Mit seinem Beitrag wirft JAN OBRADOVIC einen Blick auf das Verhältnis von Drag, ästhetischer Bildung und Heteronormativität. Er rahmt dabei die Kunstform theoretisch, um sie in einen Bezug zu Ästhetik setzen zu können und betrachtet, inwiefern sie eine subversive ästhetische Erfahrung auslösen kann …
1. Drag im Mainstream
Seit 2009 flimmert nun das Reality-TV Format RuPaul’s Drag Race über amerikanische Fernsehbildschirme. Erst auf dem kleinen Sender „logo“, später auf „VH1“. Die Serie startete in der ersten Staffel, gedreht in einem kellerartigen Studio, als eine Semiparodie auf Wettbewerbe wie America’s Next Top Model und eine Zelebration der bis dato im Mainstream recht unterrepräsentierten Kunstform des Drag.
Inzwischen hat die Serie internationalen Erfolg mit zahlreichen Auszeichnungen, Ablegern in verschiedenen Ländern und auch einem vergleichbaren Format im deutschen Fernsehen. Drag rückt damit immer mehr in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Jedoch bleibt das Bild, das im Fernsehen von dieser Kunstform gezeichnet wird, streitbar und es ließe sich argumentieren, dass die Vielfalt der Darstellungsformen unter dem Radar der Allgemeinheit bleibt.
Bevor wir uns also dem Verhältnis von Drag und Ästhetik widmen, soll hier ein Begriff der Praxis von Drag-Performenden geschärft werden. Anders als auch im Fernsehen dargestellt, wird betont, dass Drag zwar im Zusammenhang, aber nicht in der Abhängigkeit zu bestimmten Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten steht.
2. Theoretische Annäherung
Als Basis von Drag könnte eine Praxis herausgestellt werden, in der in einer Form der Unterhaltung (Shows, Film, Videos, Social Media etc.), eine überspitzte Repräsentation von gender, für ein Publikum dargestellt wird. Dabei wird eine reale Identität der Performer*innen durch eine gespielte Drag-Identität ersetzt oder erweitert (vgl. Dougherty 2017: 20).
Versucht man Drag zu definieren so kommt man an das Hindernis der Vielfältigkeit. Drag als eine Störung des Mainstreams und gängiger normativer Konstrukte hat sich über die Jahre von Shakespeare über die Bälle der queeren Szene im New York der 1980er-Jahre bis hin zur Dekonstruktion von Geschlechts- und Schönheitsidealen vor internationalem Publikum stetig gewandelt. Die Drag Performerin Sasha Velour und Gewinnerin der 9. Staffel von RuPaul’s Drag Race beschreibt Drag als zu komplex, um es einzig über Drag-Performer*innen zu verstehen. Drag biete ein breites und diverses Spektrum an Performance und Drag-Prais, die sich auf verschiedensten Körpern abspiele. Eine Annäherung an eine Darstellung von Drag könne so nur unter Betrachtung einer Vielzahl an Drag Performer*innen geschehen (vgl. Velour in: Damshenas 2019).
Versucht man sich also einer Begrifflichkeit von Drag anzunähern, so braucht es eine lose Rahmung. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit kann man sich dieser Kunstform über drei Praxen annähern, die sich in verschiedenen Betrachtungen, Beobachtungen, Interviews und Studien wiederspiegeln.
3. Transformation, Parodie & Queerness
Drag-Performende vollziehen eine äußerlich wahrnehmbare Transformation des Körpers. Dazu wird versucht die eigene Physis zu verstehen und somit eine Veränderung dieser zu vollziehen. Für die Verwandlung in eine Drag-Persona eignen sich die Performenden eine andere Identität an. Dabei lässt sich in der Regel eine neu gestaltete Geschlechtsidentität ausmachen, bei der bestimmte Aspekte der eigenen Identität verstärkt oder auch unterdrückt werden können. Der Übergang, den die Individuen dabei vollziehen, kann fließend sein und ist nicht zwingend im vollen Bewusstsein der Performenden. Von manchen wird der Aspekt dieser Transformation transparent gemacht und im Gegensatz zu Transmenschen wird eine ausschließlich temporäre äußerliche Transformation vollzogen. Es kann auch, auf spielerische Weise, immer wieder aus der Rolle und in die Rolle gewechselt werden. Dazu wird auch auf die jeweils dargestellten Aspekte des Körpers aufmerksam gemacht. Einige Performende machen auch eine innere Transformation durch; eine Fremdmachung und Rekonstruktion der eigenen Person (vgl. Schambron/Hänni 2016, Dougherty 2017: 24–27, Shapiro 2007).
