Im Interview mit THURE ALTING fasst STEPHAN GRIGAT den Stand der Forschung zu Flucht und Vertreibung der Juden aus dem arabischen Raum zusammen, die lange Zeit nicht aufgearbeitet wurden. Die ZUKUNFT bringt die gekürzte Fassung des Interviews, das im März 2025 bei Spiegelbild e.V. in einem Band zur antisemitismuskritischen Bildungsarbeit in Wiesbaden erschienen ist.

GERÜCHTE, WIDERSPRÜCHE & DESINFORMATION VON SPIEGELBILD E.V.–
THURE ALTING, FLORIAN WEHRLE UND PAOLA WIDMAIR
Wiesbaden: konkret texte 92 Seiten | Creative Commons
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Thure Alting: Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es im gesamten Nahen und Mittleren Osten große jüdische Gemeinden, die heute weitgehend verschwunden sind. Könnten Sie uns einen Überblick über die Geschichte dieser Gemeinden geben?
Stephan Grigat: Die Frage lässt sich nicht in wenigen Sätzen beantworten, da sie die gesamte Geschichte des Judentums berührt. Es ist wichtig zu betonen, dass die Geschichte des Judentums nicht erst seit dem 19. oder 20. Jahrhundert von Verfolgung, Emigration und Vertreibung geprägt ist, sondern dies seit den Anfängen des Judentums eine Realität darstellt.
Ein frühes Ereignis war die Zerstörung des israelischen Nordreichs durch die Assyrer um 722 v. Chr., die auch mit Deportationen verbunden war. Es folgte das babylonische Exil, das seinen Ausgang mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des ersten Tempels nahm. Nach der Eroberung Babylons durch den persischen König Kyros II. verblieb ein Teil der jüdischen Bevölkerung im heutigen Irak. Andere wanderten nach Persien, Zentralasien oder in den Jemen aus, wo sich bedeutende jüdische Gemeinden bildeten. Ein weiterer Teil kehrte in das Gebiet des heutigen Israels zurück.
Die Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer 70 n. Chr. stellt eine weitere wichtige Zäsur dar. Die darauffolgenden jüdischen Aufstände gegen die Römer führten abermals zu massiven Fluchtbewegungen, die sich diesmal verstärkt in westliche Regionen wie Marokko richteten, wo sich über die Jahrhunderte hinweg eine bedeutende jüdische Gemeinschaft etablierte.
Einen wichtigen Wendepunkt für die außereuropäischen jüdischen Gemeinden bildete die Entstehung des Islams im 7. Jahrhundert. Zu Beginn der islamischen Expansion kam es zu Konfrontationen zwischen Mohammed und den jüdischen Stämmen auf der arabischen Halbinsel. Diese Kriege prägten die spätere Konzeption der sogenannten ‚Dhimmitude‘, die für nicht-muslimische religiöse Gemeinschaften in islamisch geprägten Gesellschaften von zentraler Bedeutung wurde. Der Dhimmi-Status erkannte Juden und Christen als ‚Buchreligionen‘ an, die unter dem islamischen Schutz leben durften, jedoch als systematisch diskriminierte Minderheiten.
Trotz aller Diskriminierung war die Situation der Juden in islamischen Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg oft besser als in den christlich dominierten Regionen Europas. Verfolgungen in Europa führten immer wieder zu Fluchtbewegungen in islamische Länder wie Marokko, Ägypten oder das Osmanische Reich. Ein prägendes Beispiel ist die Vertreibung der Juden aus Spanien im 15. Jahrhundert, die viele von ihnen in die heutige Türkei oder nach Nordafrika führte. Auch im 17. Jahrhundert flohen Juden in islamisch geprägte Regionen, etwa aus Osteuropa vor den Verfolgungen durch die Kosaken. Über die Jahrhunderte entstanden in arabischen Ländern und im Iran jüdische Gemeinschaften, die jedoch stets als systematisch diskriminierte Minderheiten unter muslimischer Herrschaft lebten.
