Diese ganz besondere Art der Einsamkeit …Aus Gesprächsnotizen vom 14. Oktober 2024 VON NADINE QUITTNER (UND GIDEON MAOZ)

Die Schauspielerin NADINE QUITTNER beschreibt die Isolation und die intensiven Reflexionen über jüdische und israelische Identität, die durch den Terrorangriff der Hamas am Siebten Oktober ausgelöst wurden. Sie betont trotz diverser Herausforderungen die Bedeutung von Gemeinschaft sowie die Notwendigkeit, jüdisches Leben sichtbar zu machen und Komplexität im Diskurs zu vermitteln. Das Theater sieht sie als wichtigen Raum, um Empathie zu wecken, Vorurteile abzubauen und jüdische Kultur neu zu kommunizieren.

I. Ein Jahr der Brüche

Das war ein ziemlich schwieriges Jahr. Für mich hat sich der Siebte Oktober 2023 unglaublich stark auf mein Privatleben ausgewirkt, mich in die Isolation getrieben. Ich habe bisher keine vergleichbare Erfahrung gemacht. Der Terrorangriff der Hamas hat in meiner linken Kulturbubble keinen Schock, keine Empörung und wenig Empathie ausgelöst. Ich hatte auch ein paar ganz wundervolle Menschen, meine Freundin, eine Kollegin, meine Schauspielleitung, ein paar wenige Freunde, mit denen ich teilen konnte. Der Großteil verhielt sich abweisend ignorant, mit einem entsetzlich großen „Ja, aber“. Ich würde schon von einem sozialen Bruch aus dieser Zeit sprechen, der sich langsam wieder zusammenfügt. Hoffentlich. Angesichts des weiter fortschreitenden Leids ist die Einordnung des Siebten Oktober schwierig, aber notwendig. Ich habe mich plötzlich wieder sehr stark mit meiner jüdischen und israelischen Identität auseinandersetzen müssen. Ich musste innerhalb von ein paar Wochen Expertin für die großen Themen werden – Nahostkonflikt, britisches Mandat, Nakhba, Imperialismus, Staatsgründung, Kriege, Existenzberechtigung, Rassismus, Antisemitismus – um überhaupt in einen Dialog treten zu können. Und all das während man eigentlich nur heulen möchte und hofft, dass es Verwandten und Freund*innen in Israel gut geht. Die Aufhebung der unrechtmäßigen Zuordnung der verurteilenden Begriffe kostet schon eine Menge Kraft, Resilienz und Ruhe. Dass man in dem Zusammenhang auch die Unterscheidung Westjordanland und Gaza erläutern und erklären muss, dass es überhaupt Juden*Jüdinnen aus dem arabischen Raum in Israel gibt, zeigt die Absurdität des ganzen Diskurses auf.

II. Desinformation und Desinteresse

Ich erinnere mich, es gab diese Falschmeldung über den israelischen Angriff auf ein Krankenhaus in Gaza, die auch unkritisch von öffentlich-rechtlichen Medien verbreitet worden war. Ich weiß, es war nachts, ich sah diese Meldung, es kam sofort zu einer Social-Media-Flut und dachte das war’s jetzt … am nächsten Morgen flog ein Molotow-Cocktail in den Vorgarten einer Synagoge in Berlin. Als der Angriff auf das Krankenhaus nicht der IDF zugeordnet werden konnte, wurde es plötzlich still. Schrecklich. Solche Ereignisse führen dazu, dass man sich sehr schnell mit seinem Jüdischsein auseinandersetzen muss. Wenn die Anfeindungen Israels, die auf eine Falschmeldung folgen, so viel schlimmer sind, als das Ereignis selbst, dann findet man sich sehr schnell in einer Situation wieder, in der man es mit der Angst zu tun bekommt, ohne dass man sich das ausgesucht hätte.

Extrem für mich war auch, ein paar Wochen später, die Vorbereitung einer Veranstaltung zur Pogromnacht am 9. November am Theater, die ich mitorganisiert hatte. Das Desinteresse meines Umfelds gegenüber Juden*Jüdinnen und jüdischem Leben war mehr als fühlbar. Dieses begleitende Gefühl, dass die Veranstaltung nur als störend und nervig wahrgenommen wurde. Das war sehr belastend. Ich muss ganz deutlich sagen, dass ich das Glück hatte, eine starke, informierte Leitung am Theater zu haben, was leider auch keine Selbstverständlichkeit in Kulturinstitutionen ist.

