Digitaler Humanismus: Wiens Weg zur Harmonisierung technologischen Fortschritts mit lokalen Werten VON TANJA SINOZIC-MARTINEZ

Was bedeutet es, Technologie zu entwickeln, die der Menschheit dient, anstatt umgekehrt? Wie kann eine Stadt, die auf Gleichheit, Tradition und hohe Lebensqualität fokussiert ist, Innovation mit ethischer Verantwortung in Einklang bringen? Diese Fragen sind nicht nur theoretischer Natur – sie werden an Wiens Universitäten, in politischen Kreisen und Unternehmen beantwortet. TANJA SINOZIC-MARTINEZ fasst den Wiener Stand der Dinge zusammen.

I. Digitaler Humanismus

Der Digitale Humanismus gewann in Wien ab 2019 mit dem Bericht von Strassnig et al. (2019),[1]durch Aktivitäten des TU Wien Informatics – wie das Vienna Manifesto on Digital Humanism[2] – sowie mit den Veröffentlichung zweier Sammelbände internationaler Wissenschaftler*innen (Werthner et al. 2022; 2024) an Dynamik und konnte mit der kontinuierlichen Unterstützung durch die Stadt Wien, die lokale Industrie, Wiener Universitäten und Forschungsförderungsorganisationen rechnen. Wie Julian Nida-Rümelin betont, beruhen die philosophischen Wurzeln des Digitalen Humanismus auf humanistischen Prinzipien wie Autonomie, Bildung und menschlicher Selbstbestimmung. Der Digitale Humanismus verbindet Erkenntnisse aus Technologie, Philosophie, Soziologie und Public Policy (Werthner et al. 2022). Ohne diesen Rahmen droht eine ZUKUNFT, in der technologische Innovation Ungleichheit weiter verschärft, die Privatsphäre aushöhlt und demokratische Werte untergräbt.

II. Engagement der Wiener Wirtschaft und Politik

Im Sinne ihrer Innovationsstrategie erklärt Bürgermeister Michael Ludwig:

„Wien setzt auf den Digitalen Humanismus, der den ethischen Rahmen für den Einsatz von KI und Technologie generell bildet“.

Die Stadt Wien hat die Prinzipien des Digitalen Humanismus in ihren strategischen Dokumenten verankert. Die Digitale Agenda 2030 der Stadt Wien (2024a) zeigt sich in der politischen Verpflichtung, digitale Innovationen primär für die Bürger*innen einzusetzen. Die Stadt Wien verfolgt mit ihrem hohen Standard öffentlicher Dienstleistungen Innovationen, die sich an ihrem direkten Nutzen für die Bürger*innen orientieren. Die Digitale Agenda der Stadt Wien (Stadt Wien 2024a: 6) priorisiert soziale Bedürfnisse wie digitale Sicherheit, Transparenz und Inklusion, während sie gleichzeitig den Komfort, den Zugang zu Informationen und die Datenverarbeitungskraft der IT nutzt. Lokale Unternehmen werden von der Wirtschaftsagentur Wien unterstützt, zum Beispiel bei der Entwicklung vertrauenswürdiger KI durch das Unternehmen leiwand.ai (Wirtschaftsagentur Wien 2023).

III. Förderung von Selbstbestimmung und Reflexion in der Nutzung von KI

Wie Stadträtin Ulli Sima (2024) darlegt, reicht die KI-Nutzung in der Stadt Wien bis zum ersten wien.bot im Jahr 2017 zurück. Mit dem Aufkommen generativer KI kamen neue Herausforderungen auf. Die Stadt Wien reagierte mit dem „Kompass für den dienstlichen Umgang mit generativer Künstlicher Intelligenz“ (Stadt Wien 2023). Sie entwickelt kontinuierlich Strategien zur Verbesserung der KI-Kompetenz (Himpele 2024). Ergänzend zu eLearnings wurde die KI-Community KITT (Künstliche Intelligenz Technologie und Trend) etabliert – ein flexibles Forum für das Lernen und Experimentieren mit generativer KI für die Beschäftigten der Stadt Wien. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Bildung. Die Wienbibliothek im Rathaus hat Prinzipien des Digitalen Humanismus für Schüler*innen verständlich aufbereitet (Eichinger et al. 2024). Das Lehrbuch erklärt Digitalisierung und KI anschaulich und enthält Übungen, die Schüler*innen helfen, sich kritisch mit KI auseinanderzusetzen.