T. A.: Das Christentum definierte sich von Anfang an in Abgrenzung zum Judentum, das als Antithese zur eigenen Religion wahrgenommen wurde. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Islam und Judentum im Vergleich dazu beschreiben?
S. G.: Im christlichen Antijudaismus steht die Anschuldigung im Vordergrund, die Juden hätten Jesus, den Sohn Gottes, ermordet. Diese Legende des Gottesmordes schrieb ihnen eine übernatürliche Macht zu, die tiefgreifende Ängste schürte und sie als heimliche Drahtzieher allen Übels darstellte. Diese Vorstellung prägte die christliche Judenfeindschaft und manifestierte sich in brutalen Verfolgungen und Pogromen.
Im Islam begann der Antagonismus nicht mit einem religiösen Mordvorwurf, sondern mit der militärischen Überlegenheit Mohammeds, der die jüdischen Stämme besiegte. Die damit verbundene Darstellung fokussierte auf die Unterwerfung der Juden und war geprägt von Verachtung, weniger von Angst. Im Gegensatz zur verschwörungsmythischen Angst im Christentum war die islamische Haltung eher von Abwertung geprägt, wie sie etwa in der Parole „Die Juden sind unsere Hunde“ zum Ausdruck kommt.
T. A.: Anfang des 20. Jahrhunderts begann ein Prozess der Entwurzelung der jüdischen Gemeinden in diesen Regionen. Könnten Sie auf die Entwicklungen eingehen, die zu dieser Entwurzelung führten?
S. G.: Der Begriff „Entwurzelung“ wird der Situation nicht gerecht. Es handelte sich weniger um eine freiwillige Abkehr der jüdischen Gemeinden als vielmehr um ein systematisches Herausdrängen. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fand der moderne Antisemitismus Eingang in die islamische Welt und vermischte sich mit den traditionellen Verachtungsbildern. Ein Beispiel dafür ist die absurde Behauptung, Juden würden nichtjüdische Kinder töten, um ihr Blut für religiöse Rituale zu verwenden. Solche Vorstellungen, die ich als „Splatter-Antisemitismus“ bezeichne, waren in der islamischen Welt weitgehend unbekannt. Die Ritualmordlüge wurde im 19. Jahrhundert durch christliche Missionare eingeführt, etwa im Zusammenhang mit der Damaskus-Affäre, die eine Welle von Verfolgungen in Syrien auslöste.
Diese Mythen verbreiteten sich in der islamischen Welt und fanden Eingang in islamische Publikationen. Dieser Prozess kulminierte in der Gründung der Muslimbruderschaft 1928. Die Muslimbruderschaft verband die traditionelle islamische Judenfeindlichkeit mit den verschwörungsmythischen Elementen des modernen europäischen Antisemitismus und führte zu einer drastischen Verschärfung der Judenverfolgung.
So etwa in Ägypten, wo die Muslimbruderschaft jüdische Viertel in Kairo angriff. Die Mechanismen dieser Ideologie ähneln denen der europäischen Faschisten und Nationalsozialisten, die Juden ebenfalls für alles verantwortlich machten, was sie als bedrohlich, zersetzend oder gemeinschaftsfremd wahrnahmen – jedoch in einem anderen religiösen Kontext.
T. A.: Wie verbreitet war die zionistische Idee vor der Gründung Israels im mehrheitlich muslimischen Raum?
S. G.: Die Verbreitung des Zionismus im muslimischen Raum war von Land zu Land unterschiedlich. Wir sprechen hier über eine Vielzahl von Ländern, von Westafrika bis Afghanistan, mit sehr unterschiedlichen Bedingungen. Auch innerhalb der arabischen Länder gab es große Unterschiede im Rechtsstatus der jüdischen Gemeinden. In Algerien, das von Frankreich als Teil des Mutterlandes betrachtet wurde, besaßen Juden ab 1870 die französische Staatsbürgerschaft, was eine völlig andere Situation schuf als etwa im Irak, im Jemen oder in Ägypten, wo jüdische Gemeinden zunehmend Verfolgung und Vertreibung erlebten.