Judith Butler schreibt der Kunstform des Drag zudem einen Charakter der Parodie zu, der sich durchaus auch in den Beobachtungen Anderer zeigt. Die gesellschaftliche Zwangssituation einer heteronormativen Geschlechtervorstellung kann in Drag parodiert werden. Durch die bewusste Übertreibung oder auch widersprüchliche Performance von Geschlechtsidentität wird diesen Normen gewissermaßen der Spiegel vorgehalten. Butler sieht in Drag die Parodie eines nicht existierenden Originals und eine Vorführung der vorgetäuschten Realität eines binären Geschlechts (vgl. Butler 2019: 202f.).
Zuletzt ist Drag auch in seiner Praxis eine unbestreitbar queere Kunstform. Drag-Performende nahmen in der Geschichte der queeren Community eine tragende Rolle ein. Neben der Ballroom Culture der 1980er-Jahre, in der sich die Wurzeln modernen Drags finden lassen, traten Drag Performende bereits in den 1960er-Jahren in der politischen Arena an. Das Bild von Drag wurde hier besonders geprägt durch die Proteste im Stonewall Inn, welches Anlaufstelle für Schwule, Transmenschen und Drag Queens war. Hier wehrte man sich 1969 gegen die andauernde Diskriminierung und die Razzien der New Yorker Polizei. Drag Queens nahmen bei diesem Protest, der heute jährlich beim Christopher Street Day zelebriert wird, eine führende Rolle ein. Dies stärkte auch das Ansehen und mehrte das Auftreten von Drag-Performer*innen in queeren Locations. Prominente Figur dieser Proteste war Marsha P. Johnson, Drag Queen und Transgender-Aktivistin (vgl. Kohler 2012, Dougherty 2017: 23). Hier lässt sich auch eine Umkehrung der Stigmata gegenüber schwulen Männern sehen, die sich ihre zugeschriebene feminine Identität neu aneignen und als ein Zeichen des Stolzes oder eben der Gay Pride zeigen. Drag findet vornehmlich in queeren Räumen statt oder ist maßgeblich daran beteiligt queere Schutzräume zu schaffen, die einer heteronormativen Zwangsordnung widersprechen (vgl. Baker/Kelly 2016: 58).
4. Drag als Träger ästhetischer Erfahrung
Ist Drag also eine Form der leichten, aber queeren Unterhaltung oder liegt dieser Kunst auch ein Potenzial für eine bildende ästhetische Erfahrung inne? Zur Beantwortung dieser Frage wird sich im Folgenden auf ein von Iris Laner gefasstes Verständnis von ästhetischer Erfahrung gestützt. Laner beschreibt diese als Erfahrungen, die außerhalb einer normalisierten und alltäglichen Matrix erfolgen. Sie finden in einem Spektrum sinnlicher Wahrnehmung statt, welche eine besondere Emotionalität in den Betrachtenden auslöse und eine Reflexion zur Folge habe. Ästhetische Erfahrungen erlauben eine Erweiterung eines Erlebensspektrums, dies wiederrum eröffnet die Möglichkeit weitere ästhetische Erfahrungen zu machen. Idealerweise führt dies zu einer Reihe an aufeinander aufbauenden Bildungsprozessen. Die Erfahrungen spielen sich nicht allein auf einer sinnlichen und emotionalen Ebene ab, sondern erfordern auch den Einsatz einer kognitiven Komponente, die Reflexion ermöglicht. In dieser Form wären sie also ganzheitlich einnehmend und nicht nur nebensächlich und beiläufig erfahren worden (vgl. Laner 2018).
