Editorial ZUKUNFT 10/2025 Feudalismus VON CHRISTIAN ZOLLES UND ALESSANDRO BARBERI

In den letzten Jahren haben sich in der Öffentlichkeit Themen behauptet, die, so hätte man bis vor Kurzem noch geglaubt, wie aus der Zeit gefallen scheinen. In den USA, die sich 1776 von der britischen Krone lossagten, regiert ein Präsident, der absolutistisch an der Abschaffung der Gewaltenteilung, der Beschränkung liberaler Meinungsfreiheit und einer oligarchischen Privatisierung der Demokratie arbeitet. Russland sucht den direkten Anschluss an seine imperiale Vergangenheit, reaktiviert älteste Geschichtsmythen und schickt Unzählige in den Heldentod. In der Hauptstadt Ungarns, das sich zunehmend in der Nachfolge Habsburgs als imperiale Pufferzone zwischen Ost und West versteht, wird der Umbau am südlichen Burgberg nach Plänen aus der k. u. k.-Zeit vorangetrieben. Deutschland hat bereits vor Jahren mit dem Berliner Humboldt-Forum eine ähnlich gestaltete Residenz erhalten, die sich gut mit den revitalisierten Korpsgeistern verträgt. Und in Österreich scheint ohnehin alles beim Alten.

Es gibt also triftige Anlässe, sich der Frage zu widmen: Erleben wir eine Rückkehr zu vordemokratischen Führungs- und Lebensstilen? Gehört die ZUKUNFT dem Alten in neuen Kleidern? Und was bedeutet das für Demokratie, Verfassungsstaat und Aufklärung? Vor dem Hintergrund dieser Fragen hat sich die Redaktion dazu entschlossen, die vorliegende Ausgabe dem Thema Feudalismus zu widmen.

Auch wenn der Begriff ‚Feudalismus‘ unter Historiker*innen selbst umstritten ist, hat er seit dem 19. Jahrhundert dazu gedient, Rückentwicklungen anzuprangern, die auf vorrevolutionäre Zeiten hinwiesen. Mit dem Begriff verbunden sind also Elemente einer überlebten Gesellschaftsordnung wie aristokratische Grundherrschaft, naturalwirtschaftliches Lehnswesen und streng personenbezogene Machtausübung bis hin zu Vasallentum und Leibeigenschaft. So sehr man nun einwenden mag, dass die heutigen Vorstellungen von Imperien und Heldentum keineswegs direkt an frühere Zeiten anschließen, dass man im 21. Jahrhundert kaum auf eine mittelalterliche Zivilisationsstufe zurückkehren wird, so gilt dem die Frage entgegenzustellen: Was denn wohl geschieht, wenn republikanische und liberale Errungenschaften sukzessive abgebaut und ausradiert werden, wenn in neureichen Ideologien durchgehend auf älteste reaktionäre Theorien zurückgegriffen wird? Und nach welchem bürgerlichen Recht man sich das eigentlich herausnehmen kann? Darauf gilt es, eine Antwort zu finden.

Um den Einstieg in die Thematik zu erleichtern, ist den Essays dieser Ausgabe ein kurzer Lexikoneintrag von Anne-Marie Dubler zum Thema Feudalismus vorangestellt. Daraus geht vor allem der Bedeutungswandel hervor, den der Begriff im Laufe der Zeit erlebte. Die Ausdrücke féodalité und féodal stammen aus dem Frankreich des 17. Jahrhunderts für die Bezeichnung des Lehnswesens und wurden nach der Französischen Revolution von politischen und geschichtsphilosophischen Inhalten überlagert. Die wirksamste Deutung erfuhr der Feudalismus-Begriff schließlich in der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie, in welcher der Feudalgesellschaft die Bedeutung einer Entwicklungsstufe zwischen der antiken Sklavenhalter- und der modernen kapitalistischen Gesellschaft zukam, als eine ‚ausbeuterische Herrschaft‘. Man kann darin also noch den glauben an den Fortschritt erkennen, der aus dem 19. ins 20. Jahrhundert ausstrahlte und dort auf katastrophalste Weise zerschellte. In der Geschichtswissenschaft hat sich der Begriff jedenfalls mittlerweile von dogmatischen Zuschreibungen gelöst und wurde Teil einer internationalen und interkulturellen Feudalismus-Forschung.

An diese allgemeine begriffsgeschichtliche Einführung schließt der Essay von Wolfgang Markytan an, der der entsprechenden Frage nachgeht, ob wir im globalen Maßstab dabei sind, in ein altes Herrschaftssystem zurückzufallen – in Gestalt digitaler Monopole, undurchsichtiger Plattformregeln und wachsender ökonomischer Abhängigkeit. Der Beitrag zeigt strukturelle Parallelen zwischen historischem Feudalismus und Gegenwart auf und formuliert eine politische Antwort: eine demokratische Reorganisierung von Eigentum, Infrastruktur und Macht im Sinne des Common Wealth, des öffentlichen Gemeinwohls. Es geht mithin um eine solidarische Gesellschaft, die von den Vielen gestaltet wird – nicht von den neuen Oligarchen.