Die Reaktionen der jüdischen Gemeinden auf den Zionismus waren vielfältig. In einigen Ländern, wie dem Irak, stand ein großer Teil der jüdischen Gemeinschaft dem Zionismus zunächst ablehnend gegenüber. In Nordafrika hingegen war der Zuspruch oft größer, wobei die Gründe dafür variierten. Diese Heterogenität der jüdischen Gemeinden im arabischen Raum entspricht der Vielfalt innerhalb der jüdischen Diaspora in Europa. Auch dort gab es unterschiedliche Positionen zum Zionismus, sei es aus politischen oder religiösen Gründen. Insgesamt spricht man bei den Juden in den arabischen Ländern und dem Iran von fast einer Million Menschen – einer großen, komplexen und äußerst heterogenen Gemeinschaft.
T. A.: Das Jahr 1941 war für den Irak von großer Bedeutung. Was geschah in diesem Jahr und welche Folgen hatte es für die jüdische Bevölkerung?
S. G.: In den 1940er-Jahren lebten im Irak etwa 140.000 Juden, ein Großteil – rund 100.000 – in Bagdad. Das lässt sich mit den Bevölkerungszahlen in Städten wie Warschau oder New York in dieser Zeit vergleichen. Im Irak der 1940er-Jahre kam es zu gravierenden politischen Veränderungen. 1941 gab es einen pro-nationalsozialistischen Putsch, durch den Rashid Ali al-Gailani erneut Ministerpräsident wurde. Dieser Putsch verschärfte die Lage für die jüdische Bevölkerung, obwohl sich irakische Juden als integraler Bestandteil der irakischen Nation sahen. Der Putsch wurde zwar von den Briten militärisch niedergeschlagen, doch führte er zu einem massiven Pogrom, dem sogenannten Farhud, in Bagdad. Juden wurden für die Rückkehr der Briten verantwortlich gemacht. Die Opferzahlen des Farhud sind umstritten, von konservativen Schätzungen von etwa 150 Toten bis zu über 1.000.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass auch nichtjüdische Iraker, die sich schützend vor ihre jüdischen Nachbarn stellten, Opfer der antisemitischen Angriffe wurden – ähnlich wie im sogenannten arabischen Aufstand im Mandatsgebiet Palästina, wo gemäßigte Araber als „Judenfreunde“ angegriffen und ermordet wurden.
Nach 1948 intensivierten sich die Repressionen gegen Juden im Irak und anderen arabischen Ländern. Eine paradoxe Situation entstand: Während die anti-jüdische Hetze, auch gesetzlich, verstärkt wurde – unabhängig davon, ob jemand zionistisch oder anti-zionistisch war –, wurde Juden die Auswanderung nach Israel verboten, um den neu gegründeten jüdischen Staat nicht zu stärken. Diese Doppelstrategie führte zu einer äußerst gefährlichen Lage für die noch immer große jüdische Gemeinschaft im Irak.
T. A.: Könnten Sie uns die Ausmaße der Fluchtbewegung nach 1948 näher erläutern, auch über den Irak hinaus?
S. G.: Die Fluchtbewegungen aus der arabischen Welt betrafen zwischen 800.000 und 900.000 Jüdinnen und Juden, wobei die stärksten Fluchtbewegungen nach der Gründung des israelischen Staates im Jahr 1948 einsetzen. Die arabischen Staaten reagierten auf die israelische Staatsgründung mit einem Angriffskrieg, den sie verloren. Diese Niederlage verschärfte die Feindseligkeiten erheblich, vor allem aus religiöser Perspektive: Die politische und territoriale Souveränität eines jüdischen Staates wurde von vielen als Affront gegen die islamische Welt empfunden, in der die Juden weiterhin in ihrem Status als diskriminierte Dhimmis verharren sollten. Die daraus resultierenden Fluchtbewegungen erfolgten in mehreren Wellen. Bereits in den 1940er-Jahren kam es zu ersten Vertreibungen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren, insbesondere nach den arabisch-israelischen Kriegen von 1956 und 1967, weiter zunahmen. Am Ende dieses Prozesses waren rund 99 Prozent der vor 1948 in den arabischen Ländern lebenden Jüdinnen und Juden geflüchtet, vertrieben oder ausgewandert.