Drag geschieht in einem Rahmen, der sich als weg vom „Alltäglichen und Nebensächlichen“ beschreiben ließe. Der transformatorische Akt fordert und fördert durch buntes Make-Up und Kostümierung zumindest für kurze Zeit ein aufmerksames Wahrnehmen. Auch für die Drag-Performenden findet Drag, durch eine Abgrenzung der Rolle vom privaten Ich, in einem nicht alltäglichen Modus statt. Die Aufdeckung der Konstruiertheit einer heteronormativen Weltanschauung, wie zuvor beschrieben, als ein Grundpfeiler des Drags könnte ein Indikator für die Erfüllung des dekonstruierenden Moments sein. Die besondere Emotionalität und die ganzheitliche Eingenommenheit in ästhetischer Erfahrung könnte man in der Interaktion mit und an der Reaktion des Publikums sehen. Wenn den Drag-Performenden während der Performance mit Geschenken und Trinkgeldern Tribut gezollt wird, dann könnte man von einer besonderen emotionalen Berührung ausgehen. J. Brian Brown unterstreicht die Wichtigkeit des Publikums in der Drag-Performance und sieht es als aktive Komponente. Er geht von einem engagierten Publikum aus, welches meistens um den Kontext der Performance weiß oder zumindest versucht diesen nachzuvollziehen. Die Drag-Performenden integrieren das Publikum dabei in ihre Performance und gestalten diese so meist interaktiv. Der Diskurs um das Publikum im Drag sei aber noch recht neu und müsse weiter und in anderen Settings beleuchtet werden, so Brown (vgl. Brown 2001: 38, 50–54). Aber auch für die Performenden ließe sich in einigen Interviews eine bildende, ästhetische Erfahrung ausmachen. Einige berichten von einer Reflexion durch Drag. Sie fingen an über ihre Geschlechtsidentität und die Auslebung dieser nachzudenken. Die Aufarbeitung einer identitätsstiftenden heteronormativen Identität, die sie in Drag darstellen, verändere z. T. zudem ihren Blick auf dieses Thema (vgl. Baker/Kelly 2016).
Durchaus ließe sich in Drag folglich eine Praxis ausmachen, die als eine ästhetische Erfahrung die Reflexion von Identität und heteronormativen Zwang erlaubt – die eindrücklichen, sinnlichen und anregenden Erfahrungen schafft und zumindest eine Basis für eine veränderte Wahrnehmung schaffen kann.
5. Kritik
Abschließend soll jedoch auch eine kritische Betrachtung der Drag-Praxis angesprochen werden. Nicht immer wird Drag als subversiv betrachtet. Einige Formate und Räume in denen Drag heute praktiziert wird, können durchaus valider Kritik unterzogen werden. Auch innerhalb des Drags gibt es hier keine eindeutigen Perspektiven auf die Sache selbst. Aus einer Betrachtung von Richtlinien, die Drag-Performenden auferlegt werden, um an Wettbewerben teilzunehmen, ließe sich eine Limitation von Drag aufgrund von biologistisch konstruierten Voraussetzungen herauslesen. Teilweise werden hier bestimmte Personen wegen ihres biologischen Geschlechts nicht zugelassen oder andere anatomische Voraussetzungen wären Diktat für die Teilnahme. Diese Bedingungen widersprechen einer Idee eines sozial konstruierten Geschlechts. Auch Trans-Aktivist*innen sehen in derartigen Richtlinien einen Fokus auf ein biologisches Geschlecht und die Bestärkung von einer Idee, dass dieses die Geschlechtsidentität diktiert (vgl. Dougherty 2017: 9). Auch wird dies in einer aktuellen Debatte um RuPaul, Drag Queen und Host des amerikanischen Reality-TV Formats RuPaul´s Drag Race, bei dem Americas Next Drag Superstar gesucht wird, zum Thema.
RuPaul lässt in der Show ausschließlich Menschen antreten, die als Männer wahrgenommen werden und Frauen in ihrem Drag darstellen. Er bezeichne Drag als Protest gegen eine männlich dominierte Welt, ermögliche diesen Protest aber auf der von ihm geschaffenen Plattform eben nur Männern. Äußerungen, die in der Drag Community und auch bei ehemaligen Teilnehmenden der Show aber für Entrüstung sorgen (vgl. Grieben 2018). Hier lassen sich somit restriktive Praxen in einer größeren Drag-Instanz ausmachen. Wettbewerbe reproduzieren hier, beim Versuch ein Teilnehmendenprofil zu schaffen, eine heteronorme Zwangsordnung. Einige sehen in Drag auch eine Verstärkung traditioneller Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Drag stelle dabei dar, wie Frauen oder Männer zu sein hätten. Auch ließe sich der Performance von Drag Queens eine sexistische Note zuschreiben, die Frauen verspotte und parodiere (vgl. Taylor/Rupp 2004: 115, Nicholson 2017). Diese Perspektive geht jedoch auf ein veraltetes Bild von Drag zurück und wird mittlerweile auch durch zahlreiche Frauen in der Drag Community widersprochen. Beispielsweise sehen die Drag Queens Miss Malice und Holestar in der Praxis des Drag entgegen dem Bild von Drag als Parodie der Frau eine Bestärkung aber auch einen Aufbruch von Feminität. Es widerspreche einer patriarchalen Vorstellung eines „schwachen Geschlechts“. In Drag zeigt sich ihrer Meinung nach, dass sich Körper geschlechtlich verschieden markieren ließen und nicht innerhalb des binären Geschlechtsideals bestehen (vgl. Nicholson 2017).