Spezifischer geht Simon Maier dem Terminus Technofeudalismus auf den Grund und legt eine semantische Entwicklungsgeschichte und gegenwartsbezogene Standortbestimmung vor, die der Orientierung dienen soll. Dabei ist zentral, dass alle Tendenzen, die einem Neo-Feudalismus zugeschrieben werden, im Kontext des Digitalen Kapitalismus zu betrachten sind. Wird die Vermengung politscher und ökonomischer Interessen in der US-amerikanischen Politik tagtäglich vor Augen geführt, bei der demokratische Einrichtungen schlicht als Störfaktor behandelt werden, so sind hier die rasanten Entwicklungen im Digitalbereich unbedingt mitzuberücksichtigen. Stellt sich die Frage, was aus der öffentlichen Hand wird, wenn sie nach Algorithmen funktionieren, die den Interessen und Ideologien von Elon Musk, Peter Thiel & Co folgen.

Daran schließt das Interview mit dem Soziologen Sighart Neckel direkt an, das Christian Zolles rund um die Theorie einer derzeit stattfindenden ‚Refeudalisierung‘ geführt hat. Diese macht erst Sinn, wenn man sie im Kontext des Digitalen Kapitalismus bereift. Beispiellos sind dabei die ungeheure Reichtumskonzentration seit der Finanzkrise 2008 und das immer engere Zusammenspiel von ökonomischer und politischer Macht. Diese Prozesse spitzen sich in den USA gerade auf dramatische Weise zu und führen vor Augen, dass demokratische Staaten auf diesem Niveau kaum mehr Berührungsängste mit autokratischen Systemen zu haben scheinen. Eine weitere Entwicklung ist der radikale Abbau einer autonomen bürgerlichen Öffentlichkeit angesichts der überbordenden Rolle, die den digitalen Plattformen mittlerweile zukommt: das öffentliche Wort wird zunehmend von jenen getragen und manipuliert, gegen die es sich allen bürgerlichen Freiheitsversprechen zufolge eigentlichen richten müsste.

Besonders freut es uns, mit Daniel Wisser einen österreichischen Beststellerautor als Beiträger gewonnen zu haben, der die Ausgabe mit einem Essay über die Krise der Demokratie in Zeiten eines neokonservativen und reaktionären Revisionismus ergänzt.  Er stellt fest, dass, wenn es heute eine Krise der Demokratie gibt, es eine Krise der Weiterentwicklung der Demokratie ist. Alle Vorstellungen davon, zu alten, überwundenen Herrschaftsformen zurückzukehren, erweisen sich als weltfremd, verkitscht und ungenau und weisen auf einen mangelnden Willen zur Selbstbestimmung hin – ein Wille, der nur von der Überzeugung und Gewissheit geleitet sein kann, dass dieser Kampf von allen demokratischen Kräften gemeinsam geführt werden muss.∙

Daran anschließend zeigt der Beitrag von Christian Zolles anhand des Konzepts von ‚Post×Feudalität‘ auf, inwieweit wir gerade in Österreich von Nachleben imperialer und feudal-aristokratischer Formen und Haltungen umgeben und bestimmt sind. Eine genaue Analyse dieses Umstands scheint umso notwendiger, als die aktuellen Feudalismen derzeit im Begriff sind, einen nahtlosen Anschluss an die alten reaktionären Strömungen und Ideologien zu suggerieren und erfolgreich an der Geschichte der Imperien anschließen zu können. Je weniger wir uns nun der Freiheiten bewusst sind, die gegenüber absolutistischen und feudal-aristokratischen Formationen gewonnen wurden, desto mehr droht, das lehrt uns die Geschichte nur allzu deutlich, der katastrophale Rückfall in voraufklärerische Unmündigkeit und irrlichternde Nationalmythen.

Der Beitrag von Martin Treml taucht noch tiefer in die österreichische Kultur- und insbesondere Literaturgeschichte ein und widmet sich dem Nachleben der Aristokratie in der Kunst. Postaristokratie gilt seit der Antike als inspirierte Schöpfung und ist daher mit der Überhöhung ihrer Vertreter*innen bestens vertraut. Sie faszinieren ihres Leids wegen, denn sie gehören einer außeralltäglichen Welt an, die lange Zeit als heilig galt und heute Teil der Popkultur ist. Gerade Autorinnen erscheinen im älteren Register der tragischen, sich opfernden oder geopferten Königin – wie Ingeborg Bachmann und ihre kulturell unbewussten Vorbilder. Wer hätte gedacht, dass Bachmann mit Sisi und Marie Antoinette in eine Reihe gestellt werden kann?

Es freut uns, mit dem museum in progress eine renommiere künstlerische Institution für die Bildstrecke gewonnen zu haben. Der Leiter Kasper Mühlemann Hartl gibt am Ende unserer Ausgabe einen kurzen Einblick in die Tätigkeiten und Geschichte des auf progressive Künste spezialisierten Museums. Einer breiteren Öffentlichkeit und vor allem Opernliebhaber*innen ist es bekannt für die künstlerische Überblendung des politisch schwerbelasteten Eisernen Vorhangs in der Wiener Staatsoper. Somit kann zum Abschluss dem reaktionären Schwerpunktthema der Ausgabe eine progressive, in die ZUKUNFT weisende Ausrichtung entgegengehalten werden.

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

Christian Zolles und Alessandro Barberi

CHRISTIAN ZOLLES

ist Kulturhistoriker und Hochschul-/Lehrer. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an den Schnittstellen von historischer Grundlagenforschung, Geschichts- und Kulturtheorie und Literaturwissenschaft. Er lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: https://www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/.

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.