Dieser Exodus ging mit erheblichen materiellen Verlusten einher. In einigen Ländern war es Juden erlaubt, einen Teil ihres Besitzes mitzunehmen, während in anderen nahezu ihr gesamtes Vermögen beschlagnahmt wurde. In Ägypten durften jüdische Flüchtlinge lediglich 20 ägyptische Pfund mitnehmen; der Rest wurde konfisziert. Schätzungen zufolge belief sich der wirtschaftliche Schaden insgesamt auf mehrere Milliarden, insbesondere durch den Verlust von Landbesitz, der Schätzungen zur Folge ein Ausmaß erreichte, das fünfmal so groß war wie das heutige Israel.
T. A.: In einem Ihrer Texte erwähnen Sie, dass die deutsche Botschaft in Kairo in einem Gebäude untergebracht ist, das einst einer jüdischen Familie gehörte. Das hat sich mir besonders eingeprägt.
S. G.: Das gleiche gilt für die Botschaften der Schweiz, der Niederlande oder Kanadas. Der israelische Autor Ronen Bergmann hat eine ganze Liste mit Gebäuden erstellt, die im Besitz ägyptisch-jüdischer Familien waren und entschädigungslos beschlagnahmt wurden. Der ägyptische Kontext führt mich zu einem weiteren wichtigen Punkt. Wie ich bereits erwähnt habe, war die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Ägypten kein automatischer Prozess. Vielmehr muss man sie vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen in der arabischen Welt nach 1948 betrachten.
Nach der Niederlage im ersten Krieg gegen Israel wurde die ägyptische Monarchie 1952 gestürzt. Die militärische Niederlage hatte die Monarchie stark diskreditiert. An ihre Stelle trat der Pan-Arabismus, der unter Gamal Abdel Nasser eine aggressive Haltung gegenüber Israel einnahm. Doch es ist wichtig zu betonen, dass die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung nicht sofort geschah und auch innerhalb des Pan-Arabismus umstritten war.
Zunächst war nach dem Sturz der Monarchie General Mohammed Naguib Präsident, der sich bemüht zeigte, die jüdische Bevölkerung Ägyptens zu schützen. Er besuchte an Jom Kippur die große Synagoge in Kairo und signalisierte, dass die jüdischen Ägypter Teil der nationalen Gemeinschaft seien, auch wenn er den jüdischen Staat bekämpfte. Diese Haltung war typisch für die moderate Politik von Naguib, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte. Mit Nassers Aufstieg zur dominierenden Figur im Pan-Arabismus verschärften sich die antisemitischen Tendenzen.
Ein Kontrast dazu war der tunesische Präsident Habib Bourguiba, der eine gemäßigtere Haltung gegenüber Israel einnahm. Obwohl auch er in seiner Rhetorik antisemitische Elemente verwendete, setzte er auf Ausgleich und Kompromiss. Dies zeigt, dass die politischen Entwicklungen in der arabischen Welt keineswegs homogen waren. In Tunesien und Marokko gibt es bis heute kleine jüdische Gemeinden, während in Ländern wie Libyen, Algerien oder Ägypten die jüdische Bevölkerung nahezu vollständig verschwunden ist.
T. A.: Wie bewerten Sie es, dass diese Geschichte, wenn sie überhaupt thematisiert wird, häufig im Vergleich zur Geschichte von Flucht und Vertreibung der Palästinenser betrachtet wird?
S. G.: Dieser Vergleich wirft einige Probleme auf, da die beiden Situationen substanzielle Unterschiede aufweisen. Erstens: Die Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern war nahezu vollständig. Im Gegensatz dazu blieben viele palästinensische Araber in Israel, wo sie heute etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Zweitens: Während die palästinensische Flüchtlingsbewegung maßgeblich aus einem arabischen Angriffskrieg gegen Israel resultierte, hatte die Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern keinen Zusammenhang mit einem solchen Krieg. Drittens: Die Geschichte der palästinensischen Flüchtlinge ist bis heute ein zentraler Bestandteil politischer Diskurse, während die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern weitgehend unbeachtet bleibt.
