Editorial ZUKUNFT 02/2023: Über den Staat – VON ALESSANDRO BARBERI UND CONSTANTIN WEINSTABL

Mit der letzten Ausgabe der ZUKUNFT zum Schwerpunkt Kontrolle und Regulation konnten wir auf verschiedenen Ebenen die sozialdemokratische Notwendigkeit vor Augen führen, die angeblich so „freien“ Märkte einer staatlichen Regulation zu unterwerfen. Insofern ist es inhaltlich und programmatisch nur konsequent, wenn wir angesichts des Problemfelds der „Staatlichkeit“, vor allem im Sinne des österreichischen Sozial- und Wohlfahrtsstaats, die zweite Ausgabe des Jahres 2023 einer Diskussion Über den Staat widmen. Denn de jure und de facto haben wir es nach dem „Goldenen Zeitalter“ (Eric Hobsbawm) des europäischen Sozialstaats zwischen 1945 und 1989 in etwa seit dem Fall der Mauer mit krassen Formen der Deregulation zu tun, die mit dem Reaganismus und Thatcherismus ihre brutalen Vorläufer hatten. So betonte etwa der britische trotzkistische Filmemacher Ken Loach, dass England vor Margaret Thatcher noch eine Gesellschaft und mithin einen Sozialstaat hatte … „There’s no such thing as society?“ – Von wegen!

Dementgegen betonen wir mit dieser Ausgabe, dass unsere westlichen liberalen Gesellschaften nach wie vor eine nachdrückliche Verteidigung des Sozialstaats benötigen, um die sich stark polarisierenden politischen Verhältnisse wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Denn nur im Sinne einer solchen sozioökonomischen Stabilität können wir sozial und demokratisch daran arbeiten, im Sinne der Freiheit an den formaljuristischen Garantien der liberalen Demokratie genauso festzuhalten wie im Sinne der Gleichheit an der Forderung nach sozialem und ökonomischem Ausgleich. Vor diesem Hintergrund mag daran erinnert sein, dass Jürgen Habermas bereits 1957 in der kritischen Auseinandersetzung mit Max Horkheimer einen Beitrag Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus vorlegte, in dem er mehr als aktuell die „Entwicklung der formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie“ forderte. Dieser Auftrag steht aus unserer Sicht in einer intrinsischen politischen Verbindung mit der aktuellen Sozialdemokratie, deren Programmatik sich an dieser Forderung wieder aufrichten könnte.

Vergleicht man die den Sozialstaat verteidigende Position von Habermas und seinem Umfeld mit der Entwicklung der französischen Debatte, dann liegt ein Vergleich mit der politischen  Haltung des engagierten Intellektuellen Pierre Bourdieu mehr als nahe. Deshalb widmet sich der eröffnende Beitrag von Alessandro Barberi einer möglichst dichten Zusammenfassung von Bourdieus progressiver Staatstheorie, die er bezeichnenderweise genau in den Wendejahren ausformulierte. Bis zu seinem Tod im Jahr 2002 ging der französische Meistersoziologie in Verteidigung des Sozialstaats in die Attacke und betonte, dass der Staat ein „Januskopf“ sei, da es immer darauf ankomme, wer mit der Staatsmaschine welche Interessen bedient. Wird der Staat zur Ausbeutung der Arbeitnehmer*innen und zur Zerschlagung ihrer Organisationen in Gang gesetzt, ist er reaktionär und dient der Unterdrückung. Wenn nun aber die gleiche Staatsapparatur in Gang gesetzt wird, um – wie jüngst durch den Streik der ÖBB – Löhne zu erhöhen oder die Freizeit auszudehnen, dann ist der Staat progressiv, dient der Befreiung aller Lohnabhängigen und damit am Ende auch der Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller Menschen.

Ganz im Sinne dieser Grundprinzipien der Französischen Revolution, der Menschenrechte und der österreichischen Sozialdemokratie unternimmt es dann Ingrid Nowotny Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft in Krisenzeiten zu diskutieren, um anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Arbeiterkammern, der genannten Verteidigung des Sozialstaats juristische und soziologische Argumente zu liefern. Sie befasst sich in diesem Kontext eingehend mit der Geschichte und Gegenwart der österreichischen Sozialpartnerschaft und beschreibt so eine singuläre Institution, die auch auf europäischer Ebene seitens der Sozialdemokratie als demokratiepolitscher Minimalkonsens durchdiskutiert und umgesetzt werden sollte. Insofern ist es überflüssig zu sagen, dass sich die Sozialpartnerschaft gerade in Krisenzeiten bewährt. Denn selbst die türkis-blaue Regierung musste einsehen, dass es ein Fehler war, die Vertretungen der Arbeitnehmer*innen auszuschalten. Gerade in krisenhaften Situationen wird im Sinne eines sozialen und demokratischen Ausgleichs sehr wohl wieder auf deren Mitwirkung und Unterstützung zurückgegriffen werden müssen. Deshalb bleibt gerade aus Sicht der Sozialdemokratie zu hoffen, dass die Prinzipien der Sozialpartnerschaft (und damit eben auch der Sozialstaat) wieder voll zum Tragen kommen.

