Der Fall Brosius-Gersdorf: ein Sieg der Rechten? Wie die Besetzung des deutschen Verfassungsgerichts die Demokratie auf die Probe stellt VON INGRID NOWOTNY

Der Fall Brosius-Gersdorf: ein Sieg der Rechten? Wie die Besetzung des deutschen Verfassungsgerichts die Demokratie auf die Probe stellt VON INGRID NOWOTNY

Der Beitrag von INGRID NOWOTNY rekapituliert den Fall von Frauke Brosius-Gersdorf, die von der Koalition zwischen CDU/CSU und SPD in Deutschland als Verfassungsrichterin nominiert worden war, dann aber ihre Kandidatur zurückzog.

I. Einleitung

Wochen hindurch durchzog im Frühsommer 2025 ein Thema die Medien – nicht nur die deutschen: Frauke Brosius-Gersdorf, die von der CDU/CSU–SPD Koalition als Verfassungsrichterin nominiert worden war, zog ihre Kandidatur zurück. Wörtlich aus ihrem Statement:

„Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung. Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU-Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab. Zudem droht ein Aufschnüren des ,Gesamtpakets‘ für die Richterwahl, was die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgerichts gefährdet, die ich schützen möchte. Auch muss verhindert werden, dass sich der Koalitionsstreit wegen der Richterwahl zuspitzt und eine Entwicklung in Gang gesetzt wird deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind. Die SPD-Fraktion hat bis zuletzt an mir festgehalten. Sie stand uneingeschränkt hinter mir. Für sie ist es eine Prinzipienfrage, dem Druck unsachlicher und diffamierender Kampagnen nicht nachzugeben. …“.

Frauke Brosius-Gersdorf hat mit diesem Schritt Größe bewiesen – die Krise der rot-schwarzen Koalition in Deutschland ist dennoch nicht überwunden. Das Vertrauen ist beschädigt.

II. Wie kam es dazu?

Der Anlass für die Krise ist staatspolitisch von erheblicher Bedeutung – und erschreckend genug: Die Führungen der SPD und CDU/CSU hatten sich auf die Nominierung von drei Kandidat*innen zur Besetzung des Bundesverfassungsgerichts durch den Bundestag geeinigt; die Union hat jedoch quasi im letzten Moment durchgesetzt, die Wahl hinsichtlich der Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf im Bundestag zu verschieben. Die Union ist offensichtlich abgesprungen, weil ein Teil ihrer Abgeordneten eine Ablehnung aus „Gründen des Gewissens“ ankündigte.

Das politisch Bedenkliche an dieser Koalitionskrise ist die Tatsache, dass sich die AfD damit über beträchtlichen Aufwind freuen kann. Erschreckend ist zudem die Art und Weise, wie die öffentliche Kritik vielfach an der Qualifikation oder am Charakter der Kandidatin verlief: Über Frauke Brosius-Gersdorf ergoss sich eine unglaubliche Kampagne der Gehässigkeit, der Verleumdung, der Diffamierung und schlicht unwahrer Behauptungen.

Die Medien hatten diese Unterstellungen wohl wegen des Sensationswertes dankbar aufgenommen: „links“ , „ultralinks“, „verfassungsfeindlich“ „Unfähigkeit, die Menschenrechte zu schützen“ und Ärgeres machten die Runde, sogar ein Plagiatsvorwurf ohne nachvollziehbare Beweisführung wurde eilends aus dem Hut gezogen. Skurrile Züge bekam die Diskussion durch die Wortmeldung von Gloria von Thurn und Taxis, die mit der ihr eigenen Theatralik den Schutz der Familie beschwor.

Frauke Brosius-Gersdorf hatte zunächst nicht geschwiegen – Schockstarre oder auch das Kalkül einer deeskalierenden zeitlichen Distanz wären auf vollstes Verständnis gestoßen. Aber nein, und hier zeigt sich, dass wir es mit einem festen Charakter und einer großen mutigen Persönlichkeit zu tun haben: Sie hat sich gewehrt, und das mit einer stringenten sachlichen Argumentation, ohne auf die Untergriffe einzugehen. Schon gar nicht hat sie sich auf das Niveau der Angriffe begeben. Sie hat weder mit Aggression noch mit Gegenuntergriffen geantwortet, sondern ruhig, überzeugend, verständlich und nachvollziehbar gesprochen – angesichts der gewaltbereiten Drohungen gegen ihre Person und ihre Familie nur bewundernswert.