III. Die Wiederentdeckung von Identitäten

Ich habe meinen jüdischen Hintergrund lange gar nicht als so entscheidend gesehen. Auch meinem Umfeld war nicht bewusst, dass ich in einer traditionellen jüdischen Familie, in einer orthodoxen Gemeinde in Hamburg aufgewachsen bin. Ich habe mir keine großen Gedanken um Antisemitismus gemacht, bin kaum damit direkt in Berührung gekommen, vielleicht auch, weil ich leiser jüdisch war. Ich bin jüdisch, arbeite am Theater, bin lesbisch … da sind ein paar Stränge, die Identität stiften. Die Eruption, die allerdings beim Rütteln an jüdischer Identität ausbricht, ist heftig und komplex zu beschreiben. Der Antisemitismus, das Grölen von menschenverachtenden Parolen, Ausgrenzung und Vernichtungsfantasien sind Zustände, die ich von meiner 1920 geborenen Oma kannte und die meine Mutter und meine Tante, mit denen ich aufgewachsen bin, auch in sich tragen. Das sind transgenerationale Traumata, die nun getriggert werden.

Mir ist bewusst geworden, wie wichtig mir meine Religion, meine Kultur, meine Herkunft ist. Ich habe dieses Jahr nach zehn Jahren erstmals wieder Rosh Hashana, das jüdisches Neujahr im vertrauten Kreis und anschließend in der Synagoge von Hamburg gefeiert. Ich habe gerade verstärkt ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, das ist identitätsstiftend. Da ist mir etwas abhandengekommen, was eigentlich einen sehr hohen Stellenwert für mich hat. Nun spiele ich Leopoldstadt von Tom Stoppard am Theater Münster, da kommt ein Seder-Abend vor und ich habe mir die Hagada genommen, bin sie durchgegangen und hätte heulen können – ich konnte mal Hebräisch lesen, ich habe es verlernt. Heute kann ich es noch nicht einmal sprechen. Ich habe etwas abgelegt, das mir eigentlich unheimlich wichtig ist. Und es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, wie relevant das für mich war.

Nadine Quittner © Sandra Then

IV. Aktiv werden

Dieses Jahr war ich zum Siebten Oktober in Berlin und habe Veranstaltungen des Ofek e.V,. einer Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, besucht. Ich habe viele traurige, interessante und informative Beiträge gehört. Was ich erwähnenswert finde, ist, dass diese Wahrnehmung, dass sich Geschichte wiederholt – dass wir Angst haben, dass etwas losgetreten wurde – kein individuelles Empfinden ist, sondern ein kollektiver Zustand für Jüd*innen und Juden. Es ist wichtig, dass wir aktiv werden, in den Austausch, ins Außen gehen. Dass man Leid anerkennt und Räume schafft. Dass wir „und“ denken, eine Ambiguitätstoleranz tragen und aushalten können. Jüdisches Leben muss sichtbar gemacht werden. Denn die Unwissenheit ist unfassbar groß, was Vorurteile, Ablehnung, Misstrauen begünstigt. Auch die Unwissenheit über die Situation im Nahen Osten ist bei der Verwendung stark verurteilender Begriffe wie Rassismus, Imperialismus, Kolonialismus, Apartheid, Genozid, erschreckend. Gerade in der linken Szene. Als würden sich die ganzen Kämpfe der letzten Jahre wie Black Lives Matter#metoo, Jin Jiyan Azadi, Kampf gegen Patriarchat auf einmal als Schablone auf Israel legen lassen. Israel als großer weißer heteronormativer alter Agressormann – das ist schlicht ignorant, falsch und gefährlich. Man kann und soll das militärische Vorgehen Israels und die Regierung kritisieren – wie es genauso ein Großteil der Israelis tut. Ich frage mich nur, warum die Lust daran so unerschöpflich ist. Die Unsichtbarmachung der Frauen in Afghanistan, die Regierung Irans, der Völkermord an den Jesid*innen brachte uns nicht in dieser Heftigkeit auf die Straße oder überschüttete die sozialen Medien. Ich weiß auch nicht, was besser ist, dass die Leute stumpf unwissend „From The River To The Sea…“ brüllen oder wissend. Dass die gewollte Vernichtung Israels von der Hamas klar proklamiert und hier unterstützt oder ignoriert wird, ist desaströs. Gegen diese Unwissenheit, gepaart mit diesem politischen Eifer kommt man fast nicht an. Wie lernen wir, mit Komplexität umzugehen? Wie kann man vermitteln, dass das, was am Siebten Oktober passiert ist, psychologisch und physisch die bestialische Brutalität einer Terrororganisation war, wie kann es sein, dass da von Freiheitskampf gesprochen wird? Es macht mich sprachlos, dass man nicht auf die Straße ging, um gegen die Hamas und die Hisbollah zu demonstrieren, für die Freiheit und den Schutz der Zivilbevölkerung und die Freilassung der Geiseln. Dass auch UN-Gebäude, soziale Einrichtungen, Schulen oder ein Krankenhaus laut Völkerrecht den Schutzstatus verlieren können, wenn diese für militärische, terroristische Zwecke genutzt werden, findet kaum Erwähnung, bis Israel angreift und von Kriegsverbrechen gesprochen wird. Ich bin keine Expertin und möchte mir nicht anmaßen, darüber wirklich urteilen zu können, nur die Haltung, dass die IDF bewusst soziale Einrichtungen angreift, schürt ein schlimmes antisemitisches Narrativ.

