„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kōmmt drauf an sie zu verändern.“ Es gibt wohl in der Philosophie- und Menschheitsgeschichte keinen Satz, der so oft diskutiert und seinerseits interpretiert wurde, wie diese berühmt gewordene elfte These über Feuerbach, die Karl Marx wahrscheinlich im Frühjahr 1845 in Brüssel in einem seiner Notizbücher niederschrieb. Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums (1841) war gerade erschienen und hatte mit seiner Transformation von Theologie in Anthropologie einen wichtigen Anteil an der sog. Hegelschen Linken, deren radikale Religionskritik ohne Feuerbach nicht denkbar ist. Dabei stellen Marxens elf Thesen über Feuerbach in verdichteter Form die erste Ausformulierung der materialistischen Geschichts- und Philosophieauffassung von Marx und Engels dar. Friedrich Engels entdeckte die elf Thesen erst 1888 und erstellte eine erste Transkription, die in der Folge zur Basis der weiteren Diskussionen wurde. Bemerkenswerterweise wurden jedoch bis heute die fünf handschriftlichen Manuskriptseiten der Feuerbachthesen nie zur Gänze im Deutschen veröffentlicht und finden sich deshalb auch nicht in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) oder den Marx-Engels-Werken (MEW).
Denn diese fünf Seiten wurden erst 1924 in Moskau im Archiv K. Marx und F. Engels publiziert, weshalb es für die Redaktion der ZUKUNFT ein ganz besonderes (philologisches und politisches) Ereignis darstellt, die elf Thesen über Feuerbach fast genau 100 Jahre später und erstmals zur Gänze im deutschsprachigen Raum publizieren zu können. So finden sich am Beginn unserer Ausgabe ad Feuerbach die fünf faksimilierten Seiten aus Marxens Notizbuch, die wir für unsere Leser*innen mit einer möglichst genauen historisch-kritischen Transkription versehen haben, die Chefredakteur Alessandro Barberi erstellt hat. Die Feuerbachthesen wurden auch in Moskau transkribiert, weshalb wir die drei Seiten der damaligen Übertragung ebenfalls in diese Ausgabe aufgenommen haben. Diese Transkription ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass sie die Unterschiede zur Engelschen Fassung mit 29 Fußnoten vermerkt, die eine konzentrierte Diskussion der Rezeptionsgeschichte von allen elf Thesen über Feuerbach ermöglicht.
Ganz in diesem Sinne freut es uns außerordentlich, dass Wolfgang Fritz Haug uns die Erlaubnis erteilt hat, seinen mehr als luziden Artikel zu den Thesen über Feuerbach, der 1999 erstmals im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM) erschienen ist, in einer überarbeiteten und aktualisierten Form in unsere Ausgabe aufzunehmen. Genosse Haug ist neben vielen anderen Leistungen als Herausgeber der Gefängnishefte Antonio Gramscis bekannt, weshalb erwähnt sei, dass die Philosophie der Praxis von Gramsci als wiederholte Interpretation der Thesen über Feuerbach begriffen werden kann. Der wissenschaftlich breit abgestützte Beitrag stellt eine intensive Analyse der Thesen über Feuerbach dar, deren komprimierter und programmatischer Charakter bis heute nichts an Faszination verloren hat. Dabei wird das Manuskript eingehend beschrieben und philosophiegeschichtlich eingeordnet, um einen Einblick in die erstaunliche Publikationsgeschichte zu geben, die im Grunde die gesamte Theoriegeschichte von Marx und Engels in sich vereint. So werden etwa die Eingriffe eigens thematisiert, die Engels am Original vorgenommen hat, um auch die Rolle Ludwig Feuerbachs im Rahmen der sog. Hegelschen Linken herauszuarbeiten. Weiters zeichnet der Autor – etwa mit Verweis auf Max Adler, Louis Althusser, Ernst Bloch oder Jacques Derrida – auf höchstem theoretischem Niveau die wirkmächtigen Diskussionen nach, die mit diesen fünf Seiten verbunden waren und nach wie vor sind. Dabei sind feingliedrige Interpretationsprobleme genauso wichtig wie Fragen der Rezeption. So stehen mit diesem Beitrag nicht nur die Hauptlinien der Wirkungsgeschichte der Thesen über Feuerbach vor Augen, sondern auch und vor allem die gesamte Geschichte des Marxismus und der Arbeiter*innenbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Ganz in diesem Sinne wollen wir mit dieser Ausgabe auch auf das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) verweisen, weshalb wir es auf zwei weiteren Seiten vorstellen und präsentieren.