T. A.: Wie gestaltete sich die Situation der geflüchteten Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern in Israel?
S. G.: Rund 650.000 der etwa 800.000 Juden, die zwischen den 1940er- und 1960er-Jahren aus arabischen Ländern vertrieben wurden oder ausgewandert sind, fanden in Israel eine neue Heimat. Israel, damals ein junges und wirtschaftlich schwaches Land unter ständiger militärischer Bedrohung, stand vor der enormen Herausforderung, diese Flüchtlinge zu integrieren. Die Bedingungen für die Neuankömmlinge waren schwierig und von Spannungen zwischen den Aschkenasim, den aus Europa stammenden Juden, und den Mizrachim, den Juden aus arabischen und anderen Ländern, geprägt. Während die Aschkenasim die politische und gesellschaftliche Elite stellten, sahen sich die Mizrachim in vielen Bereichen benachteiligt. Diese Ungleichheit fand auch ihren Ausdruck in der Politik: Die ersten Jahrzehnte wurden von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien dominiert, welche die Belange der Mizrachim weitgehend ignorierten.
Der Wahlsieg des Likud unter Menachem Begin im Jahr 1977 war eine wichtige Zäsur. Begin, selbst ein Vertreter der aschkenasischen Elite, verstand es, sich als Stimme der Mizrachim zu präsentieren. Viele Mizrachim werfen den europäisch-stämmigen Juden Naivität im Umgang mit Arabern und dem Islam vor. Sie argumentieren: „Wir kennen diese Menschen, wir wurden von ihnen vertrieben. Sie behandeln uns nur gut, solange wir uns unterwerfen. Andernfalls verfolgen sie uns erneut. Man darf ihnen nicht trauen.“ Dieses tief verwurzelte Misstrauen prägt die sicherheitspolitischen Positionen vieler Mizrachim und erklärt ihre enge Verbundenheit mit der politischen Rechten in Israel, die eine härtere Linie in Sicherheitsfragen verfolgt.
Trotz der Diskriminierung und gesellschaftlichen Spannungen ist die Integration der Mizrachim in Israel aber weitgehend gelungen. Die einstigen Flüchtlingslager gehören der Vergangenheit an, und Nachkommen der Vertriebenen, Geflohenen oder Ausgewanderten haben heute führende Positionen in Politik und Gesellschaft inne. Dieser Erfolg kontrastiert stark mit der Situation der palästinensischen Flüchtlinge bzw. ihrer Nachkommen, die seit 1948 in vielen arabischen Ländern oft bis heute in Lagern leben und systematisch diskriminiert werden.
T. A.: Nathan Weinstock spricht von einem „ohrenbetäubenden Schweigen“ zu diesem Thema. Wie erklären Sie sich das?
S. G.: Ein zentraler Faktor ist der Umgang Israels. Lange wurden Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran kaum thematisiert. Erst in den letzten Jahren hat sich dies geändert, etwa durch die Einführung eines offiziellen Gedenktages in Israel im Jahr 2009. Ein weiterer Grund liegt in der Integration der Flüchtlinge. Während die palästinensischen Flüchtlinge in arabischen Ländern absichtlich nicht integriert wurden, um sie als politisches Druckmittel gegen Israel zu nutzen, verfolgte Israel eine andere Strategie und setzte auf eine rasche Integration. Ein drittes Problem ist die Rolle der Vereinten Nationen. Jahrzehntelang verfolgten sie, insbesondere in der Generalversammlung, eine anti-israelische Haltung, die sich auch im Umgang mit den Flüchtlingsgruppen widerspiegelt. Zahlreiche UN-Resolutionen befassen sich mit den palästinensischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen, während Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran fast unbeachtet blieben.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Wahrnehmung des Konflikts durch die Brille des Antisemitismus. Es gibt eine ausgeprägte Tendenz, Israel als den alleinigen Übeltäter darzustellen und alle anderen in der Region nicht als handelnde Subjekte, sondern als Opfer zu betrachten. Diese Perspektive offenbart nicht nur eine antisemitische, sondern auch eine rassistische Schlagseite. Ein differenzierterer Blick würde viele der vorherrschenden Mythen aufbrechen und eine kritische Selbstreflexion anregen. Diese Haltung korrespondiert mit einer weit verbreiteten Wahrnehmung des Konflikts, in welcher der arabische und islamische Antisemitismus, auch vor der Gründung Israels, systematisch unterbelichtet bleibt. Infolgedessen bleiben Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran weitgehend unbeachtet, da sie die gängigen Erzählungen fundamental herausfordern würde.