V. Die Möglichkeiten des Theaters

Das ganze Leid ist eine Katastrophe. Irgendwie müssen wir bei uns, die gerade nicht in einer direkten Betroffenheit stehen, schauen, dass wir Räume, Miteinander, Empathie, Demokratie und Werte hochhalten. Wie sollen Lehrkräfte damit umgehen, wie gehen wir als Gesellschaft mit dieser Desinformation um? Wie gehen wir mit dieser TikTok-Instagram-Flut um? Was können wir als Kulturschaffende tun?

Was wir brauchen, sind gute neue Stücke, die auch mehr als nur Inhalte vermitteln. Wir müssen auch unsere Mentalität und Kultur zeigen. Jüdischer Humor in Deutschland ist tot. Kein Wunder. Wie hat Robin Williams ungefähr gesagt? „Why are Germans not funny? Because they killed all the funny ones!“ – Mir fehlt wirklich etwas in der Kultur, das nicht zu erklären, sondern nur zu zeigen ist. Und ich möchte das nicht mit einem erhobenen Zeigefinger tun, denn das schafft auch nur eine weitere Kluft. Wir können nicht Herr des Antisemitismus werden, das halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit. Das hat auch nicht funktioniert. Ich habe das Gefühl, da muss ich nur „A…“ sagen und der Raum ist schon leer, bevor ich „…ntisemitismus“ sagen kann. Das ist so ausgenudelt, ausgelatscht und totgetreten. Die Kritik am Antisemitismus ist so schwer zu kommunizieren, auch in Abgrenzung zum Rassismus. Antisemitismus arbeitet mit Verknüpfungen zu Verschwörungstheorien und dem Vorurteil, dass Juden*Jüdinnen machtvoll und wohlhabend sind, ein geheimer Kult. Es ist schwer für diese Diskriminierung Gehör zu finden. Sie als leidvoll sichtbar zu markieren. Und Antisemitismus wird gegen Rassismus ausgespielt – das ist sehr anstrengend. Was wir aber tun können ist, jüdisches Leben neu zu zeigen, neu zu kommunizieren, die Freude daran vermitteln und sie auch teilen. Wir können Empathie wecken, indem wir Geschichten erzählen, vielleicht auch von dieser ganz besonderen Art der Einsamkeit, die wir erleben. Die Leute kennen uns nicht. Sie müssen uns kennenlernen.

NADINE QUITTNER

ist Schauspielerin und steht zur Zeit vor allem in Münster auf der Bühne. Nach dem Siebten Oktober ist ihr bewusst geworden, wie wichtig ihr jüdischer Hintergrund für sie eigentlich ist.