Die Kampangne kam meist von rechtslastigen, aber umso lauteren sozialen Netzwerken und Kanälen (das passt hier sehr gut, denn was ist im Kanal? Schmutz und Unrat!). Besonders hervorgetan haben sich das rechte On-Line-Portal NIUS, insbesondere durch die Hasstiraden ihres Chefs Julian Reichelt, ebenso Apollo NewsTichys Einblick und das Compact Magazin. In Österreich war AUF1 besonders aktiv. Allen gemeinsam war die unerträglich aggressive inferiore Sprache. Die fremdenfeindliche AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch beschwor lamentierend einen Angriff auf Familie und Menschenwürde durch Brosius-Gersdorfs Position zum Schwangerschaftsabbruch. Jan Philipp Burgard von der Weltwoche Zürich warf Brosius-Gersdorf ungerechtfertigte Angriffe auf die freie Presse vor und war sich nicht zu gut, Brosius-Gersdorf als dünnhäutig und ihre Opferrolle zelebrierend darzustellen.

Es bleibt der Verdacht, dass diese Entwcklung auf eine von langer Hand gezielt vorbereitete Kampagne rechtslastiger internationaler Plattformen, wie etwa die spanische Citizen Go, zurückgeht. Rechtskonservative Entscheidungsträger wurden dem Vernehmen nach mit E-Mails und Postings geradezu bombardiert. Die Kampagne hat die Dimension eines Kulturkampfes erreicht, dessen Dynamik und Tragweite noch nicht zu efassen ist.

Vor diesem Hintergrund ist der Satz des SPD-Bundestagsabgeordneten Ralf Stegner zu Frauke Brosius-Gersdorfs Rückzug nur allzu verständlich: „Der Tag wird in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem der rechte Mob erstmals einen Triumph gefeiert hat.“

III. Ausgangslage

Begonnen hat alles mit einem kleinen Satz im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für 2025–2029 vom 14. April 2025: Die Parteien haben die Absicht, die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung für Schwangerschaftsabbrüche zu erweitern. Was harmlos klingt, hat nun diese Koalitionskrise im Zusammenhang mit Frauke Brosius-Gersdorf in unerwarteter Heftigkeit losgetreten: Der Schwangerschaftsabbruch sei vom ersten Tag der Schwangerschaft an im Prinzip Unrecht – die Straflosigkeit innerhalb einer bestimmten Frist ändere daran nichts; eine Kostenübernahme durch die für unrechte, wenngleich straflose Tötung sei den gesetzlichen Krankenversicherungen als Solidargemeinschaft zum Schutz der Gesundheit und des Lebens nicht zumutbar.

Frauke Brosius-Gersdorf hatte dieses Problem schon im Vorfeld erkannt und eine Lösung vorgeschlagen: Rechtstechnisch könnte dieses Problem dadurch beseitigt werden, dass man eben den Schwangerschaftsabbruch prinzipiell aus der Unrechtmäßigkeit löst und den Abbruch nur mehr nach dem dritten Monat mit Strafbarkeit belegt. Im praktischen Ergebnis bedeutet dies für die Frauen keine Änderung der gegenwärtigen Situation aufgrund der Fristenlösung, lediglich das ohnehin inhaltsleere Argument der prinzipiellen Unrechtmäßigkeit in den ersten drei Monaten wäre beseitigt. So stünde auch der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen nichts mehr im Wege – zumindest nicht die Unrechtmäßigkeit.

Der Sturm der Entrüstung fokussierte sich auf die Position Frauke Brosius-Gersdorfs in dieser Sache. Die Menschenwürde – so Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland – sei unantastbar, auch die des Ungeborenen. Eine Forderung nach prinzipieller Legalisierung bedeute nichts anderes, als dass der Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt als rechtmäßig gelte und somit dem Ungeborenen die Menschenwürde aberkannt werde – ein eklatanter Verstoß gegen die Pflicht des Staates diese zu achten und zu schützen.