T. A.: Gibt es noch einen Aspekt, den wir bisher nicht angesprochen haben, den Sie jedoch für wichtig halten?
S. G.: Es gibt durchaus einen positiven Ausblick zu diesem Thema. Wie bereits betont, gibt es keinen Automatismus – es ist falsch, einen grundsätzlichen Antagonismus zwischen Arabern und Israelis zu behaupten. Es geht vielmehr um politische Auseinandersetzungen und die Kräfteverhältnisse in den jeweiligen Gesellschaften und Religionen. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine bemerkenswerte Entwicklung beobachten, die der bisherigen Geschichte entgegenwirkt: die Abraham-Abkommen, die diesen Namen nicht zufällig tragen.
Bereits der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel von 1979, der lange der einzige seiner Art blieb, war bemerkenswert, und er kam ohne eine ernsthafte Aufarbeitung der Vertreibung der ägyptischen Juden zustande. Danach vergingen viele Jahre, bis 1994 auch Jordanien Frieden mit Israel schloss. Erst 2000 traten drei weitere arabische Länder in den Friedensprozess ein: die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Marokko. Besonders die Vereinbarungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten gehen weit über den ägyptischen und jordanischen Friedensvertrag hinaus, da sie auf eine grundlegende Veränderung des Bildes von Juden und Israel in arabischen Gesellschaften abzielen.
Die Abraham-Abkommen spiegeln eine innerislamische Debatte wider. Im Gegensatz zu den antisemitischen Strömungen wie der Muslimbruderschaft, gibt es heute Stimmen, die betonen, dass Juden nicht „Nachkommen von Affen und Schweinen“ sind, sondern „unsere Brüder, weil wir alle von Abraham abstammen“. Diese Haltung ist zwar auch taktisch motiviert, stellt jedoch einen positiven Wandel dar, der tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen anstoßen könnte.
In Marokko und den Vereinigten Arabischen Emiraten wird derzeit diskutiert, Holocaustunterricht in Schul- und Universitätscurricula zu integrieren. Es gibt wirtschaftliche und auch militärische Kooperationen, kulturellen Austausch und einen Tourismusboom. Interreligiöse Dialogzentren entstehen, die auch zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel führen könnten.
Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf Saudi-Arabien. Trotz der jüngsten Ereignisse seit dem 7. Oktober könnte es in naher Zukunft weitere Länder geben, die den Abraham-Abkommen beitreten. Ein solcher Schritt wäre ein echter „Game Changer“ für die Region. Auch wenn Kritik an der innen- und geopolitischen Ausrichtung der arabischen Abraham Accords-Staaten weiterhin notwendig ist, stellt diese Wende eine äußerst positive Entwicklung dar und verdient mehr Unterstützung von der europäischen Außenpolitik.

DIE EINSAMKEIT ISRAELS: ZIONISMUS, DIE ISRAELISCHE LINKE UND DIE IRANISCHE BEDROHUNG VON STEPHAN GRIGAT
Hamburg: konkret texte
184 Seiten | € 19,00
ISBN: 978-3930786732
Erscheinungstermin: Oktober 2014
THURE ALTING
ist Bildungsreferent bei Spiegelbild in Wiesbaden.
STEPHAN GRIGAT
ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und Leiter des Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) in Aachen. 2025 erscheint seine Textsammlung „Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel: Interventionen zur Kritik des Antisemitismus“ im Verlag Barbara Budrich.