Dass die elf Thesen über Feuerbach nach wie vor von großer Aktualität sind, belegt dann auch der Beitrag von Christian Swertz, der ausgehend von den Thesen die klassische Frage der Sozialwissenschaft nach dem Gegensatz von Individualität und Kollektivität diskutiert, die sich zwischen dem Einzigen und seinen Genoss*innen auftut. Denn bereits im Umfeld von Marx und Engels hat Max Stirner mit Der Einzige und sein Eigentum (1844) auf der Rolle des einzelnen Individuums insistiert, weshalb unser Autor die Frage stellt, ob die Ansätze von Johann Caspar Schmidt (Max Stirner), Ludwig Feuerbach und Karl Marx nicht zu einer produktiven und buchstäblich libertären, also befreienden Synthese gebracht werden können. Dabei steht ideologiekritisch auch der Unterschied von Liberalismus und Sozialismus im Raum, wenn der Gegensatz von individueller Freiheit und kollektiver Gleichheit mitgedacht wird. In diesem Zusammenhang präsentiert Swertz mit diesem Beitrag schon zu Beginn seine eigenen zehn Thesen, die in der Folge auf das Verhältnis von Marktökonomien und Sozialstaat bezogen werden. Dabei spielt die von Marx in der dritten These über Feuerbach formulierte Einsicht, „dass der Erzieher selbst erzogen werden muß“ eine eminente Rolle, wenn es darum geht, die Rolle von Lern- und Bildungsprozessen als pädagogisches Problem zu reflektieren. Ließe sich unsere Welt also in diesem erzieherischen Sinne – und durch (Arbeiter*innen-)Bildung – verändern?
Die Thesen über Feuerbach spielten in der Geschichte der Linken auch dort eine Rolle, wo Georg Lukács im Blick auf die Frankfurter Schule von Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno von einem Grand Hotel Abgrund gesprochen hat. Der Vorwurf, die Kritische Theorie der Frankfurter habe nur theoretisch interpretiert, sich aber praktisch nicht an der politischen Veränderung der Welt beteiligt, ist zutiefst mit der elften Feuerbachthese von Marx verbunden und belegt einmal mehr, weshalb dieser eine Satz nach wie vor von erstaunlicher Aktualität ist. Ganz in diesem Sinne hat Stuart Jeffries jüngst einen Band präsentiert, der vom Titel weg bezeichnend ist: Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit (2019). Deshalb hat Georg Koller sich mit seinem Reviewessay vorgenommen, unsere Leser*innen auch in diesem Zusammenhang an das Verhältnis von reflektierender Interpretation und praktischer Veränderung zu erinnern. Dabei rekapituliert dieser Beitrag die Geschichte der Kritischen Theorie und ihrer historischen Kontexte von Walter Benjamin bis Jürgen Habermas und macht so deutlich, was wir nach wie vor von einer am Marxismus orientierten Welterklärung für unser Handeln lernen und übernehmen können. Denn u. a. bleibt daran zu erinnern, dass das Frankfurter Institut für Sozialforschung in den 1920er-Jahren eigentlich Institut für Marxismus hätte heißen sollen. Insofern können wir gerade im Erinnerung an Walter Benjamin auch aus zeithistorischer Perspektive an die theoretischen und praktischen Verbindungen zwischen dem Roten Frankfurt, dem Roten Moskau und dem Roten Wien erinnern.
Denn gerade letzteres ist zutiefst mit den Diskussionen des Austromarxismus verbunden, der stadtgeschichtlich in der Architektur des Karl-Marx-Hofes seinen Niederschlag fand. Deshalb hat sich unser verdienter Künstler und Fotograf Patrick Ausserdorfer eigens für diese Ausgabe auf den Weg gemacht, um im Rahmen unserer Bildstrecke neuartige Perspektiven und Ansichten des Karl-Marx-Hofes aufzunehmen. Dabei sind die wunderschönen Fotografien zutiefst mit unserem Schwerpunktthema ad Feuerbach verknüpft, wenn die Balkone, Bögen und Innenansichten nicht nur das Panorama des austromarxistischen Hofes vor Augen führen, sondern auch das solidarische Zusammenleben thematisieren, das mit der Arbeiter*innenbewegung zutiefst verbunden war und nach wie vor ist. Am Ende unserer Ausgabe danken wir unserem Künstler nicht zuletzt damit, dass wir ihn eigens vorstellen. Denn seine Bildstrecke ad Feuerbach zeigt den Karl-Marx-Hof in seiner Aktualität von 2023 …
Insgesamt hoffen der Chefredakteur und die Redaktion, dass diese Ausgabe eine gute Voraussetzung dafür darstellt, auf quellenkritischer Basis eine offene Diskussion zur Aktualität von Marxens Thesen über Feuerbach zu eröffnen, die dabei helfen könnte, der österreichischen Arbeiter*innenbewegung wieder eine klare Programmatik zu geben. Insofern ist das Studium der Klassiker eine herausragende Möglichkeit, im Blick auf die Vergangenheit mit Weg und Ziel aufrecht in die ZUKUNFT zu gehen. Dabei sollten wir niemals vergessen, dass es nicht nur darum geht, die Welt zu interpretieren … Vielmehr sollten wir alle progressiven Kräfte bündeln, um eben diese Welt nachdrücklich und revolutionär zu verändern!
Es sendet herzliche und freundschaftliche Grüße
ALESSANDRO BARBERI
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg, Wien und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/