In der darauffolgenden heftigen Diskussion ging es um die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Menschenwürde beginne – mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, mit der Nidation, mit der Lebensfähigkeit außerhalb des Uterus und mehr. Es liegt auf der Hand, dass die Argumentation stark von der jeweiligen politischen, ideologischen und religiösen Grundhaltung getragen ist und mangels Objektivierbarkeit zu keinem Ergebnis führt.

Der Vorwurf, Frauke Brosius-Gersdorf sei die Achtung der Menschenwürde egal, ist absurd: Sie hat sich nie für eine Sanktionslosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur Geburt ausgesprochen; sie hat immer die Dreimonatsgrenze verteidigt. Sie hat lediglich darauf hingewiesen, dass auch die Menschenrechte und damit der Schutz der Menschenwürde in einem Spannungsfeld stehen, und zwar durch die Grenzen, die das Menschenrecht und die Menschenwürde anderer berühren. Abwägungen seinen notwendig und einer „gerechten“ Anwendung der Menschenrechte immanent. So sei etwa individuelle Freiheit nicht grenzenlos, sondern gegen die des anderen abzuwägen. Es sei legitim, im Prinzip das Recht auf Selbstbestimmung der Mutter und die Rechte des Fötus einander gegenüberzustellen und zu gewichten. Die Diskussion über das Wie und Wann wird nie zu einem befriedigenden Ziel führen – die Festsetzung einer konkreten Frist sei das einzig objektiv Konkretisierbare und auch praktisch Machbare. Damit ist weder gesagt, dass der Fötus keine Menschenwürde habe und schon gar nicht, dass sie erst mit der Geburt beginne.

IV. Zur Person Frauke Brosius-Gersdorf

Frauke Brosius-Gersdorf hat eine beachtliche wissenschaftliche Karriere vorzuweisen. Sie ist promovierte Juristin der Universität Potsdam, arbeitete als Rechtsanwältin in Bonn und Berlin und hat nach Jahren der wissenschaftlichen Arbeit dort einen Lehrstuhl für öffentliches Recht mit Schwerpunt Verfassungs- und Sozialrecht inne. Ab 2015 wurde sie für neun Jahre zum stellvertretenden Mitglied des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen gewählt und war Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.

Sie arbeitete auch als stellvertretende Koordinatorin der Kommission der Bundesregierung zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin. Sie fungiert auch als Herausgeberin des Grundgesetz-Kommentars – eine der höchsten und ehrenvollsten Aufgaben auf dem Gebiet des Verfassungsrechts. 

Frauke Brosius-Gersdorfs wissenschaftliche Qualifikation ist angesichts ihrer Pulbikationen und ihres akademischen Renommees außer Zweifel. Dass die Angriffe sich nicht auf die fachliche Qualifikation beziehen und hier nur schwer auch nur das leiseste Manko zu finden wäre, bestätigt nur die Unsachlichkeit und noch mehr die dahinter stehende politische Zielsetzung, und zwar die der Effekthascherei von der konservativen und rechten Seite.

V. Die Bestellung der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts

Die Bestellung der 16 Mitglieder des deutschen Bundesverfassungsgerichts erfolgt in Deutschland abwechselnd durch den Bundestag und den Bundesrat auf Vorschlag der Fraktionen. Alle Fraktionen können Vorschläge einbringen, Der Wahlausschuss des Bundestages beschließt mit Zweidrittel-Mehrheit eine Auswahl und legt sie dem Bundestag zur Abstimmung vor. Interessant ist die Bestellung der zwölf Mitglieder des Wahlausschusses: Sie spiegelt die fraktionellen Wahlergebnisse im Bundestag wider. Die Union stellt fünf Mitglieder, die AfD drei, die SPD zwei, Grüne und Linke jeweils einen – also per se ein Vorgang der demokratischen Legitimation.

Im Wahlausschuss wurde die Zweidrittel-Mehrheit von Union, SPD und Grünen erreicht, im Plenum des Bundestages ist sie jedoch ohne Zustimmung aller Abgeordneten der Union unwahrscheinlich. Hier erhebt sich dann auch die Frage, ob die AfD oder Die Linke als Mehrheitsbringer überhaupt noch möglich wären. Die Union und SPD lehnen im Sinne ihrer Grundsatzbeschlüsse ein gemeinsames Vorgehen mit der AfD ab, die Union auch mit der Linken. AfD und Linke sind somit ausgeschlossen.