6. Fazit
Abschließend kann gesagt werden, dass Drag sehr vielfältig und facettenreich ist. Drag bietet zum einen eine Erweiterung von Sinnlichkeit und Einbildungskraft, zum anderen ist sie eine Plattform zur Ausbildung von Urteilskraft und für Dialog. Drag befindet sich in einem stetigen Wandel und wie ästhetische Erfahrungen baut es selbst auf dem auf, was es zuvor sichtbar gemacht hat. Entsprechend ist die Kunst von Kritik nicht freizusprechen. Jedoch ist Drag eine wichtige, historische und queere Kunst, die im mindesten unterhaltsam und latent politisch ist. Entsprechend wäre auch eine weitere Auseinandersetzung mit Drag relevant, da diese Kunst zunehmend im Mainstream Einzug hält. Hierbei besteht die Gefahr einer kulturindustriellen Vermarktung und könnte folglich aus einer einst subversiven Form von Kunst und Protest einen Mittäter im Diktat von Patriarchat und Heteronormativität machen. Die Hoffnung besteht in der Wandelbarkeit von Drag und dem Willen der Performenden stetig die auferlegten Normen selbst zu brechen.
JAN OBRADOVIC ist Studierender des Masters Bildungswissenschaft an der Universität Wien. In seinem Studium setzte er sich bereits mit Thematiken der Queer Theory und Ästhetik auseinander. Neben seinem Studium betätigt er sich als Drag-Entertainer. Kontakt: a12034400@unet.univie.ac.at
Literatur
Baker, Ashley A./Kelly, Kimberley (2016): Live like a king, y’all: Gender negotiation and the performance of masculinity among Southern drag kings, in: Sexualities: Studies in Culture and Society, Volume 19, Issue 1-2, 46–63.
Brown, J. Brain (2001): Doing drag. A visual case study of gender performance and gay masculinities, in: Visual Sociology, Volume 16, 2001 – Issue 1, 37–54.
Butler, Judith (2019): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Damshenas, Sam (2019): Sasha Velour on deconstructing gender and what it would mean for drag, in: Gay Times, online unter: https://www.gaytimes.co.uk/culture/sasha-velour-on-deconstructing-gender-and-what-it-would-mean-for-drag/ (letzter Zugriff: 25.04.2021).
Dougherty, Cristy (2017): Drag Performance and Femininity: Redefining Drag Culture through Identity Performance of Transgender Women Drag Queens, Dissertation Master of Arts, Minnesota State University.
Egner, Justine/Maloney, Patricia (2016): “It Has No Color, It Has No Gender, It’s Gender Bending”: Gender and Sexuality Fluidity and Subversiveness in Drag Performance, in: Journal of Homosexuality, Volume 63, 2016 – Issue 7, 875–903.
Laner, Iris (2018): Ästhetische Bildung zur Einführung, 1. Aufl., Hamburg: Junius.
Necati, Yas (2018): King, queen or in between: Changing the face of drag, in: Independent, online unter: https://www.independent.co.uk/voices/drag-kings-man-lgbt-non-binary-expression-queens-ru-paul-a8246446.html (letzter Zugriff: 25.04.2021).
Nicholson, Rebecca (2017): Workin’ it! How female drag queens are causing a scene, in: The Guardian, https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2017/jul/10/workin-it-how-female-drag-queens-are-causing-a-scene (letzter Zugriff: 25.04.2021).
O’Brien, Jennifer (2018): The Psychology of Drag. Understanding the science behind the art of pushing gender boundaries, in: Psychology Today, online unter: https://www.psychologytoday.com/us/blog/all-things-lgbtq/201801/the-psychology-drag (letzter Zugriff: 25.04.2021).
Schambron, Livia/Hänni, Anna (2016): Zwischen Subversion und Stereotyp – Eine sozialanthropologische Forschung zu Drag, Bern: Universität Bern.
Shapiro, Eve (2007): Drag Kinging and the Transformation of Gender Identities, in: GENDER & SOCIETY, Volume 21, No. 2, April 2007, 250–271.
Taylor, Verta/Rupp, Leila J. (2004): Chicks with Dicks, Men in Dresses, in: Journal of Homosexuality, 6:3-4, 113–133.
JAN OBRADOVIC ist Studierender des Masterstudiums Bildungswissenschaft an der Universität Wien. In seinem Studium setzte er sich bereits mit Thematiken der Queer Theory und Ästhetik auseinander. Neben seinem Studium betätigt er sich als Drag Entertainer. Kontakt: a12034400@unet.univie.ac.at
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