Intelligenz notwendig, da trotz technischer Fortschritte die Förderung sozialer Fähigkeiten – wie auch der Medienkompetenz – essenziell bleibt. Der Artikel fordert also abschließend eine politische Verantwortung und proaktive Gestaltung, um die Vorteile von KI sozialdemokratisch zu nutzen und Risiken zu minimieren.

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Wie unsere Leser*innen sicher schon vom Cover weg bemerken konnten, haben Bernd Herger und Alessandro Barberi sich angesichts unseres Themas entschlossen, die gesamte Bildstrecke dieser Ausgabe mit der KI von ChatGPT und Midjourney erstellen zu lassen, um auch auf dieser visuellen Ebene Reflexionen zur Künstlichen Intelligenz zu ermöglichen. Dabei entsprechen die Titel der Bilder – die wir derzeit (noch) unter Creative Commons kostenlos veröffentlichen dürfen – auch den Eingaben, mit denen wir experimentierten.
Ganz am Ende unserer Ausgabe haben wir diese ästhetischen Erfahrungen mit digitaler Bildproduktion auch in einem kurzen Essay zusammengefasst. Was ist also auf der sichtbaren Ebene unserer Bildstrecke künstlich und artifiziell? Und was ist eindeutig menschlich und intelligent?

Der Chefredakteur der ZUKUNFT legt mithin im Namen der Redaktion eine Ausgabe vor, die dabei helfen soll, die Rolle von Digitalisierung, Automatisierung, Computer, Kybernetik und Künstlicher Intelligenz (KI) an der Grenze von Maschine(n) und Mensch(en) besser begreifen zu können, um die damit verbundenen Erkenntnisse auch praktisch und politisch werden zu lassen. Setzen wir also in ZUKUNFT auch auf Menschliche Intelligenz

Es sendet herzliche und freundschaftliche Grüße

Alessandro Barberi

PS: Für das Frühjahr 2025 plant die gesamte Redaktion der ZUKUNFT eine weitere Ausgabe zu Künstlicher Intelligenz, die sich explizit dem Verhältnis von Sozialdemokratie und KI widmen wird … to be (dis-)continued …

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.

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RUBIKWÜRFEL UND HACKER IN DUNKELROT
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