Soweit kurz gefasst die Regeln für die Bestellung von Verfassungsrichter*innen – abstrakt, denn wie oft bei politischen Vorgängen, liegt die Entscheidung im Vorfeld und im informellen Austausch. Erst dadurch wird es möglich, komplexe oft diametral auseinanderliegende Interessenlagen auf den notwendigen gemeinsamen Nenner zu bringen. Transparenz und Mitsprache einzufordern ist legitim, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Politik auf Kompromissen beruht, auf Nachgeben und Entgegenkommen im Sinne einer gemeinsamen Lösung. Tragfähigkeit setzt Akzeptanz voraus, auch wenn sich das Ergebnis nicht voll mit der eigenen Meinung deckt.

Im konkreten Fall schlug der Wahlausschuss dem Bundestag den turnusmäßig den von Union nominierten Kandidaten Günter Spinner, bisher Richter am Bundesarbeitsgericht, und die ebenso turnusmäßig von der SPD nominierten Kandidatinnen, die Rechtsprofessorinnen Ann-Kathrin Kaufhold und Frauke Brosius-Gersdorf, vor. Soweit die gewohnte und bisher einvernehmlich gehandhabte Vorgangsweise: Der Bundestag stimmt der zuvor im Wahlausschuss getroffenen Entscheidung, wenn man so will, dem hier gefundenen Kompromiss zu.

Es kam jedoch anders: Einige Unionsabgeordnete lehnen die von der SPD nominierte Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf wegen ihrer „marxistisch linken“ Positionen, insbesondere wegen ihrer Haltung zum Schwangerschaftsabbruch, ab. Die im Wahlausschuss gefundene Lösung – der dort ausgehandelte notwendige Kompromiss – ist damit hinfällig, weil die Zweidrittel-Mehrheit im Plenum nicht mehr erreicht wird. Die Zustimmung der Grünen reicht nicht aus – daher AfD? Einige Abgeordnete der Union riskieren ein solches Ergebnis, weil sie nicht der ebenfalls von einem demokratisch legitimierten, zudem von der Union dominierten Gremium, dem Wahlausschuss, beschlossenen Lösung zustimmen, sondern „dem Gewissen“ folgen wollen. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Der Sieg des „Gewissens“ wird mit der Ablehnung der SPD-Kandidatin gemeinsam mit den Stimmen der AfD erkauft – die Union als Steigbügelhalterin zur Machterweiterung der Rechten!

VI. Wie kann es weiter gehen?

Die umstrittene Kandidatin hat zurückgezogen; die Frage der Bestellung eines oder vielleicht aller drei Mitglieder des Verfassungsgerichtes ist wohl noch eine Zeit lang offen. Der Wahlvorgang wurde zunächst auf den Herbst nach der Sommerpause verschoben. Sollte auch dann keine Mehrheit zustande kommen, hat der Bundestag sein Besetzungsrecht verwirkt, es geht auf den Bundesrat über. Der Bundestag will dies jedoch vermeiden.

Was bleibt, ist die ernste Gefährdung der Koalition: Wie kann eine Regierung mit einem so unsicheren und offenbar in sich gespaltenen Partner geführt werden? Wenn ausgehandelte Kompromisse nicht eingehalten werden? Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag Britta Haßelmann spricht zu Recht von einer schweren Führungskrise der Union und von einer Fahrlässigkeit angesichts der Bedrohung von Rechts. Es ist auffallend, dass sie nicht allein auf die infamen Anwürfe gegen Frauke Brosius-Gersdorf eingeht, sondern pragmatisch die Krise der Koalition beschwört – zu Recht, denn der Gewinner und lachender Dritter aus dem Konflikt zwischen Union und SPD ist die AfD.