Die Organisation öffentlicher Veranstaltungen für Wiener Bürger*innen über Entwicklungen im Bereich Künstliche Intelligenz ist ebenfalls ein Schwerpunkt zahlreicher von der Stadt Wien unterstützter Aktivitäten. So etwa die DigitalCity.Wien mit zwei DigitalDays zum Thema Digitaler Humanismus, Publikationen wie dem Atlas der Methoden[3] für Digitalen Humanismus oder der Landkarte Digitaler Humanismus in Wien.[4] Die bevorstehende internationale Digital Humanism Conference 2025[5], die vom 26. bis 28. Mai im Museumsquartier Wien stattfinden wird, wird Wien weiter als globalen Vorreiter im Bereich des Digitalen Humanismus positionieren.

IV. Value-Based Engineering

Wie in der Digitalen Agenda 2030 festgelegt, hat sich die Stadt Wien intern verpflichtet, den Digitalen Humanismus in ihre Innovationspraktiken und die digitalen Aspekte der öffentlichen Dienstleistungen zu integrieren. Dies geschieht in Pilotprojekten, um zu verstehen, wie Wertediversität in die Gestaltung von IT-Produkten und -Systemen integriert werden kann (Himpele). Die digital unterstützte Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen kann unerwünschte Nebenwirkungen haben, die zumindest teilweise durch die Einbindung von Stakeholder*innen sowie die systematische Untersuchung und Integration ihrer Werte in die Systemgestaltung aufgedeckt werden können.

Für diesen Zweck wurde die Methode des Value-Based Engineering (VBE) (Spiekermann 2023) bei der Entwicklung der Plattform mein.wien angewandt, die von Bürger*innen genutzt werden soll, um ihre offiziellen Dokumente zu verwalten und personalisierte Informationen über städtische Dienstleistungen zu erhalten. Das Ergebnis war die Identifikation von Werten, die im Innovationsprozess priorisiert werden sollen, nämlich Inklusion, Datenschutz, Autonomie, Transparenz und Vertrauen.[6]

Die Integration von Stakeholder*innen-Werten in den IT-Innovationsprozess mithilfe der VBE-Methode basiert auf dem ISO/IEEE 7000-Standard, und IEEE wurde dafür 2025 mit dem Digital Humanism Award ausgezeichnet. Eine formale Schulung für VBE wird von der in Wien ansässigen VBE Academyangeboten,[7] an der sowohl Mitarbeiter*innen der Stadt Wien als auch Unternehmen teilgenommen haben. Die Anwendung der VBE-Methode auf mein.wien ist ein beispielhafter Erfolg für eine Stadtverwaltung (Himpele) im Bemühen, die Vielfalt menschlicher Werte auf eine Bottom-up-Weise in die Systemgestaltung zu integrieren.

V. Ein lokales KI-Innovationssystem und Digitaler Humanismus als Schlüssel zum Erfolg

Mit dem Fortschreiten der KI-Innovation ist es entscheidend, dass Wien sich mit den sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen aktiv auseinandersetzt. Die Integration von Digitalem Humanismus in den Innovationsprozess ist entscheidend für den Erfolg einer Stadt wie Wien im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Ein lokales KI-Innovationssystem, das ethische Prinzipien und menschliche Werte in den Mittelpunkt stellt, ist unerlässlich, um sicherzustellen, dass technologische Entwicklungen nicht nur den wirtschaftlichen Fortschritt fördern, sondern auch dem Gemeinwohl dienen. In Wien zeigt sich, dass die Verbindung von Innovation mit den grundlegenden Werten des Digitalen Humanismus – wie Inklusion, Autonomie, Selbstbestimmung, Wissen, Transparenz und Datenschutz – den Weg zu einer nachhaltigen und gerechten technologischen Zukunft entwickeln kann. Nur durch ein starkes lokales KI-Innovationssystem, das die Bedürfnisse und Werte der Bürger*innen berücksichtigt, können Innovationen herbeigeführt werden, die wirklich im Dienste der Menschheit stehen und die Lebensqualität in der Stadt nachhaltig verbessert.