Eine juristische Perspektive im Blick auf den Staat nimmt auch Florian Horn ein, der Staatsaufgaben aus grund- und menschenrechtlicher Sicht behandelt. Dabei stellt der sehr gut abgestützte Beitrag die These in den Raum, dass es als erste und grundsätzlichste Staatsaufgabe in einer liberalen (also formellen) und sozialen (also materialen) Demokratie anzusehen ist, die Verwirklichung der Menschenwürde in ihrer Einbettung in die Gesellschaft zu ermöglichen. So stellt sich uns allen die politisch und also staatsbürgerlich eminent wichtige Frage, ob hierzu nicht auch die Umsetzung eines Nationalen Aktionsplans für Menschenrechte notwendig wäre. Daraus ergibt sich gerade in Österreich zwischen Rechtspositivismus und Rechtssoziologie – denken wir nur an die Diskussionen zwischen Hans Kelsen und Max Adler am Beginn der Ersten Republik Österreich – eine drängende Aufgabe: Denn die durch unsere Verfassung garantierten liberalen Grundrechte müssen in ihrer Normativität auch sozial und demokratisch in den Lebenswelten der Menschen verankert werden und ankommen. Deshalb müssen auch, so Horn abschließend, in einer demokratischen und sozialstaatlichen Gesellschaft die Staatsaufgaben zwingend aus den Normen der Grund- und Menschenrechte abgeleitet werden.

Unseren Schwerpunkt Über den Staat nimmt auch Thomas Ballhausen mit seiner Erzählung Die da träumen fort und fort zum Anlass, aus Sicht eines Höflings die inneren Logiken eines (Hof-)Staates auszuloten, um deutliche Erinnerungen an Niccolò Machiavellis Der Fürst oder auch an Die höfische Gesellschaft von Norbert Elias lesbar zu machen. Aufbauend auf bekannten Märchenstrukturen und Elementen der literarischen Romantik bietet dieser Beitrag also eine bitterböse Parabel auf die Erzählungen bzw. die Erzählbarkeit staatlicher Macht und entwirft dabei voller Ironie auch einen Raum von Möglichkeiten, sich in den Nischen staatlicher Autorität auf den Widerstand gegen ihre Macht und Souveränität vorzubereiten. Diese düstere Variante rund um das Motiv der Sleeping Beauty verweist dabei auch auf weitere historische Quellen wie das Pentamerone von Giambattista Basile und markiert damit aktuelle Positionen phantastischen Storytellings. Erneut wollen wir damit zeigen, dass intellektuelle Auseinandersetzungen auch im Bereich des Ästhetischen und der Kunst erfolgen und es mithin nicht wichtig ist, in welcher Form Über den Staat gearbeitet wird.

Zudem freut es die Herausgeber besonders, dass wir unabhängig vom Schwerpunkt drei weitere Beiträge präsentieren können, die für unsere Leser*innen sicherlich interessant sein können. So diskutiert Christian Hofmann-Drahonsky in seinem Beitrag Prinzipien einer neuen sozialdemokratischen Lehrlingspolitik und fordert dabei, endlich vom Gießkannenprinzip zur gezielten Förderung überzugehen. Denn mehr als 100.000 junge Menschen absolvieren derzeit eine Lehrausbildung, wobei die Entwicklung der Lehrlingsausbildung und die soziale Lage von Lehrlingen dabei leider keine große Debatte in Medien wie Politik auslöst. Wir sind dahingehend mit dem Autor einer Meinung: Das muss sich ändern.

Das sozialdemokratische Haltung zutiefst damit verbunden ist, jede Kontinuität zum Nationalsozialismus lupenrein zu zerbrechen, belegt dann der Beitrag von Rudolf O. Zucha und Cornelia Rivkah Bejach-Zucha, die vom Versuch der Entnazifizierung einer Straße in Villach berichten, die nach wie vor den Namen eines Nationalsozialisten trägt und in Arik-Brauer-Straße hätte umbenannt werden sollen. Beschämt und traurig nimmt die Redaktion der ZUKUNFT dabei zur Kenntnis, dass der Antrag gerade von der Villacher Sozialdemokratie abgeschmettert wurde.

Dankbar sind wir dementgegen dafür, dass die hervorragende österreichische Künstlerin Olga Georgieva ihre beeindruckenden Arbeiten dennoch in den Kontext unserer Sozialdemokratie bringt. Denn sie hat ihre wunderschönen und intellektuell herausfordernden Arbeiten und Projekte für diese und die nächste Ausgabe der ZUKUNFT zur Verfügung gestellt und steht unserer verdienten Redakteurin Hemma Marlene Prainsack am Schluss dieses Heftes in einem intensiven Gespräch Rede und Antwort. Dabei wird nicht nur deutlich, das Georgieva die Kunst braucht, um mit sich im Einklang zu sein, sondern auch, mit wie viel Sensibilität sie – ganz im Sinne der Aufklärung – an der Ausweitung unserer Vernunftzone arbeitet. Die Überblendung von Interview und Bildern macht dabei – hier und in der kommenden Ausgabe der ZUKUNFT – eine intensive bildliche und textuelle Ästhetik erfahrbar, die ihresgleichen sucht. Dass die Künstlerin dabei mitunter auf Fragen der Staatlichkeit verweist, wenn sie dem Begriff und dem Konzept des „Regimes“ nachgeht, schließt aus unserer Sicht die Kreise unserer Ausgabe Über den Staat.

So bleibt uns am Ende nur die Hoffnung, dass unsere Leser*innen sich mit den hier veröffentlichten Beiträgen ein Bild von den derzeitigen Diskussionen zu Staatlichkeit und Sozialstaat machen können, um – und davon sind zumindest wir überzeugt – in der Verteidigung des Sozialstaats das soziale und demokratische Programm d(ies)er Sozialdemokratie zu sehen …

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

ALESSANDRO BARBERI & CONSTANTIN WEINSTABL

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg, Wien und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/.

CONSTANTIN WEINSTABL

hat an der Universität Wien und der Universiteit Leiden Rechtswissenschaften mit den Schwerpunkten Rechtsphilosophie und Völkerrecht sowie an der University of Hull Politikwissenschaften mit dem Fokus Strategy and International Security studiert. Er ist Mitglied der Redaktion der ZUKUNFT.