Zu Recht wirft Britta Haßelmann der parlamentarischen Führung der Union vor, sie habe die Wahl dilettantisch vorbereitet und die Abgeordneten nicht ausreichend informiert und eingebunden. Sie wüsste wovon sie spreche, denn die ausgeprägten Persönlichkeiten ihrer Fraktion würden sie öfter mit solchen Situationen konfrontieren. In-die-Pflicht-Nehmen und die Parteidisziplin zu bemühen genüge nicht, Überzeugungsarbeit muss geleistet werden. Eine verantwortungsvolle Politik fordere nun einmal Führungsstärke!

VII. Die Positionen von Frauke Brosius-Gersdorf

Die vordergründig persönlichen Angriffe auf Frauke Brosius-Gersdorf aus dem Bereich der bloß der politischen Agitation verlangen einen Blick auf ihre tatsächlichen Positionen:

  • Verbot der AfD

Ihr wird vorgeworfen, im Fall ihrer Bestellung an das Verfassungsgericht, ein Verbot der AfD zu betreiben. Diesen Schluss zieht die AfD aus ihrer Äußerung, ein Parteiverbot sei auszusprechen, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Es handelt sich hier um eine eklatante Unterstellung, denn aus der juristisch wertneutralen und abstrakten Darstellung eines „Wenn-Dann“ ist noch lange keine reale Begründung eines Verbots abzuleiten, auch nicht im Zusammenhang mit ihrer Aussage, die Demokratie habe wehrhaft zu bleiben.

  • Steuerliches Ehegattensplitting

Frauke Brosius-Gersdorf vertritt die Meinung, das deutsche steuerliche Ehegattensplitting verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz – Ehegatten seien steuerlich gleich zu behandeln und die Steuerlast nicht voneinander abhängig zu machen. Auch das wird ihr zum Vorwurf gemacht, denn die Individualbesteuerung von Ehegatten verstoße gegen die Familieneinheit und -solidarität. Man kann sich darüber nur wundern, denn es ist den deutschen Konservativen und Rechten offenbar noch nicht aufgefallen, dass die in Österreich geltende Individualbesteuerung die Familieneinheit bisher keineswegs gestört hat.

  • Frauenquoten, häuslicher Unterricht, Impfpflicht

Selbst ihre Befürwortung der prinzipiellen verfassungsmäßigen Zulässigkeit von Frauenquoten, des häuslichen Unterrichts oder einer Impfpflicht bei generellen Gefährdungslagen wird ihr als links-linke Position ausgelegt. In Österreich gehört dies im Übrigen zum geltenden Rechtsbestand und ist hier keiner Diskussion mehr wert.

VIII. Doktorvater Horst Dreier

Eine besondere Note mit Bezug zu Österreich bekommt der Vorwurf, Frauke Brosius-Gersdorfs Doktorvater sei bezeichnenderweise der Würzburger Verfassungsrechtsprofessor Horst Dreier: In Deutschland als Links-Linker punziert, in Österreich 2002 mit der Verleihung des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst geehrt.

Er hat zum einen hervorragende Werke über den maßgeblichen Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung Hans Kelsen geschrieben und zum anderen wichtige progressive Akzente auch in der deutschen Staatsrechtslehre gesetzt. Er ist an den wissenschaftlichen Arbeiten des österreichischen Hans-Kelsen-Instituts – wahrlich kein Hort linken Gedankenguts – beteiligt und genießt in der österreichischen Staatsrechtslehre einen hervorragenden Ruf.

Seine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Rechtskonflikte“ im Bereich der Menschenrechte ist wesentlicher Bestandteil der deutschen Rechtslehre: Selbstverständlich stand und steht er zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, gibt jedoch zu bedenken, dass es Fälle geben kann, wo die Menschenwürde des einen Leben und Unversehrtheit, also die Menschenwürde, eines anderen gefährden kann. Das Leben Unschuldiger in höchster Gefahr erlaubt eine Abwägung. So hat er ganz konkret seinerzeit die Folter eines Entführers zur Rettung eines entführten Kindes nicht kategorisch abgelehnt, sondern Folterverbot und Rettung eines Menschenlebens einander gegenübergestellt. Diese Haltung hat ihn um die Jahrtausendwende die Bestellung zum Verfassungsrichter gekostet – eine Parallelität zum jetzigen Fall.

In Deutschland stockt die Debatte im Grundsätzlichen: Die Menschenwürde ist unantastbar, geschehe was da wolle, keine Wertung, keine Abwägung, Prinzipientreue. Und dennoch: Die undifferenzierte Verteidigung der Menschenwürde ist hier als Rechtfertigung eines politisch-ideologischen Interesses leicht durchschaubar. Es geht nicht um den Schutz des Lebens, denn wo ist etwa die Forderung nach Hilfe und Unterstützung für die Schwangeren und der geborenen Kinder – keine Rede davon in der Debatte! 

IX. Österreichische Aspekte

Die komplette Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ist ein berechtigtes Anliegen: Der Charakter des Unrechts soll beseitigt werden, der Abbruch menschenwürdig, ohne moralischen Druck und ohne materielle Hindernisse möglich sein – Abtreibung soll aus dem Strafgesetz gestrichen werden, so die logische Konsequenz.

Allerdings sollte dabei berücksichtigt werden: Die verfassungsrechtliche Situation ist in Österreich eine andere als in Deutschland. Unsere Verfassung trägt die Züge des Rechtspositivismus: Kein Berufen auf die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ wie in der Präambel des deutschen Grundgesetzes, keine schwer interpretierbaren oder ideologisch besetzten unbestimmten Rechtsbegriffe. Wir haben nicht die Formulierung „Die Menschenwürde ist unantastbar“, die Tür und Tor für begriffliche Diskussionen nach allen Seiten öffnet. Der Schutz des Lebens fußt auf Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die im Verfassungsrang steht: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. …“ Im Ergebnis ist diese Formulierung mindestens ebenso effizient wie die Formulierung des Deutschen Grundgesetzes, verführt aber nicht so leicht zu oft ergebnislosen Diskussionen wie der deutsche unbestimmte Rechtsbegriff „Menschenwürde“. Insofern ist auch die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs als Unrecht für das Strafrecht weniger relevant als in Deutschland: Die ersten drei Monate bleiben straffrei, eine Diskussion als Recht oder Unrecht erübrigt sich. Die Gesundheitskassen können sich nicht mit dem Argument der Unrechtmäßigkeit weigern, die Kosten des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten zu tragen. Die Kostentragung und die Durchführung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kann somit anders geregelt werden.

Viel schwerer wiegt jedoch ein anderes Argument: Die Forderung nach Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs hat – wie oben beschrieben – in Deutschland zu einer Koalitionskrise geführt. So berechtigt, verständlich und frauenpolitisch für die Bewusstseinsbildung wichtig (Abtreibung ist kein Unrecht!) diese Forderung ist, so müssten auch die Auswirkungen auf die gesamte politische Situation bedacht werden. Die Diskussion ist vorprogrammiert und könnte in unkontrollierbare Richtungen gehen. Die Fristenlösung hat sich bewährt, die angedachte Entkriminalisierung ändert im Ergebnis nicht viel.

X. Conclusio: Was ist daraus zu lernen?

Die SPÖ-Frauen und die Grünen haben ihre Forderung schon formuliert: „#ausprinzip“ – §96 raus aus dem Strafgesetzbuch“. Will man wirklich „aus Prinzip“ ein Thema aufgreifen, das geeignet ist, als Sprengsatz in der bestehenden Koalition zu wirken und das zu einem von der Rechten so gewünschten „Kulturkrieg“ führen kann? All dies wäre umso problematischer, da sich aus der „prinzipiellen“ Forderung an der konkreten Lage der Frauen nichts ändern würde, zumal die Verbesserung ihrer Lebenswirklichkeit primäres Ziel der Politik sein sollte. 

Angesichts der besonderen Sensibilität des Themas, muss besondere Klugheit und politische Weitsicht, vor allem aber pragmatischer Realitätssinn gewahrt werden: Will man wirklich „aus Prinzip“ mit mäßig spürbarem Erfolg für die Betroffenen den Rechten eine Angriffsfläche bieten?

INGRID NOWOTNY 

ist Juristin und war nach ihrer Zeit als Universitätsassistentin an der Universität Linz in Wien im Arbeits- und Sozialministerium im Bereich Arbeitsmarktpolitik in leitender Funktion für Legistik, Arbeitslosenversicherung und Ausländerbeschäftigung tätig. Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende der SPÖ-Bildungsorganisation des Bezirks Wien-Hietzing.