Tanja Sinozic-Martinez © Tanja Sinozic-Martinez

Literatur

  • Eichinger, Anita/Knees, Peter/Werthner, Hannes; (2024): Digitalisierung und Wir: Lehrbuch zum Digitalen Humanismus mit praktischen Übungen, Wienbibliothek im Rathaus, Stadt Wien.
  • Grunwald, Armin (2022): Technikfolgenabschätzung, Baden-Baden: Nomos.
  • Himpele, Klemens, (2024): Generative KI und die öffentliche Verwaltung, in: Wien Holding GmbH (Hg.): Digitale Melange: Beiträge zur künstlichen Intelligenz aus Wirtschaft, Forschung, Politik und Verwaltung, Wien: 16–22.
  • IEEE SA (2021): IEEE Standard Model Process for Addressing Ethical Concerns during System Design, IEEE Computer Society.
  • Ludwig, Michael (2024): Künstliche Intelligenz im Dienst des Gemeinwohls, in Wien Holding GmbH (Hg.): Digitale Melange: Beiträge zur künstlichen Intelligenz aus Wirtschaft, Forschung, Politik und Verwaltung, Wien: 6.
  • Pfeiffer, Sabine (2021): Digitalisierung als Distributivkraft: Über das Neue am digitalen Kapitalismus, Bielefeld: transcript.
  • Sima, Ulli (2024): Am Nutzen wird man die KI messen, in: Wien Holding GmbH (Hg.): Digitale Melange: Beiträge zur künstlichen Intelligenz aus Wirtschaft, Forschung, Politik und Verwaltung, Wien: 12–15
  • Spiekermann, Sarah, (2023): Value-Based Engineering: A Guide to Building Ethical Technology for Humanity, Berlin: De Gruyter.
  • Stadt Wien (2024a): Digitale Agenda 2030 der Stadt Wien: Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung, Wien.
  • Stadt Wien (2024b): KI-Strategie der Stadt Wien: Teilstrategie der Digitalen Agenda 2030 der Stadt Wien, Wien.
  • Stadt Wien, (2019): Künstliche Intelligenz Strategie, Wien.
  • Stadt Wien, (2022): Digitaler Humanismus in Wien, Wien.
  • Stadt Wien, (2023): Kompass für den dienstlichen Umgang mit generativer Künstlicher Intelligenz, online unter: https://digitales.wien.gv.at/ki-kompass-fuer-bedienstete-der-stadt-wien/ (letzter Zugriff: 25.02.2025).
  • Strassnig, Michael/Mayer, Katja/Stampfer, Michael/Zingerle, Simon; (2019): Akteure, Instrumente und Themen für eine Digital Humanism Initiative in Wien, Studie im Auftrag der Stadt Wien – Magistratsabteilung 23, Wien.
  • Werthner, Hannes/Ghezzi, Carlo/Kramer, Jeff/Nida-Rümelin, Julian/Nuseibeh, Bashar/Prem, Erich/Stanger, Allison (2024): Introduction to Digital Humanism: A Textbook, Berlin: Springer.
  • Werthner, Hannes/Prem, Erich/Lee, Edward. A/Ghezzi, Carlo (Hg.) (2022): Perspectives on Digital Humanism, Berlin: Springer.
  • Wirtschaftsagentur Wien (2023): Digitaler Humanismus: Technologie Report, Wirtschaftsagentur Wien für die Stadt Wien, online unter: https://tinyurl.com/3tyu2t74 (letzter Zugriff: 25.02.2025).

TANJA SINOZIC-MARTINEZ

ist seit 2024 Expertin für Digitalen Humanismus in der Bereichsleitung für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaftsstandort in der Magistratsdirektion der Stadt Wien. Davor war sie Forscherin am Institut für Technikfolgenabschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wo sie Projekte zu den sozialen Folgen von digitaler Innovation durchführte. Sie promovierte an der Science Policy Research Unit (SPRU) der University of Sussex, erwarb ihren Master an der University of Cambridge und ihren BSc an der London School of Economics and Political Science.


[1] Vgl. die Studie der Stadt Wien „Digitaler Humanismus in Wien“, online unter https://www.wien.gv.at/wirtschaft/standort/digital-humanism.html (letzter Zugriff: 25.02.2025).

[2] Vgl. Werthner, Hannes/Lee, Edward A./Akkermans, Hans/Vardi, Moshe et al. (2019): Wiener Manifest für Digitalen Humanismus, online unter: https://www.informatik.tuwien.ac.at/dighum/wp-content/uploads/2019/07/Vienna_Manifesto_on_Digital_Humanism_DE.pdf (letzter Zugriff: 25.02.2025).

[3] Vgl. www.martingiesswein.com/atlas (letzter Zugriff: 25.02.2025).

[4] Vgl. https://www.digitalcity.wien/blog/2024/12/20/digitale-montagsrunde-landkarte-digitaler-humanismus/ (letzter Zugriff: 25.02.2025).

[5] Vgl. Die Konferenzseite von dighum 25 online unter: https://digitalhumanism.at/en/digihum-25-en/ (letzter Zugriff: 25.02.2025).

[6] Vgl. den Workshop zum Value-based Engineering – Digitales Wien. online unter: https://digitales.wien.gv.at/workshop-value-based-engineering/ (letzter Zugriff: 25.02.2025).

[7] Vgl. die Onlinepräsenz der Value-Based Engineering Academy | Ethical AI & IEEE-7000 Training, online unter: https://www.vbe.academy/ (letzter Zugriff: 